Häufig wird die Unabhängigkeit der russischen Justiz mit dem Verweis auf Statistiken in Frage gestellt. Diese zeigen einen sehr hohen Anteil von Verurteilungen bei Anklagen in Strafsachen. Strafverfahren enden demnach sehr selten mit einem Freispruch. Doch solche Statistiken sind ohne weitere Erhebungen unzuverlässig. Es müsste auch bekannt sein, wie viele Verfahren schon im Stadium der Voruntersuchung eingestellt oder sogar abgebrochen werden, bevor ein Strafverfahren formell eröffnet wird. Um Statistiken vergleichen zu können, müsste man zudem wissen, ob russische Staatsanwälte dazu neigen, vor allem bei klaren Fällen Anklage zu erheben.
Die Frage der Unabhängigkeit der russischen Justiz kann aber nach verschiedenen Kriterien beurteilt werden. Auf statistische Kriterien geht dieser Artikel nur kurz ein, da das öffentlich zugängliche Datenmaterial keine vertiefte Analyse zulässt. Hier soll es in erster Linie um die Beschreibung der institutionellen Rahmenbedingungen für die russische Justiz gehen.
Es ist allgemein bekannt, dass in Russland die Korruption blüht. Damit bestehen mindestens erhebliche Zweifel, ob die Strafverfolgungsbehörden bei der Ermittlung unabhängig sind, sodass tatsächlich ausnahmslos gegen alle Verdächtigen Anklage erhoben wird. Es gibt noch andere Gründe, die offizielle Statistiken unglaubwürdig erscheinen lassen. Die Daten mögen korrekt sein, bilden aber dennoch nicht die Wirklichkeit ab. Ein Beispiel: Man weiss, dass Polizisten versuchen, eine Anzeige abzuwimmeln, wenn die Wahrscheinlichkeit klein ist, den Täter zu finden, oder der Ermittlungsaufwand im Verhältnis zur Schwere des Deliktes gross ist. Der Rückkoppelungsmechanismus ist offensichtlich.
Schiedsklauseln statt russischer Gerichtsstand
Neben Erhebungen für Strafverfahren bestehen Statistiken über Steuerstreitigkeiten zwischen den Steuerbehörden und Unternehmen. Unternehmen haben demnach recht gute Chancen, in einem Streit mit dem Finanzamt vor Gericht zu obsiegen. Und dies sogar dann, wenn man annimmt, dass einige Steuerpflichtige ihren Fall mit einer Schmiergeldzahlung zu ihren Gunsten beeinflussen konnten.
Statistische Kriterien können auf die Wahrnehmung der Bürger abstellen. Auch wenn solche Untersuchungen nur den wahrgenommenen Unabhängigkeitsgrad der Gerichtsbarkeit wiedergeben, so sind sie doch sehr nützlich. Untersuchungen zeigen, dass die Mehrheit der russischen Bürger kein Vertrauen in die russische Justiz hat. Das scheint nicht das Resultat von konkreten Verfahren und Urteilen zu sein, sondern eines tiefen Misstrauens gegenüber staatlichen Organen, das seine Wurzeln noch in der Sowjetunion hat.
Ausserhalb Russlands hat die russische Justiz wegen einiger Verfahren und Urteile – Stichworte: Yukos, Chodorkowski, Pussy Riot und Nawalny –, über die in den Massenmedien ausführlich berichtet worden ist, zweifellos nicht den besten Ruf. Dies ist sicher auch ein Grund, weshalb meine Mandanten vor allem bei Verträgen mit einer politisch schwergewichtigen Gegenpartei versuchen, sich für Streitigkeiten auf ein internationales Schiedsgericht zu einigen.
