Zumindest räumlich hat sich Yves Donzallaz noch nicht ganz in seiner neuen Rolle eingefunden: Wegen einer Verletzung am Arm konnte er das Präsidentenbüro, das ihm seit Anfang Jahr zusteht, noch nicht so einrichten, dass es vorzeigbar ist. Er empfängt deshalb im eleganten Lesesaal des Bundesgerichts, wohin sich das Personal zum Zeitunglesen zurückzieht.
Donzallaz dürfte es verkraften, dass es noch eine Weile dauert, bis er seine Präsidentschaft in jeder Hinsicht aufgeräumt in Angriff nehmen kann. Schliesslich musste er sich in seiner Laufbahn bereits mit weit grösseren Unannehmlichkeiten befassen.
Aufgewachsen ist er mit zwei Geschwistern in Siviriez FR. Der Vater war zuerst Instruktor bei der Armee, später Leiter des kantonalen Zivilschutzes, die Mutter Hausfrau. Yves Donzallaz und sein Bruder waren die ersten Juristen in der Familie. Sein Studium schloss er an der Universität Freiburg ab. Er doktorierte dort später im Bereich Zivilprozessrecht.
Das wissenschaftliche Arbeiten interessierte ihn sehr. Dennoch sei eine akademische Karriere keine Option für ihn gewesen: «Ich konnte mir nicht vorstellen, Studenten in den ersten Semestern auszubilden. Ich sah meine Schwerpunkte in der Forschung und der Publikation.»
Das Anwaltspatent erlangte er im Wallis, dem Herkunftskanton seiner Frau. Donzallaz lebt dort seit Mitte der 80er-Jahre und wirkte in Sitten und Martigny als Anwalt und Notar. Im Jahr 2000 kandidierte er für die SVP als nebenamtlicher Bundesrichter. Über Erfahrungen an Gerichten verfügte er bis dahin mit Ausnahme einiger Praktika nicht. «Manchmal muss man Risiken eingehen», sagt er auf die Frage, ob der Griff nach diesem Amt für ihn nicht etwas ambitioniert gewesen sei.
Der SVP sei er beigetreten, weil eine Parteimitgliedschaft die Voraussetzung gewesen sei, um Richter zu werden. Und in der im Wallis zu dieser Zeit dominierenden CVP seien die wichtigsten Posten bereits verteilt gewesen. Ein ehemaliger Bundesgerichtsschreiber bezeichnet Donzallaz’ SVP-Beitritt als «opportunistisch». Dass Richter aus Karrieregründen einer Partei beitreten, sei zwar üblich. Bei Donzallaz habe die SVP-Mitgliedschaft jedoch nicht gepasst. «Er ist Internationalist, und diese Eigenschaft prägt auch sein Rechtsverständnis.»
Bei den Bundesrichterwahlen im Jahr 2000 konnte Donzallaz im Parlament auf die Unterstützung der SVP zählen. Nachdem statt ihm der Kandidat der Grünen zum nebenamtlichen Bundesrichter gewählt worden war, richtete Christoph Blocher, damals SVP-Nationalrat, geharnischte Worte an die Vereinigte Bundesversammlung.
Im Zentrum von «Walliser Intrigen»
Eineinhalb Jahre später kandidierte Donzallaz erneut – diesmal als ordentlicher Bundesrichter. Seine Kampagne war von Negativschlagzeilen begleitet, die ihren Ursprung meist im Kanton Wallis hatten. «Es hiess, ich sei frauenfeindlich. Und ich wurde sogar als Faschist bezeichnet», erinnert sich Donzallaz, «das war alles sehr aggressiv.» Im Rückblick spricht er von «Valaisanneries», also kantonstypischen Intrigen, gesponnen von den Gegnern seiner Kandidatur. Im Jahr 2008 stellte sich Donzallaz für die SVP erneut zur Wahl als Bundesrichter. Im dritten Anlauf reüssierte er.
In Lausanne gehört Donzallaz seither der Zweiten öffentlich-rechtlichen Abteilung an. Dort stimmte er bei einigen wichtigen Urteilen gegen die Linie seiner Partei – etwa als es um die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative oder die Herausgabe von UBS-Kundendaten an Frankreich ging.
Keine glanzvolle, aber eine historische Wahl
Nun begann die SVP, sich gegen ihn zu wenden. 2020 empfahl die Partei seine Abwahl – vergeblich. Nach einer kurzen Phase des Trotzes trat Donzallaz aus der SVP aus. Im Dezember wurde er von der Bundesversammlung mit 156 von 165 gültigen Stimmen zum neuen Bundesgerichtspräsidenten gewählt. Kein berauschendes Ergebnis, aber ein historisches. Denn Donzallaz ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der erste parteilose Präsident des höchsten Schweizer Gerichts.
Der zuletzt von der Stimmbevölkerung abgelehnten Justizinitiative bescheinigt Donzallaz, «die richtigen Fragen aufgeworfen, aber die falschen Antworten gegeben» zu haben. Das Parlament hält er zwar grundsätzlich für das geeignete Organ für die Bundesrichterwahl. Dieses System trage zur demokratischen Legitimierung der Mitglieder des Bundesgerichts bei.
Doch es gelte, die «Nabelschnur zwischen Richtern und Parteien zu durchtrennen». Das Schweizer System entspreche auch je länger je weniger dem internationalen Standard. Da ist Donzallaz wieder der Internationalist. Er legt Wert darauf, dass dies seine persönliche und nicht die Meinung des Bundesgerichts sei.
Gemäss verschiedener Medienberichte sollen 15 von 38 Bundesrichterinnen und Bundesrichter Donzallaz’ Kandidatur zum Gerichtspräsidenten nicht unterstützt haben. Über die Gründe will Donzallaz nicht spekulieren. Er glaubt nicht, dass eine von ihm verfasste 4000-seitige medizinrechtliche Abhandlung eine Rolle gespielt haben könnte. In einigen Medien war die Frage aufgeworfen worden, ob er darob seine Tätigkeit als Bundesrichter vernachlässigt hatte. Donzallaz dazu: Niemand habe ihm gegenüber jemals diesen Vorwurf erhoben, und er sei sachlich falsch.
«Schnelldenker und guter Rhetoriker»
Ein ehemaliger Gerichtsschreiber sagt indes, Donzallaz sei einer jener Richter gewesen, die man eher selten im Büro angetroffen habe. Auf der anderen Seite sei er ein Schnelldenker und guter Rhetoriker. «Er ist auch zugänglich und interessiert – selbst wenn er im Alltag nicht so wirkt.»
Es ist eine Einschätzung, die Jean-Pierre Torda teilt. Er ist Waffenmeister im Fechtclub Sion, wo Donzallaz trainiert. Den Bundesgerichtspräsidenten bezeichnet er als «sympathisch, offen und sehr kommunikativ». Und er sei ein guter Fechter. Seine Armverletzung habe er sich denn auch nicht im Zweikampf mit dem Florett zugezogen – er sei einfach ausgerutscht.