plädoyer: Das Rote Kreuz sollte die Einhaltung der Genfer Konventionen überwachen. Ist das in einer Welt mit immer mehr nichtstaatlichen Konfliktparteien noch möglich?
Jürg Eglin: Die Konfliktarten ändern sich laufend. Unsere Aufgabe ist es, die Genfer Konventionen in der Welt bekannt zu machen und zu ihrer Weiterentwicklung beizutragen, damit die Kriegsparteien wissen, welche Prinzipien sie in einem Krieg befolgen müssen. In Bezug auf das Geschehen in den Konfliktgebieten ist der Bedarf an humanitärer Hilfe riesig. Die Bedürfnisse nehmen von Jahr zu Jahr Dimensionen an, die den bisherigen Rahmen sprengen. Das operationelle IKRK-Budget für das Jahr 2015 beträgt knapp 1,4 Milliarden Franken, dazu kommen im Laufe des Jahres mehrere zusätzliche Spendenaufrufe von über 200 Millionen. Das sind etwa 25 Prozent mehr als 2014.
Sind Konfliktparteien wie die Taliban, Boko Haram oder der IS bereit, mit dem IKRK zusammenzuarbeiten?
Die Zusammenarbeit beschränkt sich in den meisten Fällen auf einen minimalen Dialog. Nichtstaatliche bewaffnete Gruppierungen sind nichts Neues: Schon während des Kalten Kriegs kannte man solche Gruppierungen in vielen Krisengebieten der Welt. Sie agieren mit unterschiedlichen Motivationen und Mitteln, die Tendenzen gehen von politisch motivierten Aufständen zu ideologischen Auseinandersetzungen bis hin zu rein kriminellen Banden. Einige sind gut organisiert, andere weniger. Unser Ziel ist es, mit ihnen einen Dialog zu führen. Dabei geht es zuerst um Zugang zu Gebieten, die von diesen Gruppen kontrolliert werden; auch unsere eigene Sicherheit und Akzeptanz ist jeweils ein zentrales Thema.
Wie geht das IKRK konkret vor, um seinen völkerrechtlichen Auftrag zu erfüllen?
Eine grosse Herausforderung ist es zunächst, das oft komplexe Umfeld eines bewaffneten Konflikts zu verstehen. Dann geht es darum, von den Beteiligten akzeptiert zu werden, vor allem von den Hauptakteuren: den Regierungen und den nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen. Unser Ziel ist es, an die Beteiligten heranzukommen, um Zugang zu Menschen und Gebieten zu erhalten. Als Erstes müssen wir das IKRK bekannt machen, damit diese Gruppen verstehen, worin unsere Aufgabe besteht und nach welchen Prinzipien wir arbeiten. Besteht einmal ein gewisses Vertrauen, versuchen wir in einem zweiten Schritt über Völkerrecht und Kriegführung zu reden. Diese Verhandlungen umfassen oft Diskussionen über Nothilfe und wie sie am besten geleistet wird.
Wie weit ist die Realität von diesem Idealfall entfernt?
Die grosse Herausforderung in unserem Metier ist es, Kontakte herzustellen, wo es fast unmöglich erscheint. Wir versuchen, ein Netzwerk mit Kontaktpersonen aufzubauen – zum Teil auch schon präventiv. Kommt es zu einem Konflikt, ist das IKRK bereits bekannt und hat nützliche Kontakte. Mit komplexen und ideologisierten Gruppierungen wie etwa mit den Taliban oder dem Islamischen Staat sind Kontakte sehr schwierig.
Kann das IKRK auf die Hilfe von Regierungen zurückgreifen, um Kontakte mit Konfliktparteien herzustellen?
Ja, wir nennen das «humanitarian diplomacy»: Beziehungen auf Regierungsstufe mit den verschiedenen Ländern aufbauen. In Südafrika, wo ich arbeite, gibt es keinen Krieg. Das IKRK führt da nur wenige Schutz- und Hilfsaktionen durch. Meine Aufgabe ist es, mit der südafrikanischen Regierung eine positive Beziehung aufzubauen, damit sie dem IKRK in konfliktträchtigen Ländern – etwa Zentralafrika, wo Südafrika Einfluss hat – politische Unterstützung gibt. So versuchen wir, Zugang zu Ländern und Kriegsgebieten zu bekommen, wo unsere Partner Einfluss haben. Im Sudan oder in Äthiopien zum Beispiel sind die jeweiligen Regierungen gegenüber internationalen Organisationen wie dem IKRK oft kritisch. Mit der Unterstützung einflussreicher Partner erhöht sich die Akzeptanz.