Voraussetzungen für die Wahl zum Richter
Die Verfassung der russischen Föderation und das Gesetz garantieren die Unabhängigkeit der Richter ausdrücklich. Ein Versuch, ein Verfahren in unzulässiger Weise zu beeinflussen, ist ausdrücklich verboten. Richter dürfen nicht Mitglied einer politischen Partei sein, an politischen Aktionen teilnehmen oder in sonstiger Weise politisch aktiv sein – also gerade das Gegenteil der Schweiz. Sie dürfen sich auch nicht öffentlich über ihre Haltung zu politischen Parteien und gesellschaftlichen Vereinigungen äussern. Als minimale Voraussetzung für das Richteramt verlangt die Verfassung die russische Staatsbürgerschaft, ein Mindestalter von 25 Jahren, eine abgeschlossene universitäre juristische Ausbildung und mindestens fünf Jahre Berufserfahrung als Jurist.
Alle Kandidaten für ein Richteramt müssen eine fachliche Prüfung bei der Prüfungskommission ablegen. Die Kommissionen bestehen aus Richtern und Professoren der rechtswissenschaftlichen Fakultäten. Die Mitglieder der Prüfungskommissionen werden durch Ausschüsse der russischen Richtervereinigung gewählt, der alle russischen Richter angehören. Wird an einem Gericht eine Richterstelle frei, muss sie öffentlich ausgeschrieben werden. Eine Qualifikationskommission – bestehend aus Richtern, Vertretern gesellschaftlicher Vereinigungen und einem Vertreter des Präsidenten Russlands – prüft die Erfüllung der formalen Voraussetzungen der Kandidaten.
Die Richterwahlen an den verschiedenen Gerichten
Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Duma und dem Föderationsrat. Die Duma hat 450 Mitglieder, die für eine Amtszeit von fünf Jahren durch das Volk gewählt werden. Im Föderationsrat hat jedes Mitglied der Föderation zwei Vertreter. Der Präsident Russlands wird in direkter Volkswahl für eine Amtsdauer von sechs Jahren bestimmt. Die Richter des Verfassungsgerichts werden durch die absolute Mehrheit der Mitglieder des Föderationsrates gewählt. Ein Richter des Verfassungsgerichtes kann vorzeitig abgesetzt werden. In der Regel erfordert dies einen Beschluss des Föderationsrates und in einigen kritischen Fällen eine Mehrheit von zwei Dritteln aller Richter des Verfassungsgerichts. Die Richter des Höchsten Gerichts und des Höchsten Handelsgerichts werden vom Föderationsrat auf Vorschlag des Präsidenten Russlands bestimmt. Der Präsident berücksichtigt bei seinem Vorschlag die Meinung des Vorsitzenden der Höchsten Gerichte. Die Richter der anderen Gerichte werden vom Präsidenten Russlands auf Vorschlag der Vorsitzenden der Höchsten Gerichte ernannt. Sie berücksichtigen Kandidaten, die vom Vorsitzenden des entsprechenden Gerichts vorgeschlagen werden. Der Präsident Russlands kann einen Kandidaten auch ablehnen.
Die Vorsitzenden und ihre Stellvertreter des Höchsten Gerichts und des Höchsten Handelsgerichts werden vom Föderationsrat auf Vorschlag des russischen Präsidenten gewählt. Die Amtsdauer beträgt sechs Jahre, wobei maximal zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten zulässig sind. Die Vorsitzenden und ihre Stellvertreter der übrigen Gerichte werden durch den russischen Präsidenten auf Vorschlag des Vorsitzenden des Höchsten Gerichts beziehungsweise des Höchsten Handelsgerichts ernannt. Die Amtsdauer beträgt sechs Jahre. Es sind maximal zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten zulässig. Neben administrativen Aufgaben hat der Vorsitzende beim Bezirksgericht einen gewissen Einfluss auf die Zuteilung eines Falles an einen Richter in seinem Gericht.
Will ein Richter aufsteigen, braucht er kollegiale Hilfe
Grundsätzlich ist die Amtsdauer eines Richters unbefristet. Sie endet jedoch am letzten Tag des Kalendermonats, in welchen der 70. Geburtstag des Richters fällt. Ein Richter kann auch vorzeitig abgesetzt werden, wenn er wegen einer Straftat verurteilt wird oder wenn er in einem Disziplinarverfahren von der Qualifikationskommission abgesetzt wird. Der Entscheid der Qualifikationskommission kann beim zuständigen Gericht angefochten werden.
