plädoyer: Laut Strafurteilsstatistik kam es 2018 in der Schweiz zu 91 Verurteilungen wegen einer Vergewaltigung und 198 Verurteilungen wegen einer sexuellen Nötigung. Dies bei insgesamt 120 872 Schuldsprüchen. Die Fallzahlen in diesem Bereich sind also tief. Wo liegt das Problem?
Nora Scheidegger: Es gibt zwar wenige Anzeigen und Verurteilungen, aber eine hohe Dunkelziffer. Eine Umfrage von Amnesty International zeigt, dass im Bereich des Sexualstrafrechts nur rund zehn Prozent der Delikte angezeigt werden. Aus zwei Gründen: Viele schämen sich, über derart intime Dinge und das erlittene Unrecht zu sprechen. Zum anderen stellen Strafverfahren für die Opfer eine grosse Belastung dar.
Tanja Knodel: Es ist nicht geklärt, wie viele der nicht angezeigten Übergriffe strafrechtlich relevant wären. Zudem kann aus der Zahl der Anzeigen nicht auf die Zahl der Delikte geschlossen werden. Denn nicht immer liegt ein Delikt vor, wenn es zu einer Anzeige kommt. Ein Strafverfahren ist nicht nur für ein potenzielles Opfer unangenehm, sondern auch für den Beschuldigten. Für zu Unrecht Beschuldigte ist eine solche Situation schlimm. Besonders wenn Untersuchunghaft droht.
plädoyer: 22 Strafrechtsprofessoren fordern, dass nicht konsensuale sexuelle Handlungen angemessen bestraft werden sollen. Heute braucht es für eine Verurteilung wegen Vergewaltigung eine Nötigung. Ein gesetzgeberischer Mangel?
Scheidegger: Es würde die Situation der Opfer verbessern, wenn nicht immer zusätzlich eine Nötigung nachgewiesen werden müsste. Ich höre oft, dass auf eine Anzeige verzichtet wird, weil man nicht sicher ist, ob das angewandte Nötigungsmittel vom Gericht auch als solches gewürdigt wird. Würde allein das glaubhafte Darlegen eines «Nein» für eine Verurteilung reichen, würden Opfer eher Anzeige erstatten.
Knodel: Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung sind schwere Straftaten. Für die Vergewaltigung gilt eine Mindeststrafe von einem Jahr. Bei solchen Strafandrohungen braucht es mehr als bloss ein plausibles Darlegen eines «Nein». Für mich muss die Nötigung für den Tatbestand der Vergewaltigung oder der sexuellen Nötigung daher zwingend vorliegen. Muss das potenzielle Opfer die Nötigung schildern, kann man nach Realitätskriterien suchen. Genügt ein blosses «Nein» für die Erfüllung des Straftatbestands, ist dies nicht möglich. Damit würden die Verteidigungsmöglichkeiten von Beschuldigten ausgehebelt.
plädoyer: Werden Beschuldigte heute häufig wegen fehlender Nötigung freigesprochen?
Knodel: Nein. Im Gegenteil: Staatsanwälte und Richter nehmen sehr schnell eine Nötigung an. Das gilt auch für das Bundesgericht. Das Problem liegt darin, dass es sich bei Sexualdelikten in aller Regel um «Vieraugendelikte» handelt und oft keine Spuren eines Zwangs vorliegen. Die Beweisschwierigkeiten sind enorm. Die Gerichte haben also oft nur die Aussagen der Beteiligten als Beweismittel. Das würde sich mit einer neuen Regelung nicht ändern.
Scheidegger: Das Bundesgericht hat die Rechtsprechung tatsächlich schon weit ausgedehnt. Es nimmt relativ schnell eine Nötigung an. Es gibt aber trotzdem Fälle, in denen eine Einstellung oder ein Freispruch ergeht, weil das Nötigungsmittel fehlt. Ich schlage deshalb vor, dass man einen eigenständigen Grundtatbestand einführt, bei dem das Übergehen eines «Nein» für eine Bestrafung reicht, ohne dass ein Nötigungselement vorliegen muss. Für dieses Delikt könnte man einen geringeren Strafrahmen als für Vergewaltigung vorsehen und auf eine Mindeststrafe verzichten.
