Die Uno-Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen heissen «Nelson Mandela Rules». Sie gelten universal und haben Menschenrechtscharakter. Die Regel 61 hält fest: «Gefangenen sind ausreichend Gelegenheit, Zeit und Möglichkeiten zu geben, damit sie von einem Rechtsberater ihrer Wahl oder einem Anbieter rechtlicher Unterstützung aufgesucht werden, mit diesem verkehren und sich von ihm beraten lassen können, und zwar ohne Verzug, Abhören, Abfangen oder Zensur und in vollständiger Vertraulichkeit in jeder Rechtssache, im Einklang mit dem anwendbaren innerstaatlichen Recht.»
Funktioniert oft nur in der Theorie
Hält sich die Schweiz an diese Grundregel? In der Theorie darf sich tatsächlich jeder Insasse im Straf- oder Massnahmevollzug mit Rechtsmitteln gegen behördliche Anordnungen und Entscheide wehren. Doch David Mühlemann vom Verein Humanrights.ch relativiert: «In der Praxis ist den Insassen der Zugang zum Recht oft verwehrt. Die wenigsten Gefangenen können sich einen Anwalt leisten – zudem verstehen viele die Anordnungen und Verfügungen schlicht nicht.» Einen unentgeltlichen Rechtsbeistand erhielten die Gefangenen nur in besonderen Situationen, etwa wenn es um die Verlängerung einer stationären Massnahme gehe. Sogar in jenen Fällen, in denen die bedingte Entlassung nach Verbüssung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe verweigert wird, hätten sie keinen Anspruch auf einen amtlichen Anwalt. Mühlemann: «Das ist stossend, geht es doch um einschneidende Einschränkungen der Freiheitsrechte.»
Seit Februar 2017 bietet Humanrights.ch eine unentgeltliche Rechtsberatung für Menschen im Justizvollzug an. Das Projekt konzentriert sich vorderhand aus Ressourcengründen auf den Kanton Bern. Das war zumindest die Idee, doch treffen seit Eröffnung der Stelle Anfragen aus der ganzen Schweiz ein – von Gefangenen und zuweilen auch von deren Angehörigen. Die Zukunft des Projekts steht allerdings auf wackligen Füssen. Es sei schwierig, sagt Mühlemann, Geld für die Beratung von verurteilten Straftätern zu finden. Sie haben keine Lobby und stossen in der Gesellschaft auf wenig Sympathien.
“Kleine Verwahrung” sorgt für viele Anfragen
«Es geht um Waffengleichheit, Fairness und damit um die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit», betont der Leiter der Beratungsstelle. Rund 190 telefonische Anfragen seien seit dem Start eingetroffen. Mühlemann nimmt die Anliegen auf, greift selber ein oder leitet den Fall an einen Anwalt weiter. Die Beratungsstelle arbeitet eng mit einer Fachgruppe von Anwälten aus der ganzen Schweiz zusammen, die auf Vollzugsfragen spezialisiert sind.
Neben der eigentlichen Beratungstätigkeit baut die Stelle auch eine systematische Sammlung mit Beschwerden, Urteilen oder Medienberichten rund um den Vollzug auf und sichert den kantonsübergreifenden Wissenstransfer. Das Projekt wird von einer Begleitgruppe beraten, in der sich Fachleute aus Wissenschaft, Justizvollzug, Anwalt- und Richterschaft zusammengeschlossen haben. Dazu gehören der Berner Strafrechtsprofessor Jonas Weber, Marcel Klee vom Berner Amt für Justizvollzug oder die Luzerner Kantonsrichterin Marianne Heer.
Nach knapp zwei Jahren Beratungstätigkeit stellt Stellenleiter David Mühlemann fest, wo der Schuh im Freiheitsvollzug am meisten drückt: Es gehe um den Vollzug der stationären Massnahme, also der «kleinen Verwahrung». Zahlreiche Verurteilte müssten monatelang auf einen Therapieplatz warten, ohne zu wissen, wie es mit ihnen weitergeht. «Ihre Symptome werden durch die Orientierungslosigkeit verstärkt, sie werden noch kränker. Man lässt sie im Ungewissen.»