In der Regel beginnen junge Richter an einem Bezirksgericht oder erstinstanzlichen Handelsgericht, nachdem sie einige Jahre als Hilfskraft eines Richters gearbeitet haben, um die erforderliche Berufserfahrung von fünf Jahren zu sammeln und sich auf die Prüfung bei der Prüfungskommission vorzubereiten. Ein Richter, der keine Ambitionen auf ein Richteramt bei einem höheren Gericht hat, ist sehr unabhängig: Er muss sich nämlich keiner Wiederwahl stellen und kann nur aufgrund einer Verurteilung wegen einer Straftat oder durch ein Disziplinarverfahren abgesetzt werden.
Will ein Richter auf der richterlichen Karriereleiter aufsteigen, muss er sich bemühen, beim zweitinstanzlichen Gericht einen guten Ruf aufzubauen. Eine grosse Rolle spielt dabei die Unterstützung durch ältere Kollegen, da die Vorsitzenden der Höchsten Gerichte und der Staatspräsident unmöglich alle Richter auf dieser Stufe kennen können. Zweifellos besteht ein gewisser Druck, negative Publizität zu vermeiden und bei Fällen, bei denen das Interesse der Massenmedien gross ist, auch seine Karrierechancen im Auge zu behalten. Die Pressefreiheit und die Vielfalt der Massenmedien beeinflussen die Unabhängigkeit der Richter offensichtlich.
Der Einfluss des Staatspräsidenten auf die Judikative ist gross: Während seiner Amtszeit ernennt er nämlich im ganzen Land eine grosse Zahl von Richtern. Aufgrund des beschriebenen formalen (Prüfungskommission, Qualifikationskommission) und tatsächlichen (formelle und informelle Erklärungen) Einflusses haben diese Ernennungen auf die Karriere von Richtern Langzeitwirkungen, insbesondere wenn die gesamte Amtszeit des Präsidenten lang ist. Wer ganz nach oben will, ist offensichtlich auf die Unterstützung des Staatspräsidenten und eine Mehrheit im Föderationsrat angewiesen.
Fallzuteilung bietet wenig Raum für Manipulation
Ein Element zur Sicherung der Unabhängigkeit der Gerichte ist der Mechanismus der Zuteilung eines Falles an einen Richter. Die Gerichte haben unterschiedliche Verfahren zur Zuteilung. Bei den erstinstanzlichen Handelsgerichten werden die Fälle im Rahmen von Spezialisierungen automatisch zugeteilt, was Manipulationen mindestens erschweren sollte. Grösser ist der Einfluss der Vorsitzenden bei den Bezirksgerichten. Beim Höchsten Gericht und beim Höchsten Handelsgericht besteht eigentlich kein Raum für eine Manipulation der Zuteilung der Fälle an einen Richter. Dies wird nachfolgend für das Höchste Gericht beschrieben.
Das Höchste Gericht beurteilt einen Fall, wenn der Entscheid eines zweitinstanzlichen Gerichts mittels Aufsichtsbeschwerde angefochten wird. Zuerst findet eine Vorprüfung durch die Richter des Höchsten Gerichts statt. Der Fall wird nur dann zugelassen, wenn die Richter bei dieser Vorprüfung feststellen, dass er grundsätzliche Fragen aufwirft. Der Vorsitzende und seine Stellvertreter können jedoch auch Fälle zur Prüfung zulassen, die bei der Vorprüfung durchgefallen sind.
Zugelassene Fälle werden vom Präsidium des Höchsten Gerichts beurteilt. Es besteht aus 13 Mitgliedern, die vom Föderationsrat auf Vorschlag des Staatspräsidenten aus der Zahl der Richter des Höchsten Gerichts gewählt werden. Der Vorsitzende und seine Stellvertreter sind automatisch Mitglieder des Präsidiums. Zugelassene Aufsichtsbeschwerden werden durch das Präsidium beurteilt, welches beschlussfähig ist, wenn die Mehrheit der Mitglieder des Präsidiums an der Sitzung teilnimmt. Es besteht also mindestens bei der Prüfung der zugelassenen Aufsichtsbeschwerden kein Spielraum für eine Beeinflussung des Entscheides durch Zuteilung an einen bestimmten Richter.
