Das Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen beschäftigt die Politik und die oberste Strafverfolgungsbehörde des Bundes. So befasst sich einerseits die Gerichtskommission der Vereinigten Bundesversammlung mit der Personalie David Wenger. Dem SVP-Richter am Bundesverwaltungsgericht wird vorgeworfen, in einem Asylverfahren eine zugeteilte Richterin durch einen anderen, ihm politisch näher stehenden Richter ausgetauscht zu haben, um so auf ein ihm politisch genehmes Urteil hinzuwirken. Wenger wurde von verschiedenen Medien als «härtester Asylrichter der Schweiz» bezeichnet. Nun droht ihm gar die Amtsenthebung. Er bestreitet die Vorwürfe.
Zudem zeigte der Berner Anwalt Gabriel Püntener laut der «Sonntags-Zeitung» «unbekannte Gerichtspersonen des Bundesverwaltungsgerichts» bei der Bundesanwaltschaft an – «wegen Amtsmissbrauchs, Urkundenfälschung und möglicher weiterer Delikte». Die Beschuldigten sollen die eigentlich automatisierte Richterzuteilung «manipuliert» und Asylanwalt Püntener bewusst und missbräuchlich SVP-Hardliner zugeteilt haben.
Die Vorgänge werfen ein Schlaglicht auf ein Thema, das dem Namen nach technisch klingt, für die Parteien der Verfahren aber von entscheidender Bedeutung ist: Die Zusammensetzung des Spruchkörpers. Dabei geht es um die Frage, wie die urteilenden Gerichte und Kammern zusammengesetzt sind und welche Richter sich mit einem konkreten Fall befassen. «Die Spruchkörperbildung betrifft einen Kern des Rechtsstaates», sagt Andreas Lienhard, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Bern. Konkret meint er damit den Anspruch auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht, der sowohl in der Bundesverfassung als auch in der europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist.
SP-Richter heissen viel mehr Asylbeschwerden gut
Der persönliche Hintergrund, das Wertesystem und die rechtlichen Kenntnisse der an einem Entscheid beteiligten Richter sind unterschiedlich. Für den Ausgang eines Asylverfahrens etwa spielt die Parteizugehörigkeit der Richter eine entscheidende Rolle. Zu diesem Schluss kam der Jurist Gabriel Gertsch in seiner Dissertation von 2021. Er untersuchte die Asylentscheide des Bundesverwaltungsgerichts von 2007, also vor Einführung des vereinfachten Verfahrens. Sein Fazit: Im Vergleich zu SVP- und FDP-Richtern heissen SP-Richter Asylbeschwerden «etwa doppelt so häufig gut».
Für den Ausgang eines Verfahrens kann der Spruchkörper also von entscheidender Bedeutung sein. Und doch gibt es unter den Gerichten unterschiedliche Modelle und unterschiedlich strenge Anforderungen, wenn es um die Zusammensetzung des Richtergremiums geht. Im internationalen Vergleich stehen sich das deutsche und das englische Modell gegenüber. Der Hamburger Professor Thomas Rönnau erklärt in der «Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik» den Unterschied: Die deutschen Gerichte regeln die Verteilung der Fälle des kommenden Geschäftsjahres im Voraus. «Der resultierende Geschäftsverteilungsplan muss den zuständigen Richter für den Einzelfall nach objektiven Kriterien und so genau bestimmen, dass sachfremde Einflüsse nicht zu befürchten sind», so Rönnau. Mit anderen Worten: Wer an einem Gericht für die Fallzuteilung verantwortlich ist, soll möglichst wenig Spielraum haben – und sich stattdessen nach strikten, objektiven Kriterien richten.
