Sarah Progin-Theuerkauf, darf ein EU-Mitgliedstaat Asylsuchende in ausländischen Lagern inhaftieren?
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Plädoyer 06/2024
02.12.2024
Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Europarecht und europäisches Migrationsrecht, Universität Freiburg
Die Antwort lautet – wie so oft: «Es kommt darauf an.» Drei Rechtsakte der Europäischen Union erlauben die Inhaftierung von Migranten: die Dublin-III-Verordnung (während des Dublin-Verfahrens), die Aufnahmerichtlinie (während des regulären Asylverfahrens) und die Rückführungsrichtlinie (während des Rückführungsverfahrens). Der erste und der dritte sind wegen der Schengen- und Dublin-Assoziierung auch ...
Die Antwort lautet – wie so oft: «Es kommt darauf an.» Drei Rechtsakte der Europäischen Union erlauben die Inhaftierung von Migranten: die Dublin-III-Verordnung (während des Dublin-Verfahrens), die Aufnahmerichtlinie (während des regulären Asylverfahrens) und die Rückführungsrichtlinie (während des Rückführungsverfahrens). Der erste und der dritte sind wegen der Schengen- und Dublin-Assoziierung auch in der Schweiz anwendbar. Bei Asylsuchenden ist also die Aufnahmerichtlinie der anwendbare Rechtsakt.
Die Aufnahmerichtlinie betont zunächst, dass Personen nicht allein deshalb, weil sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, inhaftiert werden dürfen (Artikel 8). Haft darf nur nach einer Einzelfallentscheidung angeordnet werden und muss verhältnismässig sein. Systematische Inhaftierungen aller Asylsuchenden sind somit verboten. Artikel 8 enthält sodann eine lange Liste möglicher Haftgründe: Antragsteller dürfen unter anderem in Haft genommen werden,
- um ihre Identität oder Staatsangehörigkeit zu überprüfen;
- um Beweise zu sichern, auf die sich ihr Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht;
- um über das Recht des Antragstellers auf Einreise in das Hoheitsgebiet zu entscheiden;
- wenn die betreffende Person in einem Rückkehrverfahren den Antrag auf internationalen Schutz nur stellt, um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln;
- wenn es aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist;
- wenn es sich aus Artikel 28 der Dublin-III-Verordnung ergibt.
Die Haftgründe müssen allerdings im nationalen Recht noch einmal konkretisiert werden – in der Schweiz ist dies im Ausländer- und Integrationsgesetz erfolgt. Das nationale Recht muss auch Alternativen zur Inhaftnahme vorsehen, zum Beispiel Meldeauflagen oder finanzielle Sicherheiten. Zudem gibt es diverse Verfahrensgarantien. Und selbstverständlich müssen auch Rechtsmittel gegen Haftanordnungen möglich sein.
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg hat die Vereinbarkeit von Artikel 8 mit der EU-Grundrechtecharta bestätigt. Auch aus Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt sich kaum etwas anderes. Danach ist eine rechtmässige Festnahme oder eine Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise einer Person erlaubt sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) hat diese Regelung in verschiedenen Urteilen konkretisiert (zum Beispiel EGMR-Urteile 62116/12 vom 22. September 2015, Nabil und andere gegen Ungarn, oder 13229/03 vom 29. Januar 2008, Saadi gegen Vereinigtes Königreich). Der EuGH erachtet diesen Rahmen als durch das EU-Recht gewahrt, da Artikel 8 der Aufnahmerichtlinie und die nachfolgenden Artikel einen hinreichend strengen Rahmen vorgäben, der insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit Rechnung trage und den Einzelnen vor willkürlicher Inhaftierung schütze (EuGH-Urteil C‑18/16 vom 14. September 2017, K. gegen Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie).
Eine Inhaftierung von Asylsuchenden in Lagern wäre allerdings nur zulässig, wenn nach einer Einzelfallprüfung einer der Haftgründe bejaht würde. Eine maximale Haftdauer kennt die Aufnahmerichtlinie nicht. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit muss gewahrt sein.