1. Einleitung
Die Grundnorm der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit bildet der unveränderte Artikel 754 Absatz 1 OR: «Die Mitglieder des Verwaltungsrats und alle mit der Geschäftsführung oder mit der Liquidation befassten Personen sind sowohl der Gesellschaft als den einzelnen Aktionären und Gesellschaftsgläubigern für den Schaden verantwortlich, den sie durch absichtliche oder fahrlässige Verletzung ihrer Pflichten verursachen.»
Die revidierten gesellschaftsrechtlichen Sanierungsbestimmungen auferlegen den Mitgliedern des Verwaltungsrats Handlungspflichten bei den nachfolgend behandelten drei Szenarien: erstens drohender Zahlungsunfähigkeit (Artikel 725 OR), zweitens Kapitalverlust (Artikel 725a OR) und drittens Überschuldung (Artikel 725b OR).
1.1 Sicherstellung der Zahlungsunfähigkeit
Die Überwachung der Zahlungsfähigkeit stellt eine Daueraufgabe des Verwaltungsrats dar und bildete bereits bisher einen Teilaspekt der Pflicht zur Finanzplanung gemäss Artikel 716a Absatz 1 Ziffer 3 OR.2
Die bisherigen, in erster Linie am Kapitalschutz ausgerichteten Handlungspflichten setzten häufig zu spät ein. Auslöser einer Überschuldung sind meistens Ertragsprobleme, und die Überwachung der Zahlungsfähigkeit gilt als besserer Krisenindikator zur Erkennung finanzieller Schwierigkeiten des Unternehmens. Der Verwaltungsrat war nach der Praxis bereits bisher verpflichtet, bei der Beurteilung, ob eine «begründete Besorgnis einer Überschuldung» nach Artikel 725 Absatz 2 des bisherigen OR bestand, Zeichen einer drohenden Zahlungsunfähigkeit, wie das Auftreten wiederholter Verluste, zu beachten.3
Das Gesetz enthält keine Legaldefinition des Begriffs der «drohenden Zahlungsunfähigkeit». Gemäss Bundesgericht liegt drohende Zahlungsunfähigkeit vor, wenn die Gesellschaft «weder über die Mittel verfügt, fällige Verbindlichkeiten zu erfüllen, noch über den erforderlichen Kredit, sich diese Mittel nötigenfalls zu beschaffen».4 Demgegenüber bedeuten bloss vorübergehende Zahlungsschwierigkeiten noch keine Zahlungsunfähigkeit im Sinne der Bestimmung.5
Die Mittel zur Analyse der Zahlungsfähigkeit und Überprüfung der Liquiditätslage sind dem Verwaltungsrat überlassen. Typischerweise hat er einen Liquiditätsplan zu erstellen.6
Das Gesetz sagt nicht, von welchem Zeitraum der Verwaltungsrat bei der Beurteilung der drohenden Zahlungsunfähigkeit auszugehen hat. Der Entwurf sah bei Gesellschaften mit eingeschränkter Revision oder solcher ohne Revisionsstelle einen Prognosezeitraum von sechs Monaten und bei Gesellschaften, die zu einer ordentlichen Revision verpflichtet sind, einen Zeitraum von zwölf Monaten vor.7 Die herrschende Lehre erachtet einen Zeitraum von zwölf Monaten als massgebend.8
Der Liquiditätsplan bildet eine rollende Planung. Je länger der Prognosezeitraum ist, desto unsicherer wird die Prognose, wobei die Unsicherheit bei einem Planungshorizont von mehr als drei Monaten graduell zunimmt.9
Bei drohender Zahlungsunfähigkeit hat der Verwaltungsrat zwei Pflichten: Erstens ergreift er «Massnahmen zur Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit» (Artikel 725 Absatz 2 Satz 1 OR), etwa durch den Abschluss eines Stillhalteabkommens mit Gläubigern, der Veräusserung von Aktiven oder der Reduktion von Ausgaben. Falls Aktiven verpfändet sind, was häufig der Fall sein wird, verschafft deren Verkauf aber keine freie Liquidität.
Zweitens und parallel zur Sicherstellung der Zahlungsfähigkeit trifft der Verwaltungsrat, «soweit erforderlich, weitere Massnahmen zur Sanierung der Gesellschaft oder beantragt der Generalversammlung solche, soweit sie in deren Zuständigkeit fallen» (Artikel 725 Absatz 2 Satz 2 OR).
