Das Erbrecht in seiner heutigen Form besteht seit über hundert Jahren, im Wesentlichen unverändert. Hingegen haben sich die Lebensrealitäten erheblich verändert. So existieren heute zahlreiche alternative Formen des Zusammenlebens (etwa Patchworkfamilien und Konkubinatspaare). Gleichzeitig haben sich die Lebenserwartung und die Scheidungsrate erhöht, was Zweit- und Drittbeziehungen begünstigt. Um den veränderten Rahmenbedingungen gerecht zu werden, war eine Revision des Erbrechts geboten.
Anstoss für das umfassende Projekt gab die Motion «Für ein zeitgemässes Erbrecht» des damaligen Zürcher Ständerats Felix Gutzwiller vom 17. Juni 2010.1 Die Revision wurde gemäss Bundesratsbeschluss in drei Teile gestaffelt.2 Die erste Etappe geht die sog. «politische» Erbrechtsrevision mit dem Grundauftrag der Motion Gutzwiller an.3 Der zweite Teil befasst sich mit «technischen» Revisionsanliegen 4 und der dritte ist der Erleichterung der erbrechtlichen Unternehmensnachfolge gewidmet.5 Ausserdem soll das internationale Erbrecht (d.h. die Art. 86–96 IPRG) revidiert werden.6 Der vorliegende Artikel widmet sich der ersten Etappe, die auf den 1. Januar 2023 in Kraft tritt.
1. Hauptaspekte der ersten Etappe
1.1 Mehr Freiheit, weniger Pflichtteile
Unter geltendem Recht ist die Verfügungsfreiheit des Erblassers aufgrund der Pflichtteile eingeschränkt. Pflichtteile sind Bruchteile des gesetzlichen Erbteils (vgl. Art. 457–466 ZGB), die den Nachkommen, Ehegatten bzw. eingetragenen Partnern und in einigen Fällen den Eltern per Gesetz zustehen (vgl. Art. 470 f. ZGB) und über die der Erblasser nicht frei verfügen kann. Der Erblasser erhält künftig mehr Flexibilität, indem der Pflichtteil der Nachkommen von ¾ des gesetzlichen Erbteils auf neu ½ reduziert und der Pflichtteil der Eltern sogar vollständig aufgehoben wird (Art. 470 Abs. 1 und 471 nZGB).7 Der Pflichtteil des überlebenden Ehegatten oder eingetragenen Partners bleibt unverändert (d.h. ½ des gesetzlichen Erbteils).
Unter neuem Recht gilt somit für alle Pflichtteilserben ein Pflichtteilsanspruch von der Hälfte des gesetzlichen Erbteils (vgl. Art. 471 nZGB). Durch die tieferen Pflichtteile der Nachkommen und den Verlust des Pflichtteilsrechts der Eltern erhöht sich somit die frei verfügbare Quote des Erblassers. Er kann also freier über seinen Nachlass verfügen. Folglich können je nach Belieben einzelne Nachkommen, der überlebende Ehegatte oder eingetragene Partner, aber auch der Konkubinatspartner und wohltätige Organisationen besser begünstigt werden. Die erhöhte Dispositionsfreiheit erleichtert insbesondere auch die Übertragung von Familienunternehmen. Die gesetzlichen Erbteile bleiben demgegenüber unverändert, womit sich für Konstellationen, in denen nicht letztwillig über den Nachlass verfügt wurde, mit Inkrafttreten der ersten Etappe der Erbrechtsrevision nichts verändert.
Die erhöhte erblasserische Verfügungsfreiheit lässt sich exemplarisch am folgenden Sachverhalt darstellen: Hinterlässt eine Frau ihren Ehemann und zwei gemeinsame Kinder, beträgt der Pflichtteil des Mannes heute ¼ – nämlich die Hälfte des gesetzlichen Erbteils von ½ (vgl. Art. 471 Ziff. 3 ZGB). Der Pflichtteil der beiden Kinder beläuft sich auf insgesamt ⅜ – nämlich ¾ ihres gesetzlichen Erbteils von ½ (vgl. Art. 471 Ziff. 1 ZGB). Für jedes der beiden Kinder entspricht dies einem Pflichtteil von ⁄₁₆. Gemäss neuem Recht beträgt der Pflichtteil des Ehemannes in diesem Beispiel weiterhin ¼, derjenige der Kinder aber nur noch insgesamt ¼ und pro Kind ⅛ – nämlich die Hälfte ihres gesetzlichen Erbteils von insgesamt ½; vgl. Art. 471 nZGB). Die frei verfügbare Quote der Ehefrau erhöht sich in diesem Beispiel von ⅜ auf die Hälfte ihres Nachlasses. Hinterlässt eine Erblasserin nur Nachkommen und keinen Ehegatten oder eingetragenen Partner, beträgt die frei verfügbare Quote neu ½ statt wie bisher ¼.