Strafrechtsprofessor Jonas Weber bestätigt diese Beobachtung. Aufgrund des jüngsten «Kapazitätsmonitorings Freiheitsentzug» der Kantonalen Konferenz der Justiz- und Polizeidirektoren geht er davon aus, dass in der Schweiz jeder Dritte, der zu einer stationären Behandlungsmassnahme verurteilt wurde, nicht behandlungsadäquat untergebracht ist – weil zu wenig geeignete Plätze für den Vollzug der Massnahme nach Artikel 59 Strafgesetzbuch zur Verfügung stehen. Ende 2016, so Weber, seien 380 Menschen nicht so untergebracht gewesen, wie es gerichtlich festgelegt worden sei.
Jahrelang im Vollzug ohne Recht auf einen Anwalt
«Das Problem ist nicht etwa, dass es zu einem frappanten Anstieg von verordneten stationären Massnahmen kommt, sondern, dass die Verurteilten zu lange im Massnahmevollzug bleiben. Die Dauer des Vollzugs hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt, und dies bei einer unverändert gebliebenen Anzahl der Anlasstaten», sagt Weber. Er ist dezidiert der Ansicht, dass die Vollzugsdauer bei den stationären Massnahmen oft zu lange sei: «Man könnte bei den Behandlungen schneller vorwärtsmachen und zu anderen, ambulanten Mitteln greifen, wie das im Gesundheitswesen passiert. Das wäre auch viel kostengünstiger.»
Die Beratungsstelle von Humanrights.ch erfülle eine wichtige Funktion, sagt Jonas Weber: «Ihr Angebot ist einzigartig. Es ist grundrechtlich geboten, dass Menschen im Justizvollzug einen effektiven Zugang zum Recht bekommen. In dieser Ausnahmesituation braucht es zwingend eine unentgeltliche Rechtsvertretung.» Es sei absurd, so der Berner Strafrechtsprofessor, dass Beschuldigten, denen eine Freiheitsstrafe von ein paar Monaten drohe, ein amtlicher Verteidiger zur Seite gestellt werde – Verurteilten, die sich jahrelang im Vollzug befinden, werde das gleiche Recht weitgehend verwehrt. Dafür gebe es keine sachlichen Gründe.
Vertreter des Justizvollzugs reagieren zurückhaltend bis vorsichtig positiv auf das neue Angebot. Rebecca de Silva vom Zürcher Amt für Justizvollzug nennt das Pilotprojekt «begrüssenswert und sinnvoll». Sie sagt, man warte gespannt auf die erste Auswertung. Grundsätzlich vertrete man jedoch die Meinung, dass vieles an Beratung intern angeboten werden könne, also von den Vollzugsmitarbeitern.
Gleicher Meinung ist Patrick Cotti, Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrums für den Justizvollzug in Freiburg. Die Vollzugsmitarbeiter würden geschult, «gefangene Personen zu beraten und falls nötig an die zuständigen Stellen weiterzuweisen». Cotti räumt ein, dass bei Insassen eine gewisse Skepsis gegenüber internen Beratungen bestehen könne, eine unabhängige, kostenlose Beratung sei deshalb «zielführend und notwendig».
Marcel Klee, Ex-Direktor des Regionalgefängnisses Burgdorf, hat sich für einen offenen Umgang mit der neuen Beratungsstelle entschieden. Letzten Herbst trat er eine neue Stelle als Stabschef des Berner Amts für Justizvollzug an. Das Engagement von Humanrights.ch erachtet er als Chance und bindet die potenziellen Kritiker ein. «Wenn sie uns auf blinde Flecken aufmerksam machen, nehme ich das dankbar entgegen. Wir sind froh um solches Feedback.»
Als Klee als Gefängnisdirektor erstmals von Stellenleiter David Mühlemann kontaktiert wurde, lud er den Vollzugsnovizen als Erstes zu einem einwöchigen Praktikum ins Gefängnis ein. Mühlemann nahm das Angebot an. Das gegenseitige Interesse und der persönliche Kontakt habe zu einer Vertrauensbasis und einem sachlichen Umgang geführt.