Knodel: Auch ich würde den Verzicht auf eine Mindeststrafe begrüssen. Eine Verurteilung nach dieser neuen Bestimmung würde zusätzlich zu weitreichenden Konsequenzen wie einem Tätigkeits-, einem Berufsverbot oder einem Strafregistereintrag führen. Das sind einschneidende Massnahmen. Aus meiner Sicht ist die Nötigung im Straftatbestand unverzichtbar. Wie sollte man sich über ein «Nein» hinwegsetzen ohne eine Nötigung?
Scheidegger: Indem man etwa am passiv bleibenden Opfer einfach weitermacht. In psychischen Ausnahmesituationen wie dem Übergehen eines «Nein» kann beim Opfer ein Schock ausgelöst werden. In dieser Situation reagiert es nicht so, wie es vernünftig gewesen wäre. Dies kann auch wegen Überforderung so sein. Es ist stossend, dass das Opfer Widerstand leisten muss.
Knodel: Mich stört es, dass Sexualität so einfach dargestellt wird, dass man einfach «Ja» oder «Nein» sagen kann. Sex ist ein Prozess und enthält auch viele nonverbale Zeichen. Auch kann es sein, dass man seine Haltung im Lauf dieses Prozesses ändert.
Scheidegger: Wird diese Meinungsänderung nicht gegen aussen kommuniziert, ist der Sex einvernehmlich. Grenzfälle etwa mit fehlendem Vorsatz wären straflos.
plädoyer: Gewisse Kreise fordern, die Grenze der Strafbarkeit dort zu ziehen, wo der Sexualpartner nicht ausdrücklich «Ja» gesagt hat. Wie stehen Sie dazu?
Scheidegger: Ich könnte mit beiden Regelungen leben. Für den Grossteil der Fälle macht das keinen Unterschied.
Knodel: Im Strafrecht gilt die Unschuldsvermutung. Die «Ja»-Regelung lässt sich damit nicht vereinbaren. Das würde bedeuten, dass Sex grundsätzlich unerwünscht ist und man dazu explizit «Ja» sagen muss, damit er legal ist. Wir sollten stattdessen davon ausgehen, dass Sex grundsätzlich einvernehmlich stattfindet.
Scheidegger: Nur nichtkonsensualer Sex wäre illegal. Solange die fehlende Einwilligung nicht nachgewiesen werden kann, wäre natürlich kein Schuldspruch möglich. Die Unschuldsvermutung wird damit nicht angetastet. In Deutschland ist man etwas weniger weit gegangen, dort ist die «Nein»-Regelung seit 2016 im Gesetz verankert. Die Regelung lautet: Wer gegen den erkennbaren Willen der anderen Person eine Handlung an dieser vornimmt, wird bestraft.
Knodel: Das Schweizer Strafgesetzbuch nennt die Tatbestände der Vergewaltigung, der sexuellen Nötigung und der sexuellen Belästigung. Letztere bestraft sexuelle Übergriffe, ohne dass eine Nötigung vorliegen müsste. Es gibt also diverse Tatbestände, um sexuelle Übergriffe zu ahnden. In Deutschland gab es dagegen den Tatbestand der sexuellen Belästigung lange Zeit nicht.
Scheidegger: Sexuelle Belästigung ist nur strafbar, wenn ein Antrag vorliegt. Und es ist nur eine Übertretung. Es gibt dafür maximal eine Busse.
Knodel: Was ist daran falsch? Drei Monate Frist für einen Antrag wegen Belästigung ist eine lange Zeit. Eine Busse ist nicht unbedeutend.
Scheidegger: Opfer von sexuellen Übergriffen brauchen teilweise lange, bis sie psychisch in der Lage sind, eine Anzeige zu erstatten. Eine Busse ist nicht angemessen für eine solche Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung.
plädoyer: Beweisrechtlich sind Vieraugendelikte schwierig zu bewältigen. Häufig steht Aussage gegen Aussage. Mangels objektiver Beweismöglichkeiten wächst das Risiko von Fehlurteilen. Nehmen Sie das in Kauf?
Scheidegger: Beschuldigte müssen freigesprochen werden, wenn die Aussagen beider Beteiligten ähnlich glaubhaft sind. Es ist selbstverständlich schlimmer, wenn jemand zu Unrecht verurteilt wird, als wenn er zu Unrecht freigesprochen wird.