1.2 Quote bei Nutzniessung des überlebenden Ehegatten
Ebenfalls an die reduzierten Pflichtteile der Nachkommen angepasst wird die verfügbare Quote bei der Begünstigung des überlebenden Ehegatten durch Nutzniessung nach Art. 473 Abs. 1 ZGB – ein Instrument, von dem in der Praxis häufig Gebrauch gemacht wird. Nach geltendem Recht kann dem überlebenden Ehegatten die Nutzniessung am ganzen, den gemeinsamen Kindern zufallenden Teil der Erbschaft zugewendet werden. Die Nutzniessung tritt in diesem Fall an die Stelle des dem Ehegatten neben diesen Nachkommen zustehenden gesetzlichen Erbrechts. Die verfügbare Quote beträgt heute neben dieser Nutzniessung ein Viertel des Nachlasses (Art. 473 Abs. 2 ZGB). Neu wird die verfügbare Quote auf die Hälfte des Nachlasses erhöht (Art. 473 Abs. 2 nZGB). Nach dem neuen Recht steht das Planungsinstrument der Nutzniessung nicht mehr nur Ehegatten, sondern auch eingetragenen Partnern zu. Dies ist möglich, weil ein Kind aus Stiefkindadoption (Art. 264c Abs. 1 Ziff. 2 ZGB) als gemeinsamer Nachkomme gilt.
Bei der Nutzniessung erfolgen auch einige Klarstellungen. Wurde dem Ehegatten oder eingetragenen Partner letztwillig nur die Nutzniessung zugewiesen, kann er anstelle der Nutzniessung seinen Pflichtteil zu vollem Eigentum verlangen. Wird hingegen die Nutzniessung akzeptiert, verzichtet der überlebende Ehegatte oder Partner auf den Pflichtteil.8 Für die Berechnung der Ansprüche der Erben werden bei gemeinsamen und nicht gemeinsamen Nachkommen zwei unterschiedliche Erbmassen gebildet. Die eine zwischen dem überlebenden Ehegatten bzw. eingetragenen Partner und den gemeinsamen Nachkommen, die andere zwischen dem überlebenden Ehegatten und den nicht gemeinsamen Kindern.9
1.3 Pflichtteilsrecht bei Tod während einer Scheidung
Mit der Scheidung bzw. Auflösung der eingetragenen Partnerschaft fällt grundsätzlich das gesetzliche Erbrecht der Ehegatten oder Partner dahin und damit auch ihr Pflichtteilsschutz (Art. 120 Abs. 2 ZGB; Art. 31 PartG). Sofern kein abweichendes Testament nach der vollzogenen Scheidung bzw. Auflösung vorliegt und der eine der beiden geschiedenen Ehegatten oder Partner verstirbt, nimmt der andere nicht mehr an dessen Nachlass teil und gehört nicht mehr zum Kreis der Erbberechtigten. Pflichtteilsanspruch und gesetzliches Erbrecht enden unter geltendem Recht erst, wenn die Ehegatten rechtskräftig geschieden sind bzw. die eingetragene Partnerschaft aufgelöst ist (Art. 120 Abs. 2 ZGB). Man bezieht sich nicht auf den Zeitpunkt des eingereichten Scheidungsbegehrens oder Begehrens um Auflösung der eingetragenen Partnerschaft. Da ein Scheidungs- oder Auflösungsverfahren je nach Sachlage und Gesinnung der Parteien sehr lange dauern kann, wollte der Gesetzgeber diesem Missbrauchspotenzial Einhalt gebieten.10
