Nina Burri arbeitete zwei Jahre lang als Assistenz-Staatsanwältin im Büro von Fatou Bensouda, der Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag (NL). Burri hatte vorwiegend mit Ermittlungen zu Kriegsverbrechen zu tun. Also mit Folter, Vertreibungen, Angriffen auf Zivilisten und sexueller Gewalt. «Ein Vollzeitjob, der mit einigen Herausforderungen verbunden war», sagt Burri im Rückblick.
In einem Team von sechs Staatsanwälten aus allen Kontinenten erhob und analysierte sie Beweismittel für die Anklage. «Das ist ein riesiges Mosaik, das sich über lange Zeit langsam verdichtet», beschreibt die 36-jährige Juristin ihre Arbeit. Je nach Resultat wurde entschieden, gegen wen unter welchen Punkten Anklage erhoben wird – oder ob noch weitere Ermittlungen nötig sind.
Das Schwierigste sei gewesen, Personen auf höchster Ebene mit konkreten Verbrechen direkt in Verbindung zu bringen. «Der verurteilte bosnische Serbe Ratko Mladic hatte über alle Meetings und zu allen Befehlen Tagebuch geführt», erklärt Burri. Das habe die Arbeit der Strafverfolger erleichtert. «Aber heute machen das nicht mehr viele potenzielle Straftäter.» Natürlich sehe man viele Radio- und TV-Ansprachen von militärischen und politischen Führern – aber meistens seien die Reden verschlüsselt. «Es ist schwierig aufzuzeigen, wie diese Reden im konkreten kulturellen Kontext zu verstehen sind, ob sie als Beweise für die Anstiftung der direkten Täter gelten oder nicht.» Auch sei es oft sehr aufwendig, an Beweismittel heranzukommen. «Das habe ich enorm unterschätzt», so Burri. Der ICC verfügt über keine eigene Polizei. Burri konnte nur in Staaten ermitteln, die dies zuliessen.
Die Mittel des Haager Gerichts sind bescheiden
Laut Burri hat der Wind punkto Verfolgung von Kriegsverbrechen in den letzten Jahren gedreht: «Die teils überzogenen Erwartungen an den Strafgerichtshof wurden enttäuscht, die Euphorie der Neunzigerjahre ist verflogen.» Immer mehr Staaten würden isolationistische Tendenzen zeigen – weg von internationaler Kooperation. «Staaten wie die USA, Israel oder die Philippinen kritisieren den Gerichtshof scharf.»
Die Gegner des ICC haben nicht viel zu befürchten. Burri: «Die Mittel, mit denen in Den Haag gearbeitet wird, sind bescheiden.» Sie illustriert dies mit einem Vergleich: «Letztes Jahr hatte die Staatsanwaltskammer des ICC ein Budget von knapp 50 Millionen Franken und einen Personalbestand von 380 Personen. Damit musste sie mehrere Jahre dauernde Kriege untersuchen. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich hingegen hatte 2018 ein Jahresbudget von 105 Millionen Franken und ein Team von 350 Personen – und das ohne Polizei oder Rechtshilfe des Bundesamts für Justiz