Handelsgerichte publizieren ihre Urteile
Gerichtsverfahren sind grundsätzlich öffentlich. Insbesondere die Urteile der Handelsgerichte werden in einer kostenlos öffentlich zugänglichen Datenbank publiziert, wobei nur Geschäftsgeheimnisse abgedeckt werden, nicht jedoch Angaben zu den Parteien und ihren Anwälten. Ein russischer Richter bezieht ein deutlich geringeres Gehalt als sein Schweizer Kollege, verdient aber für russische Verhältnisse überdurchschnittlich. Die Finanzierung der Gerichte bestimmt das Staatsbudget, das vom Parlament verabschiedet wird.
Abschliessend kann festgehalten werden, dass die institutionellen Rahmenbedingungen die Unabhängigkeit der russischen Richter grundsätzlich garantieren, wenn auch offensichtlich ist, dass der Präsident der Russischen Föderation direkt und indirekt erheblichen Einfluss auf Ernennung und Karriere eines russischen Richters hat. Zweifellos haben die russischen Richter aber noch ein grosses Potenzial beim Aufbau ihrer Reputation als unabhängige und kompetente Richter.
So sind die russischen Gerichte strukturiert
Russland ist ein föderaler Staat. Er besteht aus 85 territorialen Unterabteilungen. In diese 85 Unterabteilungen eingeschlossen sind die Halbinsel Krim und die Stadt Sewastopol, die aus Sicht Russlands seit dem 18. März 2014 Teile der russischen Föderation sind.
Die russische Gerichtsorganisation sieht grundsätzlich ordentliche Gerichte und Handelsgerichte vor. Moskau zum Beispiel besteht aus 35 Gerichtsbezirken: In jedem wirkt ein Bezirksgericht mit Richtern in zwei Abteilungen: der Zivil und der Strafabteilung. Sie urteilen in der Regel als Einzelrichter. Über den Bezirksgerichten steht das Moskauer Stadtgericht. In den anderen Unterabteilungen der russischen Föderation bestehen ebenfalls Bezirksgerichte und ein übergeordnetes Gericht. Zuoberst befindet sich auf der föderalen Ebene das Höchste Gericht.
Die Bezirksgerichte beurteilen Streitigkeiten unter Bürgern – zum Beispiel Ehescheidungen – oder zwischen Bürgern und dem Staat respektive Unternehmen, zum Beispiel Streitigkeiten zwischen Angestellten und Arbeitgeber oder zwischen Unternehmen und Konsument. Sie urteilen auch in Strafsachen. Kleinere Streitigkeiten – zum Beispiel Fälle mit geringem Streitwert und einvernehmliche Ehescheidungen bei Paaren ohne Kinder werden durch Friedensrichter beurteilt. In Moskau bestehen 438 Friedensgerichte in lokalen Bezirken.
Die Handelsgerichte beurteilen Streitigkeiten zwischen Unternehmen und zwischen Unternehmen und dem Staat. Es gibt deutlich weniger Handelsgerichte als ordentliche Gerichte: In jeder Unterabteilung der Föderation besteht nur ein Handelsgericht. Beim Handelsgericht der Stadt Moskau sind fast 180 Richter tätig. In den ersten vier Monaten des Jahres 2014 wurden bei diesem Gericht 45 000 Klagen eingereicht und rund 43 000 Fälle durch Urteil oder Verfügung abgeschlossen. Gegen Urteile der Handelsgerichte kann beim zuständigen Appellationshof Beschwerde eingereicht werden. Gegen Urteile der Appellationshöfe kann beim zuständigen Kassationshof Beschwerde eingereicht werden. Die Handelsgerichte werden vom Höchsten Handelsgericht beaufsichtigt.
Das Höchste Gericht und das Höchste Handelsgericht sollen noch dieses Jahr zusammengelegt werden. Zudem besteht ein Verfassungsgericht, das die Übereinstimmung von Gesetzen mit der Verfassung überprüft.