Wie stellen Sie den Zugang zu Rebellengruppen her?
Wir arbeiten mit Personen aus dem näheren und weiteren Umkreis solcher Gruppen zusammen, aber auch mit einflussreichen Personen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur oder Religion, die uns helfen können. In islamischen Ländern ist es wichtig, dass wir nicht als christliche Organisation wahrgenommen werden. Unser Emblem mit dem roten Kreuz ist da nicht immer hilfreich, es wird immer wieder missverstanden. Viele nehmen uns als westliche und christliche Organisation wahr. Wir insistieren dann auf unseren Prinzipien der Neutralität und Unabhängigkeit.
Hat das IKRK auch bei den Taliban und dem IS Erfolge?
Wir haben Kontakt mit den Taliban, wir reden mit ihnen und konnten Gefangene besuchen. Das ist eine unserer Erfolgsstorys in Afghanistan. Mit dem IS stehen wir am Anfang von solchen Bemühungen und machen nur sehr kleine Fortschritte, in Syrien und im Irak können wir aber humanitäre Hilfe über die Frontlinien hinaus leisten.
Und in Guantánamo?
Auch in Guantánamo hat das IKRK regelmässig Zugang zu den Gefangenen. Unser Erfolg liegt darin, dass wir selber die Gefängnisse besuchen, mit den Leuten vor Ort reden und dann unsere kritischen Punkte direkt mit den zuständigen Behörden vorbringen. Diese Abläufe sind strikt intern und gehen nicht an die Öffentlichkeit. Bei anderen Staaten verhandeln wir manchmal jahrelang, bis wir Zugang bekommen, unser Fokus liegt meist auf zwei Themen: Gefängnisbesuche und Hilfeleistung an die leidende Bevölkerung.
Wie formell sind Vereinbarungen mit Kriegsparteien?
Es gibt eine ganze Palette schriftlicher Abkommen. Die Genfer Konventionen, die Zusatzprotokolle und mehrere neuere Abkommen sind das übergreifende Dokument bei Vereinbarungen mit den meisten Staaten. Mit über 80 Ländern existieren formelle Abkommen, in den meisten Fällen gewährt man dem IKRK diplomatischen Status.
Gibt es schriftliche Abkommen mit Rebellengruppen?
Nein, praktisch keine. Da sind die Beziehungen informeller. Staaten haben kein Interesse, dass wir mit Rebellen formelle Beziehungen aufnehmen. Kontakte, Verhandlungen und ein offizielles Abkommen gäben diesen Gruppen in den Augen der Regierungen mehr Legitimität, was natürlich oft nicht erwünscht ist. In einem solchen Rahmen sind Verhandlungen oft delikat, wir müssen transparent vorgehen, um Vertrauen zu schaffen Wir verhandeln wohl bilateral, machen aber kein Geheimnis aus diesen Kontakten.
Akzeptieren das alle Regierungen?
Leider bei weitem nicht. Die äthiopische Regierung und etliche andere akzeptieren kaum, dass wir in Gebiete gehen, die von Rebellengruppen kontrolliert werden. Ohne Konsens mit den Regierungen können wir nicht arbeiten. Oft sind wir mit einem Dilemma konfrontiert, zum Beispiel in Syrien oder in der Ukraine. Dort könnten wir theoretisch Gebiete einfacher und direkter von Nachbarstaaten aus über die internationale Grenze erreichen. Im Falle der Ostukraine müsste man sich mit Russland und den Rebellen einigen. Das IKRK lehnt ein solches Cross-border-Vorgehen ab, da es die restlichen Aktivitäten in einem Land gefährden würde – keine Regierung würde es schätzen, wenn das IKRK ohne ihre Zustimmung in Teilen des Landes aktiv wäre. Wir ziehen es vor, unseren Zugang über die Frontlinien hinweg zu verhandeln (cross-line). Das ist zwar oft langwieriger, aber in unseren Augen der einzig richtige Weg.