Anders das englische Modell: Es kennt keinen Geschäftsverteilungsplan, der vorsitzende Richter kann den jeweiligen Spruchkörper beliebig zusammenstellen. Die Gründe für diese Abweichung vom deutschen Verständnis liegen gemäss Rönnau in einem anderen Richterbild begründet. In England werde dem «judge» von der Öffentlichkeit allgemein ein grosses Vertrauen entgegengebracht, er gilt beinahe als «unfehlbar». Und in England komme dem Richter in einem Verfahren eine eher passive Rolle zu. Er nehme wenig Einfluss auf das Verfahren, das als «Zweikampf» der Parteien angelegt sei, so Rönnau.
Und in der Schweiz? Hier herrscht allgemein wenig Sensibilität im Umgang mit dem Thema. Zu diesem Schluss kommt Arthur Brunner, Lehrbeauftragter an der Universität Zürich. Er hat sich im «Schweizerischen Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht» mit der Spruchkörperbildung in der Schweiz auseinandergesetzt. «An vielen Gerichten hat man sich dazu in den letzten Jahren kaum Gedanken gemacht», konstatiert er. Gerichte verschiedener Instanzen würden die Frage, welche Richter welche Fälle behandeln, sehr unterschiedlich regeln.
Nur vage Vorgaben in Verfassung und Gesetzen
Das liegt gemäss Brunner auch an den wenig bestimmten Vorgaben: In der Bundesverfassung ist das Recht auf einen unabhängigen und unparteiischen Richter (Artikel 30) sowie auf ein faires Verfahren (Artikel 29) verankert. Auf Gesetzesstufe wird es nicht weiter konkretisiert. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts muss die Richterauswahl auf «sachlichen Kriterien» beruhen, die von den Gerichten im Voraus festgelegt werden müssen. Wird der Spruchkörper nachträglich verändert, sind die Hürden höher. Keine klare Linie hat das Bundesgericht gemäss Brunner in der Frage, wo und wie konkret Gerichte die Spruchkörperbildung regeln müssen. «Die Vorschriften dazu sind an vielen Orten rudimentär und die Spruchkörperbildung wird oft vollständig in das Ermessen der Gerichts- oder Abteilungsvorsitzenden gelegt», sagt Brunner.
Dort, wo es Regeln und Kriterien gibt, werden sie längst nicht überall öffentlich bekanntgemacht. Für Brunner unverständlich: «Es gibt keinen Grund für Intransparenz, man muss die internen Regeln publizieren.» Noch wichtiger sei die Herstellung von Transparenz, wenn ein Richtergremium nachträglich abgeändert wird: «Selbst wenn dies nicht aus manipulativen Gründen geschieht: Man muss den Parteien die Gewissheit vermitteln, dass es gar nicht erst zu Manipulationen kommen kann.»
In St. Gallen wird oft in den “Bandlimat” eingegriffen
Am Bundesverwaltungsgericht soll ein Algorithmus die Neutralität der Richterauswahl sicherstellen und Manipulationen verhindern. Seit der Gründung wird dort der sogenannte «Bandlimat» für die Fallzuteilung eingesetzt – eine Software, die nach dem ersten Gerichtspräsidenten Christoph Bandli benannt ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit diesem Programm eine Pionierstellung, kein anderes Schweizer Gericht kann sich auf einen derart ausgeklügelten Automatismus stützen. Problembehaftet ist der Umgang mit der Spruchkörperbildung am Bundesverwaltungsgericht trotzdem.
Der Berner Professor Andreas Lienhard hat gemeinsam mit seiner Zürcher Kollegin Regina Kiener und den Berner Ökonomen Konstantin Büchel und Marcus Roller 47 291 Urteile des Bundesverwaltungsgerichts der Jahre 2008 bis 2018 analysiert. Die Erkenntnisse veröffentlichten sie letztes Jahr in der «Richterzeitung». Die Autoren halten fest: In 45 Prozent der Fälle wurden die zuständigen Richter «manuell» ausgewählt, der Bandlimat also übersteuert. Und in 39 Prozent kam es gar zu heiklen nachträglichen Abänderungen der Spruchkörper – wobei es oft an Begründungen dafür fehlte. Besonders problematisch: Der Bandlimat wurde in zahlreichen Fällen offenbar nicht nur von den Abteilungspräsidenten, sondern auch von weiteren Richtern, Gerichtsschreibern und manchmal gar dem Gerichtspersonal bedient.