Erwirtschaftet das Unternehmen Verluste, führt eine Erhöhung der Liquidität allein nicht zur Sanierung. Die Erhöhung der Liquidität dient daher in erster Linie der Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit während der Planung und Umsetzung der Sanierung. Zusätzlich zur Sicherstellung der Liquidität hat der Verwaltungsrat betriebliche und organisatorische Massnahmen zur Wiederherstellung der operativen Ertragskraft zu treffen.10 Die Einleitung und Umsetzung solcher Massnahmen braucht Zeit und der Verwaltungsrat sollte als Alternative auch einen Verkauf der Gesellschaft prüfen.
Kann infolge der drohenden Zahlungsunfähigkeit die teilweise oder ganze Einstellung der Geschäftstätigkeit nicht abgewendet werden, ist die Rechnungslegung auf Veräusserungswerte umzustellen. Weil die Umstellung auf Veräusserungswerte meist zu einem tieferen Eigenkapital führt, kann in einem solchen Szenario die drohende Zahlungsunfähigkeit zu einer begründeten Besorgnis einer Überschuldung führen. In diesem Fall muss der Verwaltungsrat Massnahmen nach Artikel 725b OR ergreifen und die erforderlichen Zwischenabschlüsse erstellen.11
Der Verwaltungsrat muss sich auch überlegen, «nötigenfalls ein Gesuch um Nachlassstundung» einzureichen (Artikel 725 Absatz 1 Satz 3 OR). Die Einreichung eines Gesuchs um Nachlassstundung ist eine Handlungsmöglichkeit des Verwaltungsrats und nicht eine gesetzliche Pflicht.12
1.2 Massnahmen bei Kapitalverlust
«Zeigt die letzte Jahresrechnung, dass die Aktiven abzüglich der Verbindlichkeiten die Hälfte der Summe aus Aktienkapital, nicht an die Aktionäre zurückzahlbarer gesetzlicher Kapitalreserve und gesetzlicher Gewinnreserve nicht mehr decken, so ergreift der Verwaltungsrat Massnahmen zur Beseitigung des Kapitalverlusts» (Artikel 725a Absatz 1 OR).
Neben den Massnahmen zur Beseitigung des Kapitalverlusts wie beispielsweise der Einholung von Rangrücktrittserklärungen für Kapital- und Zinsforderungen trifft der Verwaltungsrat, gleich wie bei drohender Zahlungsunfähigkeit, «soweit erforderlich, weitere Massnahmen zur Sanierung der Gesellschaft oder beantragt der Generalversammlung solche, soweit sie in deren Zuständigkeit fallen» (Artikel 725a Absatz 1 Satz 2 OR).
Hat die Gesellschaft keine Revisionsstelle, muss der Verwaltungsrat einen zugelassenen Revisor ernennen, der die letzte Jahresrechnung vor der Genehmigung durch die Generalversammlung einer eingeschränkten Revision unterzieht (Artikel 725a Absatz 2 OR). Diese Pflicht entfällt, wenn der Verwaltungsrat ein Gesuch um Nachlassstundung einreicht (Artikel 725a Absatz 3 OR).
Wird die Generalversammlung ohne den erforderlichen Revisionsbericht durchgeführt, sind die Beschlüsse zur Genehmigung der Jahresrechnung nichtig (Artikel 731 Absatz 3 OR).13 So könnten bei einer Gesellschaft, die bei einer korrekten Bildung notwendiger Rückstellungen einen Kapitalverlust ausweisen würde, diese Rückstellungen jedoch pflichtwidrig unterlässt und trotz Kapitalverlust noch eine Dividende ausrichtet, diese zurückgefordert werden.
1.3 Neunzig-Tage-Frist bei drohender Überschuldung
«Besteht begründete Besorgnis, dass die Verbindlichkeiten der Gesellschaft nicht mehr durch die Aktiven gedeckt sind, so erstellt der Verwaltungsrat unverzüglich je einen Zwischenabschluss zu Fortführungs- und Veräusserungswerten. Auf den Zwischenabschluss zu Veräusserungswerten kann verzichtet werden, wenn die Annahme der Fortführung gegeben ist und der Zwischenabschluss zu Fortführungswerten keine Überschuldung aufweist.
Ist die Annahme der Fortführung nicht gegeben, so genügt ein Zwischenabschluss zu Veräusserungswerten» (Artikel 725b Absatz 1 OR). Der Verwaltungsrat hat «die Zwischenabschlüsse durch die Revisionsstelle oder, wenn eine solche fehlt, durch einen zugelassenen Revisor prüfen» zu lassen (Artikel 725b Absatz 2 OR).
Hat die Gesellschaft keine Revisionsstelle, weil sie auf eine eingeschränkte Revision verzichtet hat (Artikel 727a Absatz 2 OR), muss der Verwaltungsrat umgehend handeln und einen zugelassenen Revisor mit der Prüfung der Zwischenabschlüsse beauftragen. Liegen die Zwischenabschlüsse vor und ist die Gesellschaft gemäss diesen Abschlüssen überschuldet, «so benachrichtigt der Verwaltungsrat das Gericht» (Artikel 725b Absatz 3 OR).
