Schon während des Prozesses am Bezirksgericht Zürich im Mai dieses Jahres wird klar: Der Fall ist aussergewöhnlich: Die eine Zeugin und Privatklägerin ist nicht im Gerichtssaal anwesend, sondern sitzt in einem separaten Raum und nimmt per Videoübertragung an der Verhandlung teil. Einzig das Richtergremium, ihre Anwältin, der Staatsanwalt und die im Saal anwesende ermittelnde Polizistin kennen die Identität der Frau.
Sie belastet den Beschuldigten schwer. Er soll sie geschlagen, eingesperrt und zur Prostitution gezwungen haben. Das Geld, dass sie auf dem Strich verdiente, soll er ihr jeweils gleich abgenommen haben. «Ich führte ein Leben wie ein Hund. Hatte keine Hilfe und war sehr einsam. Er liess mich tagelang hungern, um meinen Willen zu brechen. Hat mich beschimpft, geschlagen und erniedrigt», zitiert ihre Anwältin die Frau.
Der Staatsanwalt verlangt, unterstützt von zehn Privatklägerinnen, dass der Mann wegen gewerbsmässigen Menschenhandels und Förderung der Prostitution für 14 Jahre hinter Gitter soll. Mehrere Zeugen wurden befragt. Eine Frau aus seinem engsten Umfeld sagte gegen den Beschuldigten aus.
Komplexe Abhängigkeiten, schwierige Beweisführung
Doch nun kommt alles anders: Die Hauptzeugin zog ihre Aussagen zurück, nun sitzt sie im Gerichtssaal neben der Mutter des Beschuldigten. Ihr Anwalt sagt, der Staatsanwalt und die Polizistin hätten sie enorm unter Druck gesetzt und manipuliert. Das lässt der Staatsanwalt nicht gelten: «Der Beschuldigte schwindelt ihr Liebe vor und hat ihr versprochen, sie zu heiraten. Deshalb schützt sie ihn jetzt auf einmal.»
Am Ende spricht das Gericht den Mann dennoch schuldig. Er muss für acht Jahre ins Gefängnis. Bei zwei von zehn Privatklägerinnen hat er sich laut Gericht wegen mehrfachen Menschenhandels schuldig gemacht. Das schriftliche Urteil umfasst über 550 Seiten. Der Beschuldigte akzeptiert es nicht. Das nächste Wort hat das Obergericht.
Dieser Gerichtsfall zeigt exemplarisch auf, wie schwer es ist, mit Fällen von mutmasslichem Menschenhandel umzugehen. «Die Ermittlungen sind oft sehr komplex und mit einem erheblichen Aufwand verbunden», sagt Runa Meier, als Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich auf Fälle von Menschenhandel spezialisiert. Eine Schwierigkeit bestehe vor allem bei den Fällen der sexuellen Ausbeutung darin, dass das mutmassliche Opfer mit dem Täter und seiner Familie eng verbunden ist und Opfer und Täter zum Teil aus demselben Ort im Ausland kommen. «Das schafft Abhängigkeit.»
Jörg Haslimeier, Leiter der Fachdienststelle für Menschenhandel bei der Stadtpolizei Zürich, und Ermittlungschef Beat Rhyner erklären: «Die Ermittler müssen die Opfer in akribischer Kleinarbeit ausfindig machen, das Vertrauen der Betroffenen gewinnen und sie zu einer Aussage gegen die Täter bewegen.» Im Gegensatz zu vielen anderen Delikten gibt es kaum taugliche Sachbeweise: kein Deliktsgut, keine eindeutig belastenden Spuren, die sichergestellt werden können. Ohne glaubwürdige Zeugen und glaubhafte Aussagen hat es die Anklage schwer.
