Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 rief der Uno-Sicherheitsrat eine sogenannte «Terrorliste» ins Leben. Damit trafen Uno-Sanktionen erstmals in grösserem Stil nicht mehr nur Staaten, sondern gezielt auch Personen, die durch ihr Verhalten angeblich die internationale Sicherheit gefährden. Betroffen sind Personen, die als Terrorismusverdächtige oder Angehörige eines Unrechtsregimes gelten.
Diese als «Smart Sanctions» bezeichneten Massnahmen würden «zumindest bei ihrer Umsetzung» immer international verbriefte Menschenrechte missachten, hält der Berner Staatsrechtler Jörg Künzli in einem Fachartikel fest. Ein rechtliches Vorgehen gegen die Uno durch betroffene Personen scheitere regelmässig daran, dass die Uno als internationale Organisation keine Vertragspartei menschenrechtlicher Verträge sei und dies auch nicht werden könne. Deshalb könne sie in Beschwerdeverfahren vor menschenrechtlichen Organen nicht eingeklagt werden und geniesse überdies vor nationalen Gerichten absolute Immunität.
Die Anwendung von Sanktionsmassnahmen sind in Kapitel 7, Artikel 39 bis 51 der Uno-Charta geregelt. Wenn der Sicherheitsrat nach Artikel 39 feststellt, dass der internationale Frieden gebrochen oder bedroht ist, kann er eine Unterbrechung des üblichen Verkehrs im Bereich Kommunikation oder Handel beschliessen. Artikel 41 macht Sanktionen möglich.
Der Uno-Sicherheitsrat hat grosse Macht
Michael Brzoska vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Uni Hamburg erklärt: «Voraussetzung für Sanktionen ist stets, dass der Sicherheitsrat eine Störung oder Gefährdung des internationalen Friedens oder der internationalen Sicherheit festgestellt hat. Diese Kompetenz haben die Mitgliedstaaten dem Sicherheitsrat explizit delegiert.» Die 15 Staaten, die im Uno-Sicherheitsrat vertreten sind, haben grosse Macht: Denn nach Artikel 24 der Uno-Charta sind die Sanktionen für alle Mitgliedstaaten verbindlich.
Zuletzt regelt Artikel 42 die militärischen Massnahmen. Die Reihenfolge ist also klar: Zuerst die Feststellung von Friedens- und Sicherheitsgefährdung durch den Sicherheitsrat, dann Sanktionen und zum Schluss militärische Massnahmen. Laut Brzoska sind Sanktionen «mehr als Worte, aber weniger als Krieg».
Aus der Rechtsliteratur geht klar hervor, dass dies auch die Haltung der Gründungsväter von 1944/45 bei der Entwicklung der Charta war. Brzoska weist jedoch auch auf Probleme hin: «Das Vetorecht im Sicherheitsrat verhindert zum Beispiel Sanktionen gegen die syrische Regierung trotz offensichtlicher Verstösse gegen das Völkerrecht.» Auch gegen Staaten, die selbst im Sicherheitsrat vertreten sind, sowie deren nahe Verbündete seien Sanktionen nicht möglich. Laut Brzoska sind Sanktionen deshalb überwiegend ein Instrument der «starken» gegen «schwache» Staaten, überwiegend im «globalen Süden».
Vor den Anschlägen von 2001 waren die wichtigsten Mittel der Uno umfassende Handelssanktionen. Ein Staat wurde so ökonomisch isoliert. Die Irak-Sanktionen zum Beispiel dauerten von 1991 bis 2003. Das Land konnte so gut wie nichts mehr importieren und exportieren. Die Wirtschaftsleistung ging massiv zurück.