Die Benachrichtigung kann unterbleiben bei Rangrücktritten im Ausmass der Überschuldung (Artikel 725b Absatz 4 Ziffer 1 OR) oder «solange begründete Aussicht besteht, dass die Überschuldung innert angemessener Frist, spätestens aber 90 Tage nach Vorliegen der geprüften Zwischenabschlüsse, behoben werden kann und dass die Forderungen der Gläubiger nicht zusätzlich gefährdet werden» (Artikel 725b Absatz 4 OR). Die Frist von 90 Tagen für den Aufschub der Überschuldungsanzeige gilt als Maximalfrist.14
Nach dem deutschsprachigen Gesetzestext beginnt die Frist von 90 Tagen «nach Vorliegen der geprüften Zwischenabschlüsse». Der französische Text spricht einzig von Erstellung der Zwischenabschlüsse, ohne das Adjektiv «geprüft» («au plus dans les 90 jours qui suivent l’établissement des comptes intermédiaires»), ebenso der italienische Text («al più tardi 90 giorni dopo la presentazione dei conti intermedi»).
Aus sachlichen Gründen ist nicht ersichtlich, weshalb die Frist erst mit dem Vorliegen der geprüften Zwischenabschlüsse zu laufen beginnen soll.15 Regelmässig wird der Prüfungsbericht der Revisionsstelle oder des zu ernennenden Revisors das Vorliegen einer Überschuldung bestätigen, was ein Zuwarten nicht rechtfertigt. Sollte der Prüfungsbericht jedoch die Überschuldung nicht bestätigen, entfällt bei der aktuell festgestellten Lage und unter Vorbehalt einer Verschlechterung der finanziellen Situation der Gesellschaft die Pflicht zur Benachrichtigung des Gerichts.
Wenn der Verwaltungsrat die Frist von 90 Tagen verstreichen lässt und mit der versuchten Sanierung fortfährt, ist von einer Pflichtverletzung auszugehen.16 Diese wird unter dem Gesichtspunkt des Fortführungsschadens jedoch nur relevant, wenn die Sanierung misslingt und sich die Überschuldung der Gesellschaft bis zur verspätet erfolgten Eröffnung des Konkurses erhöht.17
Für ein Absehen von der Überschuldungsanzeige muss neben der begründeten Aussicht, dass die Überschuldung innerhalb von maximal 90 Tagen behoben werden kann, kumulativ die begründete Aussicht bestehen, «dass die Forderungen der Gläubiger nicht zusätzlich gefährdet werden» (Artikel 725b Absatz 4 Ziffer 2 OR).
Im Entwurf des Bundesrats wurde dieses kumulative Kriterium mit dem Erfordernis umschrieben, «dass sich die Überschuldung nicht wesentlich erhöht».18 Da für den Fall eines Scheiterns der Sanierung eine gewisse Erhöhung der Überschuldung im Voraus kaum ausgeschlossen werden kann, ist das Kriterium einer zusätzlichen Gefährdung der Forderungen der Gläubiger einer voraussehbaren wesentlichen Erhöhung der Überschuldung gleichzusetzen.
Hingegen ist nicht erforderlich, dass die Gläubiger auf keinen Fall schlechter fahren dürfen als bei einer umgehenden Benachrichtigung des Gerichts, da dann das Gericht stets zu benachrichtigen wäre.19 Solange begründete Aussicht besteht, dass die Überschuldung innerhalb von 90 Tagen behoben werden kann, kommt dem Kriterium, dass die Forderungen der Gläubiger nicht zusätzlich gefährdet werden dürfen, daher soweit ersichtlich keine selbständige Bedeutung zu.20
2. Verantwortlichkeitsklagen
Eine praktisch wichtige Kategorie gesetzlicher Haftungsansprüche bilden die vor der Konkurseröffnung nicht mehr eingezahlten Sozialversicherungsbeiträge, für welche die Mitglieder des Verwaltungsrats nach Artikel 52 Absatz 2 AHVG persönlich schadenersatzpflichtig sind. Es sind die mit Abstand häufigsten Verantwortlichkeitsverfahren mit zirka 1300 Fällen pro Jahr und einer jährlichen Schadenssumme von total 30 bis 40 Millionen Franken.21 Auf diese Verfahren wird hier nicht eingegangen.
Eine Analyse der Entscheidungen des Bundesgerichts zu aktienrechtlichen Verantwortlichkeitsklagen im Zusammenhang mit Sanierungssituationen seit 2010 zeigt, dass Klagen in erster Linie scheiterten, weil es der klagenden Partei nicht gelang, einen Fortführungsschaden rechtsgenügend zu behaupten und zu beweisen.