Hatte das IKRK Mühe, in der Ostukraine zu wirken?
Am Anfang war das so. Die Rebellen nahmen das IKRK als Westler und Spione wahr – ganz nach der Mentalität des Kalten Krieges. Aber das IKRK brachte Lastwagen mit Hilfsgütern, leistete medizinische Hilfe, besuchte die Gefängnisse. Wir konnten den Menschen vor Ort sichtbar helfen. So entwickelte sich eine neue Dynamik. Die Rebellengruppen gaben uns mehr Freiraum, der Zugang wurde leichter. Auch die Position der Regierung hat sich verbessert. Nach ein paar Startschwierigkeiten – man darf nicht vergessen, dass der Konflikt erst seit etwa einem Jahr besteht – ist unsere Akzeptanz sehr gut. Die beschwerliche Bürokratie und die undurchsichtigen Strukturen verlangsamen allerdings unsere Hilfsleistungen häufig.
Wie gelingt der Zugang zu Kriegsgefangenen?
Die Unterschiede zwischen Gefangenen von Rebellen und Gefangenen von Regierungstruppen sind markant. Nur wenige nichtstaatliche Gruppen haben Gefangene über längere Zeit und in einem strukturierten Rahmen. In einem Staat hingegen gibt es Strukturen wie Ministerien, Polizei, Justiz, Gefängnisse. Wir haben zwar nicht immer und überall Zugang, wissen aber ungefähr, was für Leute wo eingesperrt sind. Viele Regierungen sagen, es seien keine Kriegsgefangenen, sondern Kriminelle oder Terroristen. Es ist aber nicht unsere Aufgabe, über Bezeichnung und Status von Gefangenen zu urteilen. Wir bieten einen Dienst an, um Haftbedingungen zu überwachen, die Gefangenen zu besuchen, Empfehlungen zu machen und so eventuell ihre Bedingungen zu verbessern.
Sie waren in der Ukraine im Einsatz. Ihre Erfahrungen?
In der Ukraine stiessen wir auf starke und komplizierte Regierungsstrukturen. Das Land funktioniert. Wir können in allen Landesteilen substanzielle Hilfe leisten und besuchen regelmässig Gefangene. Aktuell verhandeln wir über ein schriftliches Abkommen für Besuche. Der Dialog mit den Rebellen ist oft schwierig. Da wir unsere Aktivitäten für das ganze Land von unserem Hauptbüro in Kiew aus koordinieren, bestehen Zweifel an unserer Unabhängigkeit. Umgekehrt müssen wir in Kiew immer wieder erklären, dass unsere Arbeit in den Rebellengebieten rein humanitär ist und nicht zur Unterstützung der Rebellen dient. Hilfeleistungen sind in Rebellengebieten einfacher, da es weniger Bürokratie gibt.
Bietet das IKRK im Palästina-Konflikt seine Dienste für Gefangenenaustäusche an?
Da sind wir häufig involviert. Aber wir verhandeln nicht direkt, das ist sehr wichtig. Wir bereiten den Gefangenenaustausch vor, erst wenn beide Parteien mit unseren Bedingungen einverstanden sind, sind wir dabei. In Israel und Palästina sind wir seit Jahrzehnten tätig. Man kennt und respektiert unsere Arbeit, wir haben Zugang zu Menschen in Not und können gewisse Probleme thematisieren, obwohl Meinungsverschiedenheiten in der Interpretation von Teilen des humanitären Völkerrechtes bestehen.
Reden die Regierungen beim IKRK mit?
Nicht direkt, das IKRK wird von einem rein schweizerischen, unabhängigen Komitee geleitet. Regierungen können indirekt Einfluss nehmen im Rahmen der Internationalen Konferenz der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung, die alle vier Jahre stattfindet.
Wie bewahrt das IKRK seine Unabhängigkeit gegenüber den Geldgebern?