Knodel: Dies ist in der Praxis nicht der Fall. Man analysiert die Aussagen und prüft sie auf ihre Glaubhaftigkeit. Bei Sexualdelikten haben wir bereits heute oft eine faktische Beweislastumkehr: Als Verteidigerin muss ich quasi die Unschuld des Beschuldigten beweisen. Mit einem neuen Sexualstrafrecht, das einzig auf den Aussagen der Beteiligten über ein ausgesprochenes oder signalisiertes «Ja» oder «Nein» basiert, wird es für Beschuldigte noch schwieriger.
Scheidegger: Bereits heute basieren viele Fälle nur auf den Aussagen der Beteiligten. Opferberatungsstellen schildern mir allerdings das gegenteilige Problem, nämlich, dass viele Verfahren wegen Beweisschwierigkeiten eingestellt werden.
Knodel: Ich stelle fest, dass die Aussagen des Opfers und des Beschuldigten in einem Gerichtsverfahren oft nicht gleich gewürdigt werden. Verstrickt sich das Opfer nicht in krasse Widersprüche und schildert es den Ablauf plausibel, glaubt man ihm. Ich meine aber: Auch wenn die Aussage des potenziellen Opfers glaubhafter ist, darf es nicht zu einer Verurteilung des potenziellen Täters kommen, solange dessen Version der Ereignisse nicht unglaubhaft ist. Hier muss der Grundsatz «in dubio pro reo» greifen. Tatsächlich nimmt man im Bereich des Sexualstrafrechts jedoch lieber Verurteilungen von Unschuldigen als Freisprüche von Schuldigen in Kauf.
plädoyer: Würde eine «Nein-Regelung» zu einer Schlechterstellung des Beschuldigten führen?
Scheidegger: Nein. Erste Erfahrungen aus Deutschland zeigen, dass es für die Beschuldigten mit der neuen Regelung nicht schwieriger geworden ist. Diese führt nicht zu einer Beweislastumkehr. Auch hat das neue Gesetz in Deutschland nicht zu einer Flut von Falschbeschuldigungen von Frauen, die den Sex bereuten oder sich rächen wollten, geführt. Zudem sind dort auch die Verurteilungen nicht sprunghaft angestiegen.
Knodel: Wie will man das herausfinden? In Deutschland existiert die neue Regelung erst seit drei Jahren. Daher ist heute noch keine Aussage möglich.
plädoyer: Weshalb braucht es ein neues Sexualstrafrecht mit Einwilligungsprinzip, wenn es praktisch zu keinen Veränderungen führt?
Scheidegger: Die Berechtigung einer Strafnorm sollte nicht an der Anzahl Verurteilungen gemessen werden. Die neue Regelung ist für jene Fälle berechtigt, in denen heute mangels Nötigungsmittel ein Freispruch oder eine Einstellung ergeht oder in denen heute eine Frau von vornherein bei schlechten Prozesschancen punkto Nötigung auf eine Anzeige verzichtet.
Knodel: Nimmt man das Tatbestandsmerkmal der Nötigung aus dem Tatbestand der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung heraus, werden mehr Verhalten kriminalisiert. Dies führt zu mehr Verurteilungen im Sexualbereich.
plädoyer: Die Istanbul-Konvention verpflichtet die Schweiz, nichteinvernehmlichen Sex strafrechtlich zu ahnden. Erfüllen das Schweizer Recht und die Rechtsprechung des Bundesgerichts heute diese Vorgaben?
Scheidegger: Nichteinvernehmliche sexuelle Handlungen sind bei uns unter Strafe gestellt, da wir zudem den Tatbestand der sexuellen Belästigung haben. In der Konvention gibt es aber eine Bestimmung, die besagt, dass nichteinvernehmliche sexuelle Handlungen von Amtes wegen verfolgt werden und angemessene Strafen vorgesehen sind. In jenen Fällen, in denen nur der Tatbestand der sexuellen Belästigung gegeben ist, genügt unser Recht der Istanbul-Konvention nicht.
Knodel: Nach meiner Meinung wird nichteinvernehmlicher Sex mit den Bestimmungen im Strafgesetzbuch bereits heute wirksam unter Strafe gestellt.
plädoyer: Der Bundesrat sieht in seinem Entwurf zum neuen Sexualstrafrecht vor, dass auch beischlafähnliche Handlungen als Vergewaltigung bestraft werden können. Dabei geht der Begriff der beischlafähnlichen Handlungen sehr weit. Laut Bundesrat liegt diese vor, wenn das primäre Geschlechtsteil einer Person mit dem Körper der anderen Person in enge Berührung kommt.