Auch Bau, Reinigung, Pflege und Haushalte anfällig
Gespräche mit spezialisierten Opferhilfestellen zeigen aber auch: Nur, wenn Opfer gut geschützt sind und unterstützt, dann wagen sie es, gegen Täter auszusagen. Doro Winkler von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) bekräftigt, dass die FIZ jährlich über 200 Opfern mit ihrem Opferschutzprogramm schützt. Jedoch können sie keiine «absolute Anonymität» gewähren. Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) betreibt in der Schweiz ein Zeugenschutzprogramm. Laut Winkler sei es aber nur in seltenen Fällen notwenig. Laut Fedpol wurden schweizweit 2020 sieben Zeugenschutzfälle bearbeitet. Ob und wie viele davon auf Fälle mit Menschenhandel entfallen, wird nicht erfasst.
Nicht nur das Sexgewerbe ist anfällig auf diese Art von Kriminalität. Der Bausektor, das Gastgewerbe, die Haushaltshilfen und das Reinigungspersonal oder der Pflegebereich seien ebenfalls stark betroffen, sagt Annatina Schultz. Die Berner Staatsanwältin gilt als ausgewiesene Expertin im Kampf gegen Menschenhandel. «Die Schweiz ist eine Hochpreisinsel und besonders attraktiv für solche Machenschaften», sagt sie. Die erzielten Margen seien um einiges höher als in anderen Ländern.
Das bestätigt eine Studie des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR). Darin wird ein Fall geschildert, «in dem Bauarbeiter für die Arbeit auf einer Baustelle –ohne Schutzkleidung und Versicherung – einen Stundenlohn von zwei Franken erhielten». Mitte Juni sprach das Bezirksgericht Winterthur ein Ehepaar des Menschenhandels schuldig. Es holte ein Kindermädchen aus Südosteuropa ohne Arbeitsbewilligung in die Schweiz und liess es bis zu 18 Stunden am Tag putzen, kochen und die Kinder betreuen – ohne je Lohn zu zahlen.
Kaum Anzeigen und Verurteilungen
Rechtliche Grundlage zur Bekämpfung des Menschenhandels ist Artikel 182 des Strafgesetzbuches (StGB). Der einmalige Handel mit einer Person genügt, um den Straftatbestand zu erfüllen. Bei einer Verurteilung droht eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe bis zu 20 Jahren. Die Anwerbung von Opfern ist dem Handel gleichgestellt. Artikel 182 stellt den Handel mit Menschen zum Zwecke der Ausbeutung unter Strafe, Artikel 195 die Förderung der Prostitution.
Spezialisierte Opferhilfeberatungsstellen identifizierten 2020 174 Opfer von Menschenhandel, berieten über 500 Personen. Im gleichen Jahr gingen laut Bundesamt für Statistik nur 67 Anzeigen wegen Menschenhandels ein. Im gleichen Jahr kam es zu acht Verurteilungen. Dieses Bild zeigte sich schon in den früheren Jahren.
Forderung eines neuen Tatbestands
Diese Diskrepanz hat laut Staatsanwältin Schultz nicht nur damit zu tun, dass in manchen Kantonen keine spezialisierten Polizeiabteilungen bestehen, sondern auch mit Mängeln der Schweizer Strafnorm, die zu «unklar» sei. Schultz schlägt vor, Artikel 182 StGB zu ergänzen (siehe Kasten). Schultz: «Die Rechtsprechung des EGMR zum Verbot der Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit in Artikel 4 EMRK verpflichtet auch die Schweiz, in diesem Bereich abschreckende Strafbestimmungen zu schaffen.»
Vorschlag zur Ergänzung des Strafgesetzbuchs
Art. 182bis Ausbeutung der Arbeitskraft (neu)
1 Wer jemanden in Sklaverei oder sklavereiähnlichen Praktiken, wie namentlich in Schuldknechtschaft oder in Leibeigenschaft hält, wer jemanden Zwangs- oder Pflichtarbeit verrichten lässt, wer eine Person durch Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit in einer Beschäftigung ausbeutet, namentlich, wenn die Beschäftigung zu Arbeitsbedingungen erfolgt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu den Arbeitsbedingungen von Arbeitnehmern stehen, die der gleichen oder einer vergleichbaren Beschäftigung nachgehen,wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft.
2 Eine allfällige Einwilligung des Opfers ist irrelevant.
3 Ist das Opfer minderjährig oder handelt der Täter gewerbsmässig, ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr.