Wenn Regina Kiener von der «Venedig-Kommission» erzählt, kann sie ihre Begeisterung nicht verbergen. «Das ist mit Abstand die interessanteste Aufgabe, die ich je hatte», schwärmt die Zürcher Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht. 2013 ist sie vom damaligen Aussenminister Didier Burkhalter zur Schweizer Vertreterin in der «Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht», so die offizielle Bezeichnung, ernannt worden. Inzwischen wurde das Mandat um weitere vier Jahre verlängert.
In der Schweiz ist die Kommission kaum bekannt. «Zu Unrecht», bedauert Kiener. Schliesslich hat sie die wichtige Aufgabe, die Mitgliedstaaten bei der Demokratisierung und Verankerung von Grund- und Menschenrechten zu unterstützen. Fachleute aus den 47 Mitgliedern des Europarates und 14 weiteren Staaten gehören der Kommission an – Professoren, Richter, hohe Beamte und Parlamentarier. Sie kommen zum Zug, wenn ein Mitgliedstaat oder der Europarat einen Verfassungs- oder Gesetzesentwurf begutachten lassen will. Das Polizeigesetz in Polen, die Verfassungsrevisionen in Georgien und der Ukraine, die Umsetzung der tunesischen Verfassung, der Staatsnotstand in Frankreich und in der Türkei. Das sind einige Fälle, mit denen es die Schweizer Juristin zu tun hatte.
«Zuerst erarbeitet ein kleines Team ein Gutachten», erklärt die Professorin. Dann gehe man mit dem Entwurf in das Land, spreche mit dem Justizministerium, mit Richtern, Anwälten und NGOs. Kiener liebt diese Gespräche. Für sie ist der Diskurs vor Ort das, was ihre Aufgabe so faszinierend macht. Danach wird die definitive Fassung des Gutachtens dem Plenum der Kommission zur Genehmigung vorgelegt. Die Vollversammlung, bei der auch Delegationen aus den betroffenen Ländern anwesend sind, findet vierteljährlich in Venedig statt, in der Scuola Grande di San Giovanni Evangelista.
Kiener ist im bernischen Hilterfingen aufgewachsen. Zuerst studierte sie in Bern Kunstgeschichte, doch das Studium empfand sie derart unstrukturiert und perspektivenarm, dass sie sich für Jus entschied. 1989 erwarb sie das Anwaltspatent und war in der Advokatur tätig, bis sie wissenschaftliche Assistentin am Berner Institut für öffentliches Recht wurde. Nach Studienaufenthalten in den USA und Deutschland wurde sie 2001 ordentliche Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Bern, 2009 wechselte sie nach Zürich.
“Exit-Kaktus” für ihre Haltung zur Sterbehilfe
An ihrem Beruf schätzt Kiener die Kombination von Forschung und Lehre. Beides macht die 55-Jährige noch immer sehr gern, «auch wenn in Zürich das Lehren bei 300 bis 400 Leuten im Hörsaal – Erstsemester, von denen einige noch nicht wissen, ob sie dieses Studium überhaupt machen wollen – eine Herausforderung sein kann». Bei den Studentinnen und Studenten kommt die Professorin gut an. Ihnen gefällt, dass sie trotz ihrer Eloquenz nicht vom hohen Sockel herab doziert. Auch in Fachkreisen geniesst sie hohes Ansehen. Davon zeugen ihre Mandate in Expertenkommissionen des Bundes und der Kantone sowie der Justiz.
Nicht von allen gut aufgenommen wurde ihre Antrittsvorlesung in Zürich zur organisierten Sterbehilfe. Doch die Staatsrechtlerin ist überzeugt, dass es in einem derart sensiblen Bereich Regeln braucht, die sich nicht allein an den Freiheitsinteressen des Einzelnen orientieren. Vor allem aber, warnt sie, «dürfen die Ausweitungstendenzen in der Suizidhilfe das Rechtsgut Leben nicht abwerten». Solches hört man bei den Organisationen der Sterbehilfe nicht gern. Im Mitgliedermagazin «Exit Info» wurde die Professorin prompt mit dem «Exit-Kaktus» bedacht. Seltsam mute an, hiess es, dass ausgerechnet «diese harte Selbstbestimmungsgegnerin» im Leitungsausschuss des Uni-Kompetenzzentrums für Menschenrechte sitze. «Das ist Ausdruck der freien Meinungsäusserung», sagt Kiener. Weiter möchte sie sich zu dieser emotional geführten Diskussion nicht äussern.
Lieber spricht sie über die Menschenrechte: «Wenn man sie schützen will, braucht es schon auf nationaler Ebene starke Institutionen.» Fest steht für sie auch: «Ohne funktionierende Justiz bleiben Menschenrechte leere Worte.» Kiener hat sich unter anderem mit dem Rechtsschutz im Ausländerrecht befasst und am Kommentar zum «Uno-Übereinkommen über die Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau» mitgewirkt. Sie spart auch bei politisch heiklen Themen wie dem Asylverfahren nicht mit Kritik. Mit Gabriela Medici hat sie in einem Gutachten aufgezeigt, dass das von der Verfassung garantierte Recht auf Bewegungsfreiheit verletzt wird, wenn man ganzen Personengruppen den Zugang zum öffentlichen Raum verwehrt.
“Medizinische Hilfe darf nicht bestraft werden”
Gegenwärtig ist es der Zugang zur Justiz, dem sich die Staatsrechtlerin widmet. Am Schweizer Juristentag 2019 wird sie ein Referat zu diesem Thema halten. «Wir haben in der Schweiz formal ein sehr gutes System, aber in der Realität ist es nicht so einfach. Nicht alle haben problemlos Zugang zur Justiz: Sans-Papiers wagen es nicht, ihren Lohn einzufordern oder sich gegen sexuelle Ausbeutung zu wehren, da sie ihren prekären Aufenthalt offenlegen müssten. Auch Opfer häuslicher Gewalt schrecken vor Anzeigen zurück. Migrantinnen, deren Aufenthaltsrecht an das ihres Mannes gebunden ist, fürchten die Ausweisung.»
Kiener belässt es nicht beim Schreiben. Sie engagiert sich im Beirat der Berner Beratungsstelle. Diese hilft Sans-Papiers auch bei der medizinischen Versorgung und überweist Kranke dem Ambulatorium des Roten Kreuzes. Das ist heikel, weil das Ausländergesetz allen, die den illegalen Aufenthalt «fördern», mit Strafe droht. «Orientiert man sich bei der Auslegung des Gesetzes jedoch an der Verfassung, darf medizinische Hilfe nicht bestraft werden», ist Kiener überzeugt. In der Zeitschrift «Asyl» fand sie deutliche Worte: «Sans-Papiers sind Menschen und Menschen haben Rechte. Wer sich für die elementarsten Rechte anderer einsetzt, lebt einem Grundgedanken unserer Verfassung nach und verdient Achtung und Unterstützung.»
Nach ihrer Ernennung für die Venedig-Kommission hat die Professorin verschiedene Engagements ausserhalb der Universität aufgegeben, auch um genügend Freiraum und Zeit für längere Bergtouren oder für Segeltörns zu haben. Dozentin am Schweizerischen Polizeiinstitut will sie bleiben: «Es ist wichtig, dass Polizeikader eine Ausbildung in Menschenrechtsschutz erhalten.»