Der Politologe Urs Bieri sorgt sich. Er stellt eine Tendenz fest, dass in der Schweiz die Gewaltenteilung immer mehr verletzt wird – «und zwar auf Kosten der Justiz». Bieri ist Mitglied der Geschäftsleitung des Forschungsinstituts GFS Bern. «Ich beobachte einen erhöhten Druck auf die Judikative zu strengeren Entscheiden – und vor allem zu einem erhöhten Strafmass. Strafen sollen wieder Strafen sein und nicht ein Korrektiv.»
Laut Bieri nehmen zunehmend Politiker und auch das Volk Einfluss auf das Strafmass und so direkt auf die Justiz. Er zählt Beispiele auf: Verwahrungsinitiative, Unverjährbarkeitsinitiative. Auch die Haftungsinitiative von Anita Chaaban, für die momentan Unterschriften gesammelt wird, falle in diese Kategorie: «Richter und Gutachter sollen für Fehlentscheide persönlich haften. Diese Initiative wird bereits im Vorfeld Druck auf Richter und Gutachter ausüben, strenger zu urteilen», mutmasst er. «Das Volk will damit nicht nur Gesetzgeber sein, sondern am liebsten auch Richter und Henker.»
Einer, der diesen Trend offensichtlich begrüsst, ist der Ende Jahr abgetretene Bundesrichter Hans Mathys (SVP). Er sagte in einem Interview mit der NZZ am 22. Dezember 2014, die Strafrechtslehre sei lange einseitig gewesen und habe die repressive Seite des Strafrechts ausgeblendet. Heute seien die Richter bei schwerem Unrecht eher bereit, «eine höhere, dem Verschulden entsprechende Strafe zu verhängen». Dies entspreche auch der Einstellung der Bevölkerung: «Die Leute waren schon immer der Meinung, dass das Strafrecht eine gewisse Härte gegenüber dem Täter aufweisen muss», erklärte er.
«Ein Wechel im Demokratieverständnis»
Für Politologe Bieri ist genau dieses Abstellen auf «die Bevölkerung» und «die Leute» das, was die Gewaltenteilung verletzt: «Die Tendenz vor allem aus dem rechtsbürgerlichen Lager, das Volk über alles zu stellen, kollidiert mit dem demokratischen Verständnis von drei gleichberechtigten Staatsgewalten.» Die Beurteilung dieser Entwicklung sei nicht Aufgabe des Politologen, klar sei aber: «Es bedeutet einen Wechsel im Demokratieverständnis.»
Der St. Galler Staatsrechtsprofessor Benjamin Schindler relativiert diese Feststellung etwas: «Die Justiz ist traditionell die schwächste der drei Staatsgewalten.» Sie habe allerdings – gerade im Bereich der Verwaltungsjustiz – in den letzten fünfzig Jahren eine deutliche Stärkung erfahren, insbesondere unter dem Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsweggarantie. Doch gerade die Rechtsweggarantie ist für ihn mit ein Grund, dass die Justiz heute mehr kritisiert und genauer beobachtet wird. Mit der Justizreform von 2007 wurden wegen der Rechtsweggarantie viele Entscheide von der Verwaltung und Exekutive in die Verwaltungsjustiz verschoben. «So fällen heute Verwaltungsgerichte Entscheide, die sehr politisch gefärbt sind, etwa zum Kopftuchverbot oder im Asylbereich.»
Der Gesetzgeber habe der Justiz neue Aufgaben zugewiesen – und kritisiere sie dann, wenn sie die Aufgabe erfülle und Entscheide fälle. Schindler: «Die vermehrte Kritik bei Entscheiden im Bereich des Verwaltungsrechts ist eine Nebenwirkung der Rechtsweggarantie.» So beobachtet der Strafrechtsprofessor mehr Druck auf die Justiz im Asyl- und Ausländerrecht und in Integrationsfragen.
Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser von der Universität Zürich sieht einen weiteren Grund, weshalb die Justiz immer mehr kritisiert wird: Die Öffentlichkeit sei generell kritischer geworden und gewichte zum Beispiel das Öffentlichkeitsprinzip hoch. Alle Staatsgewalten würden genauer beobachtet, nicht nur die Justiz. Doch er geht mit Bieri einig: Das Staatsverständnis wandle sich, heute sei mehr Bürgernähe und Transparenz gefordert. Dass die Justiz aber in der Öffentlichkeit mehr wahrgenommen und mehr kritisiert werde, hänge auch mit der Justiz selber zusammen: «Die Justiz ist selbstbewusster geworden, Richter treten viel mehr in die Öffentlichkeit, Gerichte versenden Pressemitteilungen. Auch die Justiz arbeitet nicht mehr in einem abgeschotteten Raum.»
Vorverurteilungen trotz Unschuldsvermutung
Auch ehemalige Bundesrichter beobachten einen vermehrten Druck auf die Justiz. So spricht zum Beispiel Ex-Bundesrichter Hans Wiprächtiger (SP) von einem «wachsenden Druck durch die Medien, die die Richter vermehrt zu beeinflussen versuchen». Diese Beobachtung teilt sein ehemaliger Kollege Franz Nyffeler (SVP): «In den Medien wird zwar immer erwähnt, dass die Unschuldsvermutung gilt. Trotzdem wird eine Verurteilung von den Medien nicht selten bereits als gerechtfertigt angesehen.» Damit werde dem Gericht auch klar gesagt, wie es urteilen müsse, um gut anzukommen.
Kommen die Parteien dazu. Wiprächtiger hat in seiner langen Richterkarriere vor allem eine Partei beobachtet, die ihre Richter unter Druck gesetzt hat: die SVP. Dies bestätigt Nyffeler: Beim Einbürgerungsfall in Emmen LU habe die SVP ihren Richtern gedroht, sie nicht mehr zur Wiederwahl zu empfehlen, wenn sie nicht im Sinn der Partei entscheiden.
Dies entspricht für den Staatsrechtler Andreas Glaser allerdings einem allgemeinen Trend: Auch bei anderen Staatsgewalten beobachtet er, dass die Parteien immer mehr Einfluss auf ihre Mitglieder nehmen, damit diese der Parteilinie folgen. «Bei Richtern ist es aber problematischer, weil die Parteien damit die richterliche Unabhängigkeit in Frage stellen.» Für ihn wäre eine Nichtnominierung oder gar Abwahl eine Grenzüberschreitung der Gewaltenteilung, ebenso die Annahme der Haftungsinitiative.