Knodel: Ich bin skeptisch, ob man die beischlafähnlichen Handlungen unter den Tatbestand der Vergewaltigung subsumieren kann. Meiner Meinung nach ist zu unbestimmt, was alles unter beischlafähnliche Handlung fällt. Dafür den gleichen Strafrahmen wie für eine Vergewaltigung vorzusehen, geht mir zu weit. Diese beischlafähnlichen Handlungen sollten unter den Tatbestand der sexuellen Nötigung fallen.
Scheidegger: Es müsste in der Schweiz tatsächlich genauer definiert werden, was unter eine beischlafähnliche Handlung fällt.
Knodel: Mir graut davor, dass jeder Richter beischlafähnliche Handlungen nach seinen eigenen Vorstellungen definiert.
Scheidegger: Die Probleme ergeben sich hauptsächlich wegen der vorgesehenen Mindeststrafe von zwei Jahren bei der Vergewaltigung. Eine Alternative wäre, den Tatbestand der Vergewaltigung zu streichen und nur noch jenen der sexuellen Nötigung beizubehalten. Die Art der abgenötigten sexuellen Handlung könnte man auch bei der Strafzumessung berücksichtigen.
plädoyer: Kann das Strafrecht das Sexualverhalten überhaupt beeinflussen?
Knodel: Ich denke nicht, dass sich über das Strafrecht regeln lässt, wie sich die Bevölkerung im Bett zu verhalten hat. Unser Strafrecht ist in die Jahre gekommen. Trotzdem hat sich in den letzten Jahren bezüglich des sexuellen Verständnisses der Selbstbestimmung der Frau einiges geändert. Unsere Generation lebt die Sexualität anders aus als frühere Generationen.
Scheidegger: Es fragt sich, ob sich zunächst die Bevölkerung ändern muss, bevor dies im Strafrecht verankert wird oder ob das Strafrecht auch ein Motor für Veränderungen sein kann. Ein Beispiel: Vergewaltigung in der Ehe. Frauenrechtsorganisationen wollten diese schon lange unter den Tatbeständen der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung subsumieren. Im Entwurf des neuen Strafgesetzbuches von 1985 war dies noch nicht der Fall. Während des Gesetzgebungsverfahrens führte man verschiedene Umfragen in der Bevölkerung durch und stellte einen Gesinnungswandel fest. Durch die Debatten wurde die Gegnerschaft der Strafbarkeit von Vergewaltigungen in der Ehe kleiner. Ich bin überzeugt, dass auch durch die jetzige Debatte ein gewisser Einfluss ausgeübt werden kann.
Knodel: Es besteht die Gefahr einer überkriminalisierten Gesellschaft. Deshalb habe ich Angst vor der Kriminalisierung der Sexualität. Wenn man zu weit geht, wüsste ich gar nicht, wie man heute noch jemanden verführen kann.
Scheidegger: Auch ich plädiere für ein zurückhaltendes Strafrecht. Zentrale Rechtsgüter wie das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung müssen aber vorbehaltlos geschützt werden. Wird ein «Nein» übergangen, stellt dies einen massiven Übergriff dar. Mit Verführung hat dies nichts zu tun.
plädoyer: Das Strafrecht sollte ultima ratio sein. Gäbe es nicht andere, wirksamere Mittel wie Prävention, Schulungen oder Beratungsstellen?
Knodel: Ja, hier würde ich ansetzen. Für mich ist das Strafrecht nicht der Weg, das vorgegebene Ziel zu erreichen. Auch ich bin der Ansicht, Sex sollte einvernehmlich sein. Etwas anderes ist die Frage, wo die Grenze zur Strafbarkeit liegen soll.
Scheidegger: Das eine schliesst das andere nicht aus. Die zentrale Aussage aller Präventionskampagnen, nämlich dass ein «Nein» immer zu respektieren ist, sollte sich aber auch im Strafgesetz wiederfinden.
Die Gesprächsteilnehmerinnen
Nora Scheidegger, 32, Oberassistentin am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern, schrieb ihre Dissertation über «Das Sexualstrafrecht der Schweiz – Grundlagen und Reformbedarf».
Tanja Knodel, 44, Rechtsanwältin in Zürich, Schwerpunkt Strafverteidigung, Co-Leiterin Fachgruppe Strafverteidigung des Zürcher Anwaltsverbands (ZAV).