BGer 4A_391/2009, 12. Februar 2010: Die zur X-Gruppe gehörende Schweizer X AG (X CH), über die später der Konkurs eröffnet wurde, gewährte ihrer italienischen Tochtergesellschaft X Italia Darlehen zur Abdeckung von Verlusten, wobei nicht mehr ernsthaft mit einer Gesundung der X Italia gerechnet werden konnte.
Die Mittel für die Verlustabdeckungen zugunsten von X Italia wurden der X CH ihrerseits durch Darlehen der X DK, der dänischen Muttergesellschaft der X CH, zur Verfügung gestellt. Dadurch erhöhten sich die Verbindlichkeiten der X CH gegenüber der X DK, während die der X Italia gewährten Mittel unwiederbringlich abflossen. Obwohl die X CH überschuldet war und den operativen Betrieb einstellte, fuhr sie damit fort, Verluste der X Italia aus Darlehen der Muttergesellschaft abzudecken. Die Mitglieder des Verwaltungsrats der X CH vergrösserten damit die Überschuldung der Gesellschaft durch immer neue Verlustübernahmen zugunsten der X Italia.
Nach zwei Rückweisungsentscheiden des Bundesgerichts in der gleichen Sache bejahte die Vorinstanz eine Haftung der Mitglieder des Verwaltungsrats für die von ihnen zu verantwortenden Mittelabflüsse an die X Italia wegen Verletzung der allgemeinen Sorgfalts- und Treuepflicht (Artikel 717 Absatz 1 OR). Da der von den Mitgliedern des Verwaltungsrats durch ihr aktives Handeln verursachte Schaden die Forderung der klagenden Abtretungsgläubigerin überstieg, konnte offenbleiben, ob die Mitglieder des Verwaltungsrats durch das Unterlassen einer Überschuldungsanzeige überdies für eine Schädigung durch Konkursverschleppung hafteten (E. 2).
BGer 4A_555/2009, 3. Mai 2010: Mehrere Abtretungsgläubiger klagten gegen das einzige Mitglied des Verwaltungsrats und den Alleinaktionär als faktisches Organ wegen verspäteter Einreichung der Überschuldungsanzeige. Die Vorinstanz hatte den Fortführungsschaden nicht korrekt ermittelt, also nicht die Überschuldung der Gesellschaft bei Konkurseröffnung mit jener verglichen, die bei einem Konkurs zum früheren Zeitpunkt, in welchem die Überschuldungsanzeige pflichtgemäss hätte erstattet werden müssen, bestanden hätte. Die Sache wurde daher zur Sachverhaltsergänzung und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen (E. 2.6).
BGer 4A_214/2015, 8. September 2015: Die Vorinstanz bejahte eine Pflichtverletzung des eingeklagten Verwaltungsrats und der Revisionsstelle wegen verspäteter Einreichung der Überschuldungsanzeige, wies die Klage jedoch ab, weil die klagende Abtretungsgläubigerin den Beweis des Schadens nicht erbracht hatte.
Vor Bundesgericht streitig waren die Anforderungen an die Substanziierung und den Beweis des Fortführungsschadens. In Bestätigung früherer Entscheidungen wies das Bundesgericht die Berufung ab, weil vor der Vorinstanz der Fortführungsschaden einzig anhand der Bilanzen zu Fortführungswerten und nicht zu Liquidationswerten behauptet worden war und die Klägerin nicht ausgeführt hatte, wie hoch die hypothetische Konkursdividende bei einer früheren Benachrichtigung des Gerichts zu erwarten gewesen wäre. Die ungenügenden Tatsachenbehauptungen erfüllten auch nicht die Voraussetzungen einer Schätzung des nicht ziffernmässig nachweisbaren Schadens nach Ermessen des Gerichts gemäss Artikel 42 Absatz 2 OR.
BGer 4A_373/2015, 16. Januar 2016: Geschäftsführer D hatte Mittel der Gesellschaft unrechtmässig verwendet – unter anderem zur Tilgung von Forderungen Dritter gegenüber dem Alleinaktionär G und zur Rückzahlung eines Darlehens, das eine Bank einer anderen, von D und G geführten Gesellschaft, gewährt hatte.
D und G wurden wegen Gläubigerschädigung durch Vermögensminderung nach Artikel 164 StGB verurteilt. G schloss mit der klagenden Gläubigerin über die Zivilforderung einen Vergleich und D anerkannte eine Forderung in Höhe von 2,8 Millionen Franken.