Das IKRK trennt die Finanzierung klar von den Operationen. Als Delegationsleiter irgendwo auf der Welt muss ich mich nicht direkt um die Finanzierung kümmern, das regelt der Hauptsitz in Genf. Die Finanzplanung des IKRK reicht über ein Jahr hinaus, die meisten Beiträge sind wenig zweckgebunden, was uns Flexibilität und Unabhängigkeit verschafft. Die grossen Geldgeber sind westliche Staaten, etwa 95 Prozent der Finanzbedürfnisse werden von Regierungen und der Europäischen Kommission gedeckt. Der Rest kommt von nationalen Rotkreuzgesellschaften und privaten Spenden.
Gibt es Druck von den grössten Geldgebern, also Regierungen?
Die USA finanzieren fast einen Viertel unseres Budgets, trotzdem arbeiten wir mit den Amerikanern beispielsweise in Guantánamo, Irak oder Afghanistan operationell. Wir stehen mit ihnen auch in einem thematischen Dialog über Kriegführung. Das alles läuft auf einer Ebene, die klar von der Finanzierung abgekoppelt ist. Einige westliche Länder – wie etwa die Schweiz oder Grossbritannien – haben eine Finanzierungspolitik, die uns sehr entgegenkommt, weil sie an sehr wenige Bedingungen gekoppelt ist. Grundsätzlich akzeptieren wir Gelder von einem Staat nur mit Zweckbestimmung für ein Land oder eine Region, nicht aber für spezifische Projekte oder Bevölkerungsgruppen.
Kann das IKRK Druck auf einen Staat machen, wenn es auf katastrophale Zustände in Gefängnissen stösst?
Das IKRK kennt verschiedene Stufen von Interventionen: Erster Schritt ist der Zugang. Im zweiten Schritt versuchen wir, Verbesserungen über Dialoge herbeizuführen. Wenn die Mittel zur Verbesserung fehlen – etwa in unterentwickelten Ländern – schickt das IKRK die nötigen Experten. Stossen wir auf gravierende Verhältnisse und können keine Veränderungen herbeiführen, mobilisieren wir Partner wie Diplomaten und Politiker, die Druck von aussen auf ein Land oder eine Gruppe ausüben. In extremen Fällen könnten wir an die Öffentlichkeit gehen und Zustände denunzieren. Das kommt praktisch aber nie vor, da ein solches Vorgehen unsere Arbeitsbeziehung mit Behörden und dadurch den Zugang zu Leuten gefährdet, die uns brauchen.
14 000 Leute im Dienst des IKRK
Das IKRK beschreibt seine Aufgabe so: «Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) ist eine unparteiische, neutrale und unabhängige Organisation. Es ist mit der ausschliesslich humanitären Mission betraut, das Leben und die Würde der Opfer von bewaffneten Konflikten und anderen Gewaltsituationen zu schützen und ihnen Hilfe zu bringen. Durch die Förderung und Stärkung des humanitären Völkerrechts und der universellen humanitären Grundsätze bemüht sich das IKRK ferner, Leiden zu verhindern».
Das 1863 gegründete IKRK steht am Anfang der Genfer Konventionen und der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung. In bewaffneten Konflikten und anderen Gewaltsituationen leitet und koordiniert es die internationalen Tätigkeiten der Bewegung.»
Das IKRK beschäftigt weltweit etwa 14 000 Personen, davon knapp 1000 in Genf.
Die grössten Budgets fliessen in diesem Jahr in folgende Krisenherde: Syrien 164 Millionen Franken; Südsudan 131; Afghanistan 80; Irak 78; Somalia 74; Demokratische Republik Kongo 63; Israel/besetzte Gebiete 51; Mali 48; Zentralafrikanische Republik 47; Ukraine 47; Libanon 45 und Kolumbien 33.
Jürg Eglin, 52, ist seit 1991 beim IKRK tätig. Gegenwärtig ist er verantwortlich für das IKRK-Regionalbüro in Südafrika, wo es vor allem um humanitäre Diplomatie geht. Sein letzter Einsatz in einem akuten Krisengebiet war kürzlich in der Ukraine. Davor arbeitete er während mehreren Jahren in verschiedenen Ländern Afrikas in leitenden Funktionen für das IKRK