Irak-Sanktionen führten zu humanitärer Katastrophe
An Zynismus war gerade dieses Embargo kaum zu überbieten: Der Irak durfte zwar Medikamente importieren, jedoch hatten die Bevölkerung und der Staat kein Geld, um diese Medikamente zu bezahlen. Das führte zu einer humanitären Katastrophe. Laut Unicef starben über eine halbe Million Menschen nur wegen des Zusammenbruchs des Gesundheitswesens. Für Alfred-Maurice de Zayas, Genfer Völkerrechtsprofessor und ehemaliger Chef der Beschwerdeabteilung im Büro des Uno-Hochkommissars für Menschenrechte, stellt das Embargo die grösste Rechtsverletzung des Völkerrechts seit 1945 dar.
Heute richtet sich der Sicherheitsrat vermehrt mit gezielten Sanktionen gegen Einzelpersonen, Unternehmen und Organisationen oder beschränkt den Handel mit bestimmten Schlüsselgütern. Dabei kommen folgende Instrumente zum Einsatz:
- Finanzsanktionen: das Einfrieren von Vermögenswerten, Transaktionsverbote und Investitionsbeschränkungen
- Restriktionen des Handels mit bestimmten Gütern wie zum Beispiel Diamanten, Holz, Öl, Waffen oder Dienstleistungen
- Reiserestriktionen diplomatische Einschränkungen kulturelle und sportliche Restriktionen
- Beschränkungen des Flugverkehrs.
In der Schweiz bildet seit 2003 das Embargogesetz (EmbG) die rechtliche Grundlage für Sanktionsmassnahmen. Es regelt allgemeingültige Sachverhalte wie Zweck, Zuständigkeiten, Auskunftspflicht, Kontrolle, Datenschutz, Amts- und Rechtshilfe, Rechtsschutz und Strafbestimmungen. Artikel 1 des Gesetzes gibt dem Bund die Kompetenz, Sanktionen in der Schweiz durchzusetzen, die im Ausland von der Uno, der OSZE oder den wichtigsten Handelspartnern erlassen wurden.
Roland E. Vock, der das Ressort Sanktionen beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) leitet, betont: «Das Embargogesetz erlaubt der Schweiz nicht, unilateral Sanktionen zu erlassen, die weder von der Uno und der EU noch von den wichtigen Handelspartnern erlassen wurden.» Vock: «Wir können nur Sanktionen durchsetzen, die im Ausland bereits beschlossen wurden.» Der Bundesrat könne aber dennoch unilaterale Sanktionen ergreifen. Dann muss er sich laut Vock direkt auf die Bundesverfassung stützen – und zwar auf Artikel 184 Absatz 3, der ihm die Kompetenz für aussenpolitische Angelegenheiten gibt.
Basierend auf dem Embargogesetz sind in der Schweiz aktuell 23 Sanktionsverordnungen in Kraft (siehe Kasten Seite 29). Mit 12 dieser Verordnungen werden Uno-Sanktionen umgesetzt. 7 Verordnungen basieren ausschliesslich auf EU-Sanktionen. Und 4 Sanktionsverordnungen enthalten eine Kombination aus Uno-und EU-Sanktionen. Laut Vock steht die OSZE mehr aus historischen Gründen im Embargogesetz, die Organisation selbst habe kaum je Sanktionen erlassen. Und mit den wichtigsten Handelspartnern sei vor allem die EU gemeint. «Die Schweiz hat noch nie Sanktionen anderer Staaten – beispielsweise der USA – nachvollzogen.» Laut Vock wäre es nur schwer vorstellbar, dass sich die Schweiz Sanktionen anderer Staaten anschliessen würde, die von der EU nicht mitgetragen werden. «Zudem könnten solche Sanktionen ohne grosse Mühe über die EU umgangen werden.»
Ob und inwieweit sich die Schweiz nach den EU-Sanktionen richte, entscheide der Bundesrat von Fall zu Fall. Vock: «Wir tragen die Sanktionen der EU nicht einfach automatisch mit.»
Kritik an Sanktionen durch Uno-Sonderberichterstatter
Uno-Sonderberichterstatter Idriss Jazairy hat in zahlreichen Berichten die einseitigen Zwangsmassnahmen wie Wirtschaftssanktionen der USA oder der EU kritisiert. Die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen seien eklatant.