Die Gläubigerin erhob zusätzlich Klage aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit gegen Verwaltungsrat E und Revisionsstelle C unter solidarischer Haftung für einen Fortführungsschaden von 2,8 Millionen Franken.
Das Bundesgericht stellte fest, dass aufgrund der Bilanz zu Fortführungswerten die Überschuldung der Gesellschaft offensichtlich war und der Verwaltungsrat und die Revisionsstelle es pflichtwidrig unterlassen hatten, eine Bilanz zu Veräusserungswerten zu erstellen und eine Überschuldungsanzeige beim Gericht einzureichen. Weil die Klägerin jedoch den Fortführungsschaden nicht rechtsgenügend substanziiert und bewiesen hatte, wies das Bundesgericht die Berufung ab.
BGer 4A_294/2020, 14. Juli 2021: Ein Mitglied des Verwaltungsrats der F AG verwendete ein der Gesellschaft von der H AG gewährtes Darlehen statt für eine Investition zweckwidrig für ein Darlehen der F AG an die Tochter des Alleinaktionärs, die dieses nicht zurückzahlte. Im Rahmen des Konkursverfahrens trat die Konkursverwaltung die Verantwortlichkeitsansprüche der F AG gegen ihre Organe an die H AG ab.
Der Verwaltungsrat haftete für den durch die pflichtwidrige Gewährung des Darlehens an die Tochter des Alleinaktionärs verursachten Schaden aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit gestützt auf Artikel 754 Absatz 1 OR. Die Klägerin behauptete einen zusätzlichen Schadenersatzanspruch, weil der Verwaltungsrat es unterlassen habe, Zwischenbilanzen zu erstellen und Sanierungsmassnahmen zu treffen. Eine Haftung für einen Fortführungsschaden verneinten die Vorinstanz und das Bundesgericht wegen fehlender Substanziierung.
BGer 4A_133/2021 sowie 4A_135/2021 vom 26. Oktober 2021: Die G AG war seit ihrer Gründung desorganisiert, hatte kein internes Kontrollsystem und die für die Erstellung der Buchhaltung erforderlichen Unterlagen wurden, falls überhaupt, viel zu spät an die externe Buchhaltung übermittelt. Trotz mehrfacher Aufforderung durch die Buchhalterin und die Revisionsstelle sorgte A als tatsächlicher Geschäftsführer und faktisches Organ der G AG nicht für ordnungsgemässe Buchhaltungsunterlagen. Dies führte zu einer fehlerhaften und verspäteten Erstellung der Jahresrechnungen.
Das Bundesgericht bejahte eine Verletzung der Sorgfaltspflicht des Geschäftsführers, der die unterlassene Buchführung zu vertreten hatte. Insbesondere wurde im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit der Gesellschaft eine notwendige Rückstellung unterlassen, wodurch die Gesellschaft bei einer korrekten Buchhaltung bereits überschuldet gewesen wäre und die verspätete Überschuldungsanzeige zu einem Fortführungsschaden führte.
Das Bundesgericht hielt fest, dass das ebenfalls eingeklagte Verwaltungsratsmitglied D es pflichtwidrig unterlassen habe, eine Überschuldungsanzeige einzureichen, was zu einem Fortführungsschaden führte. Da die Vorinstanz nicht geprüft hatte, ob D ein Verschulden traf, wies das Bundegericht die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts und zu neuer Entscheidung zurück.
BGer 4A_188/2022, 20. September 2022: Gegenüber B, Verwaltungsratsmitglied mit Einzelzeichnungsbefugnis der A AG, wurde geltend gemacht, er habe die Überschuldungsanzeige zu spät eingereicht und infolge der verspäteten Konkurseröffnung sei der Verlust der Gesellschaft vergrössert worden.
Die A AG war ein Start-up-Unternehmen, bei dem der Alleinaktionär und gleichzeitig Präsident des Verwaltungsrats die fehlende Liquidität in der Aufbauphase des Unternehmens durch monatliche Darlehensgewährungen sicherstellte. Als B erfuhr, dass der Alleinaktionär die monatlichen Liquiditätshilfen überraschend nicht mehr leisten konnte, reichte er die Überschuldungsanzeige ein.
Das Bundesgericht verneinte eine Verletzung der Sorgfaltspflicht. Da sich die finanzielle Situation der Gesellschaft zwischen dem Zeitpunkt der hypothetischen und der tatsächlichen Konkurseröffnung zudem nicht weiter verschlechtert hatte, lag auch kein Fortführungsschaden vor.