«Vor allem der hohe Anteil an manuellen Spruchkörperbesetzungen hat uns erstaunt», sagt Mitautor Lienhard. Zwar gebe es in manchen Fällen gute Gründe, den Algorithmus zu übersteuern – zum Beispiel krankheitsbedingte Absenzen bestimmter Richter oder sprachliche Gründe. «Dass die automatische Fallzuteilung gleich in 45 Prozent der Fälle übersteuert wird, hätte ich nicht erwartet.» An Manipulationen glaubt Lienhard nicht. Problematisch seien die Änderungen trotzdem. Eben weil sie oft weder begründet noch dokumentiert und somit kaum überprüfbar seien. «Und weil der Anschein einer grundsätzlich automatisierten Spruchkörperbesetzung nicht der Praxis entspricht.»
Auch Arthur Brunner geht nicht davon aus, dass am Bundesverwaltungsgericht die Spruchkörper manipuliert würden. «Es fehlt wohl einfach an der Sensibilität für das Thema», sagt er. Ein Stück weit stehe das Bundesverwaltungsgericht allerdings zu Unrecht in der Schusslinie: Einerseits habe es für die Studie die Daten zur Verfügung gestellt und so Transparenz geschaffen. Andererseits betont Brunner übereinstimmend mit Lienhard, dass eine automatische Fallzuteilungssoftware an sich eine gute Sache sei. Am Bundesverwaltungsgericht sei vor allem der Umgang damit verbesserungsfähig.
Die grosse Macht des Präsidenten
Eine Vorbildrolle müsste als höchstes Gericht der Schweiz eigentlich das Bundesgericht einnehmen. Auch dort wird seit 2013 von allen Abteilungen mit dem EDV-System «Comp Cour» eine automatische Hilfe bei der Fallzuteilung verwendet. Sie soll gemäss Bundesgericht «zur optimalen Wahrung von Transparenz und Kontrolle bei der Bildung des Spruchkörpers beitragen». Als Kriterien, die bei «Comp Cour» eingespeist werden, sind im öffentlich publizierten Reglement unter anderem die Sprache, besondere Fachkenntnisse einzelner Richter und Abwesenheiten hinterlegt. Auch der Belastung der Richter wird Rechnung getragen, zudem kann in «Comp Cour» das Geschlecht als Kriterium angegeben werden. Jeder manuelle Eingriff ins System muss mit einem Kommentar begründet werden.
Die Sache hat allerdings einen Haken: Am Bundesgericht wird die Mehrheit der Entscheide in Dreierbesetzung gefällt, wenn man von einzelrichterlichen Verfahren absieht. Und bei der Bestellung des Dreiergremiums hat der Abteilungspräsident eine sehr starke Stellung: Er kann sich Fälle selbst oder einem ihm genehmen Kollegen zuteilen und auch den Referenten als zweiten Richter bestimmen – also zwei von drei Richtern. Lediglich bei der Bestimmung des dritten Spruchkörper-Mitglieds kommt «Comp Cour» zur Anwendung.
Die Machtfülle der Abteilungspräsidenten irritiert im Parlament die Geschäftsprüfungskommissionen (GPK) beider Kammern. Sie haben sich mit der Geschäftslastverteilung an den eidgenössischen Gerichten befasst und im Sommer 2021 einen Bericht dazu vorgelegt. Darin heisst es: «Die Praxis des Bundesgerichts gibt den Abteilungspräsidenten eine bevorzugte Stellung, die sich so nicht aus dem Gesetz ergibt.» Die GPK schlagen dem Bundesgericht vor, diese Praxis zu überdenken und auch weitere Richter in einem Dreiergremium durch das Informatikprogramm bestimmen zu lassen. Das Bundesgericht hat zu dieser Empfehlung bereits Stellung genommen. Der Inhalt der Stellungnahme ist nicht bekannt.