Nach neuem Recht verlieren die Ehegatten ihre Pflichtteilsansprüche, nicht jedoch ihr gesetzliches Erbrecht, bereits mit hängigem Scheidungsverfahren auf gemeinsames Begehren oder auf Klage nach zweijährigem Getrenntleben – vorbehältlich einer abweichenden Anordnung (Art. 120 Abs. 3 nZGB; Art. 472 Abs. 1 nZGB).11 Neu wird explizit in Art. 120 Abs. 3 nZGB festgehalten, dass der Erblasser in einem Testament oder einem Erbvertrag abweichende Anordnungen vorsehen kann.12 So kann etwa angeordnet werden, dass die Ehefrau nach der Scheidung ihren Pflichtteil erhalten soll oder dass der Ehemann den gesetzlichen Erbteil auch im Scheidungsfall erhalten soll, ausser wenn er wieder heiratet. Liegt keine letztwillige Verfügung vor, behält der überlebende Ehegatte oder Partner wie bis anhin seinen gesetzlichen Erbteil bis zur Rechtskraft des Scheidungsurteils oder der Auflösung der eingetragenen Partnerschaft (Art. 120 Abs. 3 nZGB; Art. 31 Abs. 1 nPartG). Durch Einreichen des Scheidungs- bzw. Auflösungsbegehrens kann unter neuem Recht somit der Pflichtteil des überlebenden Ehegatten oder Partners einseitig entzogen werden.
Der Zeitpunkt des hängigen Scheidungs- und Auflösungsverfahrens ist ausserdem massgeblich für die Beurteilung der Gültigkeit von Verfügungen von Todes wegen (wie bereits unter geltendem Recht). Sofern diese nach Einreichung des Scheidungs- bzw. Auflösungsbegehrens errichtet wurden, sind sie gültig. Wenn sie vorher errichtet wurden, sind solche letztwilligen Verfügungen nichtig – zumindest in Bezug auf diejenigen Punkte, welche den Ehegatten betreffen (Art. 120 Abs. 3 Ziff. 2 nZGB). Auch die übergesetzlichen Begünstigungen bei der Vorschlagsbeteiligung (Art. 217 Abs. 2 nZGB) und bei der Gesamtgutzuweisung (Art. 241 Abs. 4 nZGB) entfallen bei einem hängigen Scheidungsverfahren von Gesetzes wegen.13
2. Klarstellungen zu offenen Fragen
Neben den Pflichtteilsrechtsanpassungen sieht das neue Erbrecht diverse Klarstellungen von in der Lehre und Praxis umstrittenen Rechtsfragen vor. Nachfolgend wird auf die relevantesten Klarstellungen eingegangen.
Berechnung der Pflichtteile bei einer überhälftigen Vorschlagszuweisung an den überlebenden Ehegatten: Mittels Ehe- oder Vermögensvertrag können die Ehegatten für den Todesfall eines Ehegatten eine überhälftige Vorschlagsbeteiligung bis hin zur gesamten Errungenschaft des anderen («Überlebensklausel») vereinbaren (Art. 216 Abs. 1 ZGB; Art. 25 PartG). In der Lehre war bisher unklar, ob die überhälftige Vorschlagszuweisung an den überlebenden Ehegatten oder Partner durch Ehe- oder Vermögensvertrag als Zuwendung unter Lebenden oder als Zuwendung von Todes wegen zu qualifizieren ist.14 Die Qualifikation ist massgeblich für die Pflichtteilsberechnung sowie die Reihenfolge der Herabsetzung. Im neuen Art. 216 Abs. 2 nZGB wird festgehalten, dass jener Teil, welcher dem anderen Ehegatten durch Vereinbarung überhälftig zugewiesen wird, bei der Berechnung der Pflichtteile der gemeinsamen Nachkommen, Ehegatten oder Partner nicht berücksichtigt wird (Qualifikation als Zuwendung unter Lebenden). Bei der Berechnung der Pflichtteile nicht gemeinsamer Nachkommen wird die Zuweisung hingegen berücksichtigt (Art. 216 Abs. 3 nZGB wie bisher).