BGer 4A_292/2022, 22. Dezember 2022: Der Fall ist die Fortsetzung der Verantwortlichkeitsklage, die bereits Gegenstand der Urteile BGer 4A_133/2021 sowie 4A_135/2021 vom 26. Oktober 2021 war. Anders als die Vorinstanz gelangte das Bundesgericht zum Schluss, dass Verwaltungsrat D, der es pflichtwidrig unterlassen hatte, eine Überschuldungsanzeige einzureichen, sich nicht mit der angeblichen Unkenntnis der Finanzlage der Gesellschaft exkulpieren konnte und für den Fortführungsschaden haftet.
Da die Vorinstanz die Haftungsquoten von D und dem ebenfalls haftpflichtigen Geschäftsführer A gemäss dem Grundsatz der differenzierten Solidarität gemäss Artikel 759 Absatz 1 OR nicht geprüft hatte, wies das Bundegericht die Sache ein zweites Mal zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück.
BGer 4A_166/2022, 29. Juni 2023: Das Kantonsgericht Wallis wies, anders als die erste Instanz, die Klage mehrerer Gesellschaftsgläubiger mangels Substanziierung des Schadens ab – wobei die klagenden Abtretungsgläubiger statt des Schadens der Gläubigergesamtheit den von ihnen erlittenen indirekten Schaden eingeklagt hatten. Eine Ermittlung des Schadens der Gläubigergesamtheit scheiterte daran, dass im kantonalen Verfahren nur der Vermögensstand der Gesellschaft am Ende des Konkursverfahrens festgestellt wurde und die Klägerinnen es versäumt hatten, den Vermögensstand bei Konkurseröffnung zu behaupten und zu belegen. Damit war die Höhe der Überschuldung zum Zeitpunkt der Konkurseröffnung nicht ausgewiesen. Das Bundesgericht bestätigte die Schlussfolgerungen der Vorinstanz als bundesrechtskonform (E. 6).
3. Haftungsrisiken der Verwaltungsräte
Zu den unübertragbaren und unentziehbaren Aufgaben des Verwaltungsrats gehört die Einreichung eines Gesuchs um Nachlassstundung und die Benachrichtigung des Gerichts im Falle der Überschuldung (Artikel 716a Absatz 1 Ziffer 7 OR). Die individuelle Haftung der Mitglieder des Verwaltungsrats für die rechtzeitige Benachrichtigung des Gerichts im Falle der Überschuldung kann als unübertragbare Aufgabe daher nicht mittels Delegation begrenzt werden.
Für die Sorgfalt, die der Verwaltungsrat bei der Führung der Geschäfte der Gesellschaft zu beachten hat, gilt ein objektiver Massstab.22
Dabei richtet sich die Sorgfalt «nach dem Recht, Wissensstand und den Massstäben im Zeitpunkt der fraglichen Handlung oder Unterlassung. Bei der Beurteilung von Sorgfaltspflichtverletzungen hat mithin eine ex ante Betrachtung stattzufinden».23 Das Bundesgericht anerkennt sodann, dass «die Gerichte sich bei der nachträglichen Beurteilung von Geschäftsentscheiden Zurückhaltung aufzuerlegen haben, die in einem einwandfreien, auf einer angemessenen Informationsbasis beruhenden und von Interessenkonflikten freien Entscheidungsprozess zustande gekommen sind» (sogenannte Business Judgment Rule).24
Dieser für Geschäftsentscheide allgemein geltende Grundsatz wurde vom Bundesgericht spezifisch auch für Sanierungssituationen bestätigt, wonach zu bedenken sei, «dass den Organen bei der Beurteilung von Sanierungsmassnahmen ein grosser Ermessensspielraum einzuräumen und bei der gerichtlichen Beurteilung von Geschäftsleitungsentscheiden grundsätzlich Zurückhaltung zu üben ist».25
Eine drohende Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft stellt hohe Anforderungen an die Organisations- und Kontrollaufgaben des Verwaltungsrats. Zur Abwendung allfälliger Verantwortlichkeitsansprüche müssen die Mitglieder des Verwaltungsrats das Geschehen aktiv gestalten.26
Der Verwaltungsrat muss bei der Sanierung stets «mit der gebotenen Eile» handeln (bei drohender Zahlungsunfähigkeit laut Artikel 725 Absatz 3 OR, bei Kapitalverlust laut Artikel 725a Absatz 4 OR und bei Überschuldung laut Artikel 725b Absatz 6 OR). Der Verwaltungsrat sollte daher die übliche Sitzungsfrequenz erhöhen.