Ruf nach “gerichtlicher Revisionsstelle”
Dass sich das Bundesgericht in Sachen Richterzuteilung Fragen gefallen lassen muss, hat es nicht davon abgehalten, einige Gerichte unterer Instanzen im Umgang mit dem Thema zu massregeln: So rügte die strafrechtliche Abteilung in einem Urteil von 2018 das Berner Obergericht. Grund: Dessen Regelung der Spruchkörperbildung beruhe nicht auf «im Voraus definierten, abstrakten, transparenten und nachprüfbaren Kriterien».
Das Berner Gericht hat deshalb kurz darauf sein Organisationsreglement um einen neuen Artikel ergänzt. Ihm zufolge werden eingehende Fälle «schematisch», das heisst nach den immer gleichen Regeln, vom Abteilungspräsidium auf die Richter verteilt. Dies erfolgt manuell mittels Excel-Listen. Weiter sind die Kriterien aufgeführt, die bei der Spruchkörperbildung berücksichtigt werden müssen. Sie sind ähnlich wie am Bundesgericht: Die ausgewogene Belastung der Richter gehört dazu, ebenso die Sprache, das Geschlecht, Abwesenheiten und spezifische Fachkenntnisse. Trägt die schematische Zuteilung diesen Kriterien nicht Rechnung, muss das Abteilungspräsidium die Zusammensetzung eines Richtergremiums ändern.
Am Bezirksgericht Zürich, dem grössten erstinstanzlichen Gericht der Schweiz, sind die Grundzüge der Fallzuteilung in der öffentlich einsehbaren Geschäftsordnung und im Reglement über die interne Geschäftsverteilung geregelt. Die Kriterien sind, anders als beim Bundesgericht oder dem Berner Obergericht, in keinem öffentlichen Erlass festgehalten. Und elektronische Automatismen, die bei der Spruchkörperbildung helfen, gibt es nicht. Professor Andreas Lienhard findet, dass sämtliche Regelungen der Spruchkörperbildung im Sinne der Transparenz öffentlich zu machen seien. Und an grösseren Gerichten – wie beispielsweise dem Bezirksgericht Zürich – sei ein automatisches Fallzuteilungssystem sinnvoll.
Zudem hält Lienhard fest: «Es braucht gerichtsinterne Aufsichtsmechanismen, welche die Spruchkörperbildung überwachen. Eine Art gerichtsinterne Revisionsstelle.» Es dürfe nicht sein, dass sich primär die Wissenschaft in Studien mit diesem rechtsstaatlich heiklen Thema auseinandersetzt. Oder die Politik erst dann, wenn einem Richter wegen mutmasslicher Manipulationen die Amtsenthebung droht.
Parteizugehörigkeit: Kein zwingendes Kriterium
Einige Schweizer Gerichte, darunter das Bundesgericht, haben die Kriterien für die Fallzuteilung in öffentlich publizierten Reglementen festgehalten. In den Katalogen taucht dabei ein Kriterium nie auf: Die Parteizugehörigkeit, die für Richter in der Regel Wahlvoraussetzung ist und die jüngst auch im Zusammenhang mit der Justizinitiative kontrovers diskutiert wurde. Auf die Frage, weshalb die Parteizugehörigkeit für das Bundesgericht kein Kriterium für die Spruchkörperbildung sei, heisst es von Seiten des höchsten Schweizer Gerichts: «Die parteipolitische Zusammensetzung wird nicht bei der Bestellung des Spruchkörpers beachtet, sehr wohl aber bei der Zusammensetzung der Abteilung.» Über die Zuteilung der Gerichtsmitglieder auf die Abteilungen entscheidet das Richterplenum. Dabei werde das «ungeschriebene Kriterium» beachtet, dass sich in einer Abteilung keine Mehrheit von Gerichtsmitgliedern bilden soll, die derselben politischen Partei angehören.