Klee und Mühlemann sind sich bewusst, dass das Angebot auch ausgenützt oder falsch verstanden werden kann – Beschwerden über schlechten Kaffee behandelt die Stelle nicht. Doch die überwiegende Mehrheit der Fälle betrifft Substanzielles. Der Zürcher Strafverteidiger Bernard Rambert gehört zur anwaltlichen Fachgruppe, welche die Beratungsstelle unterstützt. Rambert hat jahrzehntelange Erfahrungen mit Rechtsfragen aus dem Justizvollzug. Seit den 1970er-Jahren setzt er sich für menschenwürdige Bedingungen im Gefängnis ein, kämpfte etwa gegen die Isolationshaft, die er Folter nennt, für eine freie Arztwahl oder für das Recht der Gefangenen auf bezahlte Ferien und einen Ruhestand im Pensionsalter.
Gefangene haben keinen Zugriff auf Internetberatung
Das Bundesgericht lehnte das Ansinnen auf einen Ruhestand ab – im Wesentlichen mit der Begründung, die Arbeitspflicht im Strafvollzug sei nicht mit der Arbeit draussen zu vergleichen (6B_182/2013). Im Vollzug gehe es um eine sinnvolle Beschäftigung, um Ablenkung oder darum, die Vereinsamung der Insassen zu verhindern, die zu einer psychischen und physischen Degeneration führen könne. Die Arbeitspflicht für Gefangene im Pensionsalter begründet das Bundesgericht mit einer besonderen Fürsorgepflicht – es gehe um die Vermeidung von Haftschäden, von Zwangsarbeit könne nicht die Rede sein. Rambert zog den Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Doch auch der EGMR sieht in der Arbeitspflicht für betagte Gefängnisinsassen keine Verletzung des Verbots der Zwangsarbeit. Die Strassburger Richter betonen ebenfalls die Fürsorgepflicht der Anstalten und die Vermeidung von Haftschäden.
Bernard Rambert sagt, Menschen im Justizvollzug anwaltlich zu vertreten sei eine schwierige Aufgabe. Die Klientel ist anspruchsvoll, die Arbeit erfordert Gefängnisbesuche und nimmt viel Zeit in Anspruch, der tatsächliche Aufwand wird fast nie bezahlt. «Jüngere Anwälte können sich solche Mandate kaum leisten. Es ist dringend nötig, den Gefangenen während des Vollzugs unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Nicht zuletzt auch, weil sie keinen Zugriff zur virtuellen Welt haben, womit ihnen viele Informationen vorenthalten bleiben. Das ist stossend und unverhältnismässig.»
Restriktiver Zugang zu Anwälten
Gefangene im Strafvollzug oder in einer Massnahme erhalten nur in wenigen Situationen einen unentgeltlichen Rechtsbeistand. Etwa, wenn es um die Verlängerung einer stationären Massnahme oder um eine Neubegutachtung geht. Der Zürcher Strafverteidiger Stephan Bernard stellt kantonale Unterschiede fest und eine restriktive Tendenz, was die Gewährung eines Rechtsbeistands betrifft. «Bei der Prüfung der bedingten Entlassung aus der Massnahme oder aus der Verwahrung wird der unentgeltliche Rechtsbeistand oft verweigert – mit der Begründung einer fehlenden Notwendigkeit oder wegen angeblicher Aussichtslosigkeit.» Gehe es um die bedingte Entlassung nach der Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe, werde ein unentgeltlicher Beistand im Rechtsmittelweg tendenziell gewährt, jedoch nicht von Anfang an. «Bei Rekursen gegen Disziplinarmassnahmen hingegen haben Gefangene kaum eine Chance auf einen unentgeltlichen Rechtsvertreter», so die Erfahrung des Zürcher Anwalts. Bernard setzt sich für eine grosszügigere Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für Menschen im Justizvollzug ein und schlägt vor, jedem Insassen ein bestimmtes Kontingent an Anwaltsstunden auch für eine reine Rechtsberatung zur Verfügung zu stellen.