Die Sitzungsunterlagen sollen eine ausreichende Grundlage für die Entscheidungsfindung bieten und die Beschlussfassung soll nachvollziehbar protokolliert werden.27 Die Vorbereitung, Evaluation und Umsetzung der Entscheidungen des Verwaltungsrats sollen angemessen dokumentiert werden, um auch Jahre später aus dem Blickwinkel eines Haftungsprozesses den Beweis erbringen zu können, dass ein ordnungsgemässer Entscheidungsprozess erfolgte.28
Bei der Geltendmachung eines Fortführungsschadens zufolge Verletzung der Benachrichtigungspflicht handelt es sich stets um einen Anspruch der Gläubigergesamtheit, der deckungsgleich ist mit dem aus der Pflichtverletzung der Organe resultierenden Schaden der Gesellschaft, und nicht um einen direkten Schaden oder eine Individualklage eines Gläubigers.29 Die Haftung kommt naturgemäss nur beim Konkurs der Gesellschaft zum Tragen.
Bei der Darlegung eines Fortführungsschadens durch Konkursverschleppung ist das Vermögen zu Liquidationswerten zum Zeitpunkt, zu dem der Konkurs hätte erfolgen müssen, mit demjenigen bei Konkurseröffnung zu vergleichen. Zur Bestimmung des hypothetischen Datums der Konkurseröffnung bei sorgfaltsgemässem Handeln ist der Zeitpunkt zu ermitteln, zu welchem der Verwaltungsrat begründete Besorgnis der Überschuldung haben musste.30
Demgegenüber ist der Zeitpunkt des Eintritts der Überschuldung und der Erstellung der Zwischenabschlüsse für den Beginn der Berechnung des Fortführungsschadens nicht massgebend.31
Bestand und Höhe des Fortführungsschadens sind Tatfragen.32 Dies bedeutet, dass die Substanziierung des Fortführungsschadens vor den kantonalen Instanzen erfolgen muss, weil das Bundesgericht bei einem Weiterzug seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde legt, den die Vorinstanz festgestellt hat (Artikel 105 Absatz 1 BGG).
Ob die Mitglieder des Verwaltungsrats in einer Sanierungssituation zeitgerecht gehandelt haben, ist demgegenüber eine Rechtsfrage, die vom Bundesgericht geprüft wird und deren Beantwortung davon abhängt, ab welchem Zeitpunkt vom Verwaltungsrat die Einleitung von Massnahmen erwartet werden konnte.33
Ob der Verwaltungsrat begründete Besorgnis einer Überschuldung haben muss, setzt das Bestehen einer Überschuldung voraus: «Wenn keine Überschuldung besteht, kann deren Nicht-Erkennen auch keine Pflichtverletzung bedeuten».34
Soweit der Verwaltungsrat bei drohender Zahlungsunfähigkeit zugleich begründete Besorgnis einer Überschuldung haben muss, ist er verpflichtet, die erforderlichen Zwischenabschlüsse zu erstellen. Unterlässt er dies und verkennt er deswegen eine Überschuldung und handelt nicht entsprechend, setzt er sich einem Haftungsrisiko wegen Konkursverschleppung aus. Sodann ist festzuhalten, dass eine Sanierung zulässig bleibt, auch wenn sich die Sanierungsbemühungen im Nachhinein als erfolglos erweisen.35
Die Darstellung der Entscheidungen des Bundesgerichts zu aktienrechtlichen Verantwortlichkeitsklagen im Zusammenhang mit Sanierungssituationen hat gezeigt, dass Klagen wegen Konkursverschleppung regelmässig an den Anforderungen der Substanziierung und am Beweis eines Fortführungsschadens scheitern. Eine Haftung wurde vor allem dann bejaht, wenn Mitglieder des Verwaltungsrats entweder untätig blieben oder weitere, meistens grobe Verletzungen der Sorgfalts- und Treuepflicht vorlagen, die zu einer Aushöhlung des Unternehmens zulasten der Gläubiger führten.
Bei der Beurteilung, ob ein Mitglied des Verwaltungsrats einen Fortführungsschaden pflichtwidrig verursacht hat, prüfen die Gerichte Handlungen und Unterlassungen im Nachhinein auf einer linearen Zeitachse.
Hält der Verwaltungsrat in Sanierungssituationen saubere Prozesse ein und fällt er seine Entscheidungen anhand vernünftiger Unterlagen, wird es potenziellen Klägern bei einem Scheitern der Sanierung kaum möglich sein, einen früheren Zeitpunkt, in dem der Konkurs hätte erfolgen müssen – und damit verbunden einen allfälligen Fortführungsschaden – mit der erforderlichen Detailliertheit darzulegen. Hingegen ist bei drohender Zahlungsunfähigkeit, einem Kapitalverlust oder bei Besorgnis einer Überschuldung Untätigkeit keine Option und bildet für die Mitglieder des Verwaltungsrats das grösste Haftungsrisiko.