Der Untersuchungsbericht des beratenden Ausschusses des Uno- Menschenrechtsrates aus dem Jahr 2015 liest sich wie ein Krimi: Vier Staaten (Kuba, Simbabwe, Iran und der Gazastreifen) wurden untersucht, da sie unter Sanktionen leiden. Die Auswirkungen sind laut Bericht katastrophal und bedeuten eine Verletzung grundlegender Menschenrechte. In den sanktionierten Ländern seien die negativen Auswirkungen vorab in der Zivilgesellschaft zu spüren. Betroffen seien «die Schwächsten in einer Gesellschaft wie Frauen, Kinder, alte und behinderte Menschen sowie die Armen».
Sanktionen verstossen gegen Völkerrecht
Völkerrechtler Alfred-Maurice de Zayas weist auf die Verletzung etlicher Rechtsgrundsätze hin, die mit den unilateralen Sanktionen einhergehen. Konkret nennt er die Prinzipien der Staatssouveränität und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, die internationale Handelsfreiheit und die Freiheit der Schifffahrt. Ausserdem würden unilaterale Sanktionen gegen völkerrechtliche Prinzipien wie «Verträge sind zu halten» verstossen. De Zayas: «Sanktionen und Embargos hindern die völkerrechtliche Ausführung von gültigen völkerrechtlichen Verträgen.»
Für de Zayas ist die extraterritoriale Anwendung von nationalen Gesetzen eine neue Form von Kolonialismus. Sie bewirke eine Usurpierung von Kompetenzen, beinahe eine Art von Annexion durch juristische Übertretung. Unilaterale Zwangsmassnahmen würden denn auch regelmässig von der Mehrheit der Staaten als völkerrechtswidrig bezeichnet. Als Beispiele nennt de Zayas die insgesamt 23 Resolutionen der Uno-Generalversammlung zum US-Embargo gegen Kuba. Anlässlich der Annahme der Resolution 69/5 vom 28. Oktober 2014 wurde diese Blockade explizit als «illegal» bezeichnet. 188 Staaten stimmten für diese Resolution, 2 dagegen (USA und Israel) und 3 enthielten sich.
De Zayas kritisiert: «Es gibt keine Mechanismen, um diese Rechtsverletzungen zu verhindern, es fehlt ein Tribunal, das die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht. Wir leben in einer Welt des institutionalisierten Unrechts.» Die Schweiz sollte sich vor solcher Machtpolitik bewahren und unilaterale Sanktionen der USA oder EU nicht einfach direkt umsetzen: «Damit wird sie ein Teil der schmutzigen Machtpolitik.»
Seco-Vertreter Vock sagt dazu: «Ich stimme der Kritik in dieser generellen Form nicht zu. Das würde ja bedeuten, dass alle unilateralen Sanktionen – also auch jene der USA, EU oder anderer Staaten – rechtswidrig sind.» Er nennt als Beispiel Syrien. Zu diesem Land habe es im Uno-Sicherheitsrat keine einzige Resolution zu Sanktionen gegeben, weil gewisse Vetomächte opponiert hatten. «Genau in solchen Fällen kommen die unilateralen Sanktionen der EU oder anderer Staaten zum Zug.» Völkerrechtlich sei der Erlass unilateraler Sanktionen unter gewissen Bedingungen durchaus statthaft.
Strassburg verbietet, was New York verlangt
Dass Sanktionen menschenrechtlich heikel sind, zeigen zwei Fälle mit direktem Bezug zur Schweiz:
Khalaf M. al-Dulimi: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte 2016 die Schweiz, weil sie Uno-Sanktionen bedenkenlos umsetzte. Es ging um Khalaf M. al-Dulimi, der als Finanzchef der irakischen Geheimdienste unter Saddam Hussein gewirkt haben soll. 2003 setzte das Sanktionskomitee der Uno den Iraker auf die Terrorliste. Die Schweiz liess in der Folge rund 200 Millionen Franken einfrieren, die Al-Dulimi in der Schweiz deponiert hatte. Der Iraker, der noch heute auf dieser Liste steht, wehrte sich dagegen erfolglos vor Bundesgericht. Begründung der Richter in Lausanne: Die Uno-Resolution lasse keinen Spielraum offen.