Reihenfolge bei der Herabsetzung von Zuwendungen: Gemäss dem heute geltenden Art. 532 ZGB unterliegen in erster Linie die Verfügungen von Todes wegen und dann die Zuwendungen unter Lebenden der Herabsetzung, bis der Pflichtteil hergestellt ist. Der neu formulierte Art. 532 nZGB schafft Klarheit in Bezug auf die Reihenfolge der Herabsetzbarkeit der einzelnen erblasserischen Zuwendungen, die Pflichtteile der pflichtteilsgeschützten Erben verletzen. So unterliegen gemäss Art. 532 Abs. 1 nZGB in erster Linie Erwerbungen infolge gesetzlicher Erfolge (sog. Intestaterbrecht) der Herabsetzung, anschliessend Zuwendungen aus Verfügungen von Todes wegen und, sofern bis dahin die Pflichtteile nicht hergestellt werden können, ausserdem Zuwendungen unter Lebenden. Diese Zuwendungen unter Lebenden werden anschliessend in Art. 532 Abs. 2 nZGB weiter in ihre Herabsetzungsreihenfolge unterteilt. Sodann werden als erste Zuwendungen unter Lebenden diejenigen Zuwendungen aus Ehe- und Vermögensvertrag herabgesetzt, welche der Hinzurechnung nach Art. 208 ZGB unterliegen. Als Zweites sind frei widerrufliche Zuwendungen und Leistungen aus gebundener Selbstvorsorge herabsetzbar, dies in gleichem Verhältnis bei allen durch diese Kategorie der Zuwendungen Begünstigten. Als Letztes erfolgt eine Herabsetzung sämtlicher weiteren Zuwendungen unter Lebenden, wobei – wie bisher – die jüngeren Zuwendungen vor den älteren herabgesetzt werden.
Leistungen aus der gebundenen Selbstvorsorge Säule 3a (Bank- oder Versicherungslösungen), die nicht in den Nachlass fallen: Der Gesetzesentwurf stellt klar, dass Guthaben der gebundenen Selbstvorsorge bei Bankstiftungen (Säule 3a) nicht in den Nachlass fallen (Art. 476 Abs. 2 nZGB). Für die Pflichtteilsberechnung werden die Ansprüche der Begünstigten aus Bankstiftungen aber neu zum Vermögen des Erblassers hinzugerechnet und unterliegen damit auch der Herabsetzung (Art. 476 und 529 nZGB).15 Bei Versicherungslösungen der Säule 3a wird bereits heute der Rückkaufswert zur Pflichtteilsberechnungsmasse hinzugezählt (Art. 476 ZGB).
Mit der Anpassung der erbrechtlichen Bestimmungen geht auch eine systematische Anpassung von Art. 82 BVG einher. Neu wird in Abs. 3 des Art. 82 nBVG festgehalten, dass Anordnungen über die Änderung der Reihenfolge der Begünstigten der gebundenen Selbstvorsorge ab dem Inkrafttreten fortwährend schriftlich zu erfolgen haben. Ferner ist die für aus gebundener Selbstvorsorge Begünstigte und die Erbengemeinschaft relevante Änderung in Art. 82 Abs. 4 nBVG zu erwähnen. So wird festgelegt, dass Begünstigte einen selbständigen und direkten Anspruch auf die Begünstigung aus gebundener Selbstvorsorge haben und diese gegenüber der fraglichen Versicherungseinrichtung oder Bankstiftung durchsetzen können, sodass die fragliche Zuwendung keinesfalls dem Nachlass zurechenbar ist und damit auch nicht der ehegüter- und erbrechtlichen Teilung unterliegen. Betreffend der gebundenen Selbstvorsorge bei Versicherungseinrichtungen besteht dieser Anspruch bereits heute (Art. 78 VVG). Sie wird durch Art. 82 Abs. 4 nZGB auf die gebundene Selbstvorsorge in Bankstiftungen ausgeweitet und im BVG auf Gesetzesstufe geregelt. Somit fallen diese Leistungen beim Tod des Vorsorgenehmers nicht in den Nachlass und unterliegen damit auch nicht der ehegüter- und erbrechtlichen Teilung.