1 Dieser Beitrag beruht auf einem an der 9. Zürcher Tagung zum SchKG vom 7.2.2023 gehaltenen Referat.
2 Hans Caspar von der Crone, Aktienrecht, 2. Aufl., Bern 2020, § 18, Rz. 1413 f., S. 636; Jean Nicolas Druey et al., Gesellschafts- und Handelsrecht, 12. Aufl., Zürich 2021, § 13, N 9; Lukas Glanzmann, «Pflichten des Verwaltungsrats bei drohender Zahlungsunfähigkeit, Kapitalverlust und Überschuldung gemäss neuem Aktienrecht», in: Rechnungslegung und Kapitalschutz im Strafrecht, EIZ 2021, S. 102 f.; Daniel Hunkeler et al., in: Berner Kommentar. Das Aktienrecht, Art. 725–725c OR, N 28.
3 BGE 132 III 564, E. 5; BGer 4A_188/2022 vom 20.9.2022, E. 5.1.
4 BGE 111 II 206, E. 1.
5 Glanzmann, a.a.O., S. 104; Patrik Gubler, «Die Artikel 725–725b des revidierten Aktienrechts», in: ZZZ 59/2022, S. 279.
6 Peter Böckli, «Der ‹aktuelle Liquiditätsplan› des Vorentwurfs. Ein neuer Fokus für Verwaltungsrat und Revisor in einer drohenden Finanznotlage», in: SZW 2015, S. 492; Glanzmann, a.a.O., S. 102; Gubler, a.a.O., S. 281; Hunkeler et al., a.a.O., N 30.
7 Art. 725 E-OR, BBl 2017 719.
8 Glanzmann, a.a.O., S. 107; Gubler, a.a.O., S. 279; Lukas Handschin, in: Zürcher Kommentar, Art. 698–726 und 731b OR, Die Aktiengesellschaft, Zürich 2018, Art. 725, N 157; Georg J. Wohl, Sanierung an der Schnittstelle zwischen neuem Aktienrecht und SchKG, in: SJZ 18/2023, S. 911.
9 Wohl, a.a.O., S. 911; Böckli, a.a.O., S. 500.
10 Lukas Glanzmann/Vito Roberto, «Verantwortlichkeit des Verwaltungsrats in Sanierungssituationen», in: Praxis zum unternehmerischen Verantwortlichkeitsrecht, EIZ 2004, S. 84; Hunkeler et al. a.a.O., N 41; Wohl, a.a.O., S. 911.
11 Glanzmann, a.a.O., S. 108; Gubler, a.a.O., S. 283 f.; Handschin, a.a.O., N 85; Wohl, a.a.O., S. 913.
12 Glanzmann, a.a.O., S. 111 f.; anderer Ansicht: Hunkeler et al., a.a.O., OR, N 42.
13 Glanzmann, a.a.O., S. 118.
14 BBl 2017 579.
15 Anderer Ansicht: Hunkeler et al., a.a.O., N 96; Wohl, a.a.O., S. 914.
16 Hunkeler et al., a.a.O., N 99.
17 Druey et al., a.a.O., § 8, N 146; Glanzmann, a.a.O., S. 128; Hunkeler et al., a.a.O., OR N 99.
18 BBl 2017, S. 720.
19 Hunkeler et al., a.a.O., N 95; Wohl, a.a.O., S. 914.
20 Vgl. ZK-Handschin, Art. 725a OR, N 37 f. im Zusammenhang mit dem früheren Instrument des Konkursaufschubs.
21 Susanne Keller, «Verantwortlichkeit des Verwaltungsrates – Bedeutung und Entwicklung von zivilrechtlichen Verantwortlichkeitsklagen gegen Verwaltungsräte», in: Jusletter 24.10.2011, Rz. 15.
22 BGE 139 III 24, E. 3.2.
23 BGE 139 III 24, E. 3.2. 24 BGE 139 III
24, E. 3.2.
25 BGer 4A_306/2009 vom 8.2.2010, E. 7.2.4.
26 Glanzmann/Roberto, a.a.O., S. 100 f.,
27 Ebd.
28 Vgl. Hans Caspar von der Crone, «Haftung und Haftungsbeschränkung in der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit», in: SZW 1/2006, S. 8.
29 BGE 136 III 14, E. 2.4.
30 BGE 136 III 326, E. 3.2.1.
31 BGer 4A_188/2022 vom 20.9.2022, E. 6.1.1; 4A_166/2022 vom 29.6.2023, E. 3.2. 7
32 BGE 132 III 564, E. 6.2.
33 BGer 4C.366/2000 vom 19.6.2001, E. 4c.
34 BGer 4A_410/2011 vom 11.7.2012, E. 7.2.
35 BGer 4C.366/2000 vom 19.6.2001, E. 4b.