Das Bundesgericht hat im März einen Leitentscheid zur Frage der Speicherung von Gesprächs- und E-Mail-Verbindungen gefällt. Die fünf Bundesrichter Thomas Merkli (Grüne), Peter Karlen (SVP), Jean Fonjallaz (SP), François Chaix (FDP) und Lorenz Kneubühler (SP) erachten die Einschränkung der Grundrechte der Betroffenen durch die Datenspeicherung und Aufbewahrung als verhältnismässig. Der Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen sei als «nicht schwer» zu beurteilen: Die Speicherung aller Daten der gesamten Bevölkerung während 6 Monaten diene der Aufklärung von Straftaten und der Unterstützung der Behörden bei der Suche und Rettung vermisster Personen. Somit liege ein gewichtiges öffentliches Interesse vor (siehe Seite 75). Der Gesetzgeber habe sich für das System einer umfassenden und anlasslosen Speicherung und Aufbewahrung der Randdaten ausgesprochen und diesen Entscheid auch im Rahmen der Totalrevision des Bundesgesetzes betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Büpf) bestätigt.
Datenschutzexperten reagieren mit Kopfschütteln auf das Urteil. Für den Zürcher Rechtsanwalt Martin Steiger ist das Urteil symptomatisch dafür, dass die Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit kenne und deshalb nur «in Anführungszeichen ein Rechtsstaat» sei. «Der politische Zweck heiligt die Mittel», sagt Steiger. Er ist Sprecher des Vereins Digitale Gesellschaft, der zu den Klägern gehört. Dabei habe das Bundesgericht zahlreiche Einwände der Beschwerdeführer übergangen, unter anderem «das Outsourcing der Massenüberwachung an private Telekommunikationsunternehmen». Mit Blick auf die höchstrichterlichen Entscheide in Europa stehe Lausanne einsam da. «Es stellt sich die Frage, inwiefern die Schweiz in Bezug auf die Menschenrechte noch glaubwürdig handeln kann, wenn sie in der Schweiz jenseits von politischen Lippenbekenntnissen ständig an Wert verlieren.»
In einem Blog kritisieren die Rechtsanwälte Michael Reinle und Lukas Bühlmann ebenfalls, dass sich Lausanne mit seiner Entscheidung quer zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) stelle. Dieser hatte 2014 eine EU-Richtlinie als unverhältnismässig eingestuft, die eine Vorratsdatenspeicherung für 6 bis 24 Monate vorsah. Die Richtlinie beinhalte einen Grundrechtseingriff von «grossem Ausmass» und «besonderer Schwere» (Urteil C-293/12 und C-594/12). Der Eingriff in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten sei nicht auf das absolut Notwendige beschränkt und deshalb unzulässig, so der EuGH.
Datenschützer bewirkten “präzisere Formulierungen”
Hanspeter Thür, früherer Datenschutzbeauftragter des Bundes (EDÖB), hält jedoch die Schweizer Gesetzgebung in diesem Punkt mit jener der Europäischen Union als nicht vergleichbar. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Vorratsdatenspeicherung seien in der Schweiz «strenger und klarer».
Der aktuelle Datenschutzbeauftragte Adrian Lobsiger sagt, das Urteil entspräche seinen Erwartungen. Es liege im Spannungsfeld des Schutzes der Privatsphäre und der Strafverfolgung. Wie der Gesetzgeber mache auch das Bundesgericht eine Güterabwägung und komme zum Schluss, dass die gesetzlichen Grundlagen für eine Vorratsdatenspeicherung im Büpf genügend seien. Lobsiger: «Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte hat im Rahmen der Gesetzgebung zum Büpf jeweils darauf hingewirkt, dass die Bestimmungen möglichst präzis formuliert wurden.»
Die Daten werden ohne Anlass gespeichert
Michael Reinle und Lukas Bühlmann weisen in ihrem Blog aber auf eine zentrale Frage hin, die die Richter in Lausanne mit einem «nicht überzeugenden Winkelzug» umgehen: Darf der Staat Unternehmen dazu verpflichten, Daten von Bürgern zu beschaffen und zu speichern, auf die dann die Strafverfolgungsbehörden Zugriff erhalten? Zwar hatte das Bundesgericht im vorliegenden Verfahren den Zugriff auf die Daten durch die Strafverfolgungsbehörden nicht zu beurteilen. «Diese Aufteilung ist jedoch nicht überzeugend», schreiben die beiden Anwälte. Dies zeige sich etwa daran, dass das Bundesgericht bei der Prüfung des öffentlichen Interesses auf das öffentliche Interesse an der Aufklärung von Straftaten habe zurückgreifen müssen. «Auch bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit beurteilte das Bundesgericht insbesondere, ob die Vorratsdatenspeicherung für die Zwecke der Strafverfolgung geeignet und erforderlich ist», heisst es im Blog. Beachtenswert sei doch, dass diejenigen Randdaten, die für den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb der Telekommunikationsdienstleister nicht erforderlich seien, «ausschliesslich für die Zwecke der Strafverfolgung bzw. Gefahrenabwehr gespeichert werden». Dies anerkenne auch das Bundesgericht und seine Vorinstanz – das Bundesverwaltungsgericht. Damit würden die Telekommunikationsdienstleister «gesetzlich zu Hilfspolizisten». «Dies ist rechtsstaatlich umso problematischer, als die Telekommunikationsranddaten anlasslos von jedem Kommunikationsteilnehmer, also jedem Bürger, gespeichert werden.»
Die Vorratsdatenspeicherung führe auch zu einer Gefährdung des journalistischen Quellenschutzes: «Die Masse der Daten, welche im Zusammenhang mit der Vorratsdatenspeicherung gesammelt werden, können die Identifikation von Quellen erleichtern», schreibt Michael Reinle in der Zeitschrift «Medialex». Dass sich die Strafverfolgungsbehörden für solche Randdaten interessieren, zeige der Fall «Ritzmann/Mörgeli». «Aufgrund der Auswertung von Randdaten hatte die Staatsanwaltschaft in besagtem Fall Ermittlungen gegen die Professorin Iris Ritzmann eingeleitet.»
Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft sei rechtsstaatlich bedenklich, weil sie die Randdaten auswertete, um überhaupt erst einen Tatverdacht zu konstruieren. Reinle erinnert: Die Voraussetzung, dass die Strafverfolgungsbehörden nicht ohne Tatverdacht in die Grundrechte, insbesondere in die Privatsphäre des Bürgers, eingreifen dürfen, sei eine elementare Grundüberzeugung des liberalen, demokratischen Rechtsstaates. «Mitunter dieses Element unterscheidet den liberalen Rechtsstaat von Diktaturen und autoritären Systemen.» Letzten Endes konstatieren Bühlmann und Reinle: Auch dieser Entscheid entspreche «leider einer Tendenz in der Gesetzgebung – und auch Rechtsprechung –, elementare rechtsstaatliche Prinzipien aus Ergebnisorientierung zu vernachlässigen».
Immerhin: Die Bundesrichter halten im Urteil ausdrücklich fest, dass das Auskunftsrecht gemäss Artikel 8 des Datenschutzgesetzes auch für die eigenen Vorratsdaten gilt. Das heisst: Jedermann kann bei seinem Telekomanbieter Einsicht in die gespeicherten Daten verlangen.