Schenkungsverbot des Erblassers nach Abschluss eines Erbvertrages: In Art. 494 Abs. 2 ZGB ist festgehalten, dass der Erblasser frei über sein Vermögen verfügen kann. Verfügungen von Todes wegen oder Schenkungen, die mit den Verpflichtungen des Erblassers aus dem Erbvertrag nicht vereinbar sind, unterliegen jedoch der Anfechtung (Art. 494 Abs. 3 ZGB). Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 494 Abs. 3 ZGB sind Schenkungen prinzipiell mit dem Erbvertrag vereinbar, soweit dieser nicht – explizit oder implizit – das Gegenteil vorsieht.16 Fehlt eine solche Abrede, kann Art. 494 Abs. 3 ZGB dennoch zur Anwendung gelangen, wenn der Erblasser mit seinen Schenkungen offensichtlich beabsichtigt, seine Verpflichtungen aus dem Erbvertrag auszuhöhlen oder den Erbvertragspartner zu schädigen.17
Gemäss Art. 494 Abs. 3 nZGB unterliegen Verfügungen von Todes wegen und Zuwendungen unter Lebenden, mit Ausnahme der üblichen Gelegenheitsgeschenke, der Anfechtung soweit sie erstens mit den Verpflichtungen aus dem Erbvertrag nicht vereinbar sind, namentlich wenn sie die erbvertraglichen Begünstigungen schmälern und zweitens im Erbvertrag nicht vorbehalten worden sind. Diese Neuformulierung von Art. 494 führt zu einem generellen Schenkungsverbot statt einer generellen Schenkungsfreiheit, wie sie bisher bestand. Möchte also der Erblasser zu Lebzeiten Schenkungen entrichten, die über die üblichen Gelegenheitsgeschenke hinausgehen, hat er im Erbvertrag konsequenterweise einen entsprechenden Vorbehalt anzubringen.
Kein Anspruch des faktischen Lebenspartners auf Unterstützung: Der Unterstützungsanspruch zur Existenzsicherung des überlebenden faktischen Lebenspartners, der im Entwurf des Bundesrats und in der Botschaft über die Teilrevision des Zivilgesetzbuches18 noch vorgesehen war, war nicht mehrheitsfähig und wurde im Zuge der parlamentarischen Beratungen ersatzlos gestrichen. Faktische Lebenspartner oder Stiefkinder können jedoch unter dem neuen Recht zumindest über die angepassten Pflichtteile stärker begünstigt werden als unter geltendem Recht. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Begünstigung faktischer Lebenspartner oder auch Stiefkinder in zahlreichen Kantonen nach wie vor teilweise beträchtliche Erbschaftssteuerfolgen nach sich zieht.19
3. In diesen Fällen ist Handeln angesagt
Das neue Erbrecht sieht kein eigentliches Übergangsrecht vor,20 womit dasjenige Recht massgeblich ist, welches im Zeitpunkt des Todes des Erblassers gilt (Todestagsprinzip, Art. 15 und 16 SchlT ZGB).21 Das bedeutet, dass auf Erbfälle ab dem Stichtag 1. Januar 2023 das neue Erbrecht anwendbar sein wird.
Da das neue Recht auch auf bereits existierende Erbverträge und Testamente anwendbar sein wird, können sich schwierige Auslegungsfragen ergeben. So kann sich beispielsweise die Frage stellen, ob die höheren altrechtlichen Pflichtteilsquoten oder die neuen geringeren oder weggefallenen Pflichtteile gelten. Insbesondere in Fällen, in denen eine Person «auf den Pflichtteil gesetzt wird» ohne eine bestimmte Quote zu bezeichnen, ist der erblasserische Wille mittels Auslegung zu ermitteln. Hat beispielsweise ein Erblasser seine Nachkommen (oder einen Nachkommen) auf den Pflichtteil gesetzt, ohne die genaue Quote festgelegt zu haben, so gilt es im Sinne der Rechtssicherheit klarzustellen, ob sich gemäss Erblasserwille die Quote des Pflichtteils nach altem oder neuem Recht (tiefere Quote) bemisst. Fehlt eine derartige Ergänzung, könnte ein Pflichtteilserbe gestützt auf die Auslegungsregeln argumentieren, dass es dem erblasserischen Willen entsprach, die Pflichtteilsquote nach altem, heute geltendem Recht festzusetzen. Dasselbe gilt, wenn der Erblasser dem Ehegatten die Nutzniessung (Art. 473 ZGB) zugewiesen hat und über die freie Quote (heute ¼ und ab 1. Januar 2023 ½) verfügt hat. Insbesondere für Unternehmer kann es sinnvoll sein, sich die grössere Dispositionsfreiheit unter dem neuen Recht zunutze zu machen und mit Verfügungen von Todes wegen gezielt Anordnungen über die Unternehmensnachfolge zu treffen. Bereits heute muss somit dem neuen Recht Rechnung getragen werden, indem in der Verfügung von Todes wegen sowohl der Erbfall vor als auch nach dem 1. Januar 2023 (Stichtag) geregelt wird. Es sollte klargestellt werden, nach welchem anzuwendenden Recht sich der Pflichtteil bemisst.
Des Weiteren gilt es zu beachten, dass neu für den Erblasser ein Schenkungsverbot bezüglich Zuwendungen zu Lebzeiten statuiert wird, falls diese mit dem Erbvertrag unvereinbar sind. Auch hier gilt es, Klarheit zu schaffen und allenfalls die Erbverträge insofern anzupassen und etwa zu ergänzen, dass dem Erblasser zumindest in einem gewissen Umfang das Recht eingeräumt wird, zu Lebzeiten Zuwendungen auszurichten. Bei der Redaktion von Ehe- und Erbverträgen gilt es sodann genau zu prüfen, inwiefern der Wegfall des Pflichtteilsanspruchs oder Erbteils während des Scheidungsverfahrens berücksichtigt werden soll.
Aufgrund des massgeblichen Todestagsprinzips empfiehlt es sich somit, letztwillige Verfügungen und Eheverträge derart abzufassen, dass sie sowohl im Todesfall vor als auch im Todesfall nach dem Datum des Inkrafttretens der Erbrechtsrevision dem erblasserischen Willen bestmöglich entsprechen und nicht zu Auslegungsproblemen führen.
1 Motion Gutzwiller 10.3524 vom 17.6.2010, www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20103524 (abgerufen 16.11.2021).
2 Medienmitteilung des Bundesrats vom 10.5.2017, www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/aktuell/news/2017/2017-05-10.html.
3 BBl 2018, S. 5829 ff.
4 Erläuternder Bericht zur Änderung des Zivilgesetzbuches (Erbrecht) vom 4.3.2016, S. 1 ff.
5 Das EJPD wurde vom Bundesrat beauftragt, eine Botschaft auszuarbeiten, die bisher noch aussteht. Vgl. Erläuternder Bericht zum Vorentwurf zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (Unternehmensnachfolge) vom 10.4.2019, S. 1 ff.; Vorentwurf zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (Unternehmensnachfolge) vom 10.4.2019.
6 Vgl. Medienmitteilung des Bundesrats vom 13.3.2020, www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medien mitteilungen.msg-id-78427.html.
7 BBl 2018, S. 5829–5837.
8 BBl 2018, S. 5843.
9 BBl 2018, S. 5843 ff.; siehe für eine Beispielrechnung BBl 2018, S. 5844 f.
10 BBl 2018, S. 5838.
11 BBl 2018, S. 5839; BBl 2020, S. 9923.
12 BBl 2018, S. 5878.
13 BBl 2018, S. 5840; BBl 2020, S. 9922.
14 BBl 2018, S. 5846 f.; Heinz Hausheer / Ruth Reusser / Thomas Geiser, N. 34 ff., 50 ff. zu Art. 216 ZGB, in: Berner Kommentar, Arthur Meier-Hayoz (Hrsg.), Bern 1992.
15 BBl 2018, S. 5855 f.
16 BGer 5A_121/2019 vom 25.11.2019, BGE 140 III 193, E. 2; BGE 70 II 255, E. 2.
17 BGer 5C.71/2001 vom 28.09.2001, E. 3b.
18 BBl 2018, S. 5861 ff.; BBl 2018, S. 5907.
19 Vgl. hierzu auch Dorasamy Rébecca / Fracheboud Laetitia, «Veraltetes Familienprinzip im Bereich der Erbschafts- und Schenkungssteuern», in: StR, 76 (2021), S. 222 ff.
20 Vgl. BBl 2018, S. 5870 ff.
21 Peter Breitschmid, N 1 zu Art. 15/16 SchlT ZGB, in: Basler Kommentar Zivilgesetzbuch II, Thomas Geiser / Stephan Wolf (Hrsg.), Basel 2019.