Al-Dulimi zog den Fall nach Strassburg weiter und machte geltend, die Schweiz verwehre ihm den Zugang zu einem Gericht (Artikel 6 Absatz 1 EMRK). Mit Erfolg: Die Mehrheit der Strassburger Richter stellte fest: «Gerade die Auflistung von Personen auf einer Sanktionsliste kann schwerwiegende Eingriffe in die Rechte der Betroffenen zur Folge haben.» Die Schweizer Behörden seien also verpflichtet, die Rechtmässigkeit zu überprüfen, um das Recht auf ein faires Verfahren gemäss Artikel 6 EMRK nicht zu verletzen.
Al-Dulimi hat ein Revisionsbegehren beim Bundesgericht eingereicht, in dem es um den ursprünglichen Entscheid geht, der im Lichte des EGMR-Entscheids revidiert werden soll. «Wir warten nun ab, was das Bundesgericht entscheidet», sagt Vock.
Youssef Nada: Der ägyptisch- italienische Doppelbürger lebt seit 1970 in der italienischen Enklave Campione d’Italia. Ihm wurde vorgeworfen, seine Firma habe die Terrororganisation AlQaida unterstützt. Auf Antrag der USA wurde er 2001 auf die Uno-Terrorliste aufgenommen. Mit der Resolution 1390 verpflichtete der Uno-Sicherheitsrat die Staaten im Jahr 2002, allen Personen auf der Terrorliste unter anderem die Ein- und Durchreise zu untersagen. Die Schweiz setzte diese Vorgaben mit der «Taliban-Verordnung» um. Damit war es für Nada nicht mehr möglich, das nur 1,6 km² grosse Gebiet von Campinone d’Italia zu verlassen. Namentlich verunmöglichte ihm dieses Verbot, einen Arzt in Italien oder in der Schweiz aufzusuchen und Freunde zu besuchen.
Das Bundesgericht lehnte 2007 eine Aufhebung dieser Reisebeschränkungen ab. Begründung: Die Sanktionsbeschlüsse des Sicherheitsrats seien verbindlich und gingen allen übrigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz vor. Nada zog das Urteil nach Strassburg. Mit Erfolg: Die Grosse Kammer hiess seine Beschwerde wegen Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie des Rechts auf wirksame Beschwerde gut. Strassburg stellte fest, dass die Schweiz über einen gewissen Ermessensspielraum verfügte und die Sanktionen konform mit den Bestimmungen der EMRK hätte umsetzen können. Im Jahr 2009 strich das Sanktionskomitee Nada von der Terrorliste. Damit konnte auch die Schweiz ihr Einreise- und Transitverbot aufheben.
Schweizer Sanktionen
Auf Basis von Uno-Sanktionen: Verordnungen gegen Irak (seit 1990), Al-Qaida und Taliban (2000), Demokratische Republik Kongo (2005), Sudan (2005), Personen im Zusammenhang mit der Ermordung von Rafik Hariri (2005), Nordkorea (2006), Libanon (2006), Somalia (2009), Eritrea (2010), Zentralafrikanische Republik (2014), Jemen (2014) sowie die Verordnung über den internationalen Handel mit Rohdiamanten (Kimberley Prozess, 2002).
Auf Basis von EU-Sanktionen: Myanmar (2000), Simbabwe (2002), Weissrussland (2006), Guinea (2009), Syrien (2011), Ukraine (2014) und Burundi (2015).
Auf Basis von Uno- und EU-Sanktionen: Iran (2007), Libyen (2011), Guinea-Bissau (2012) und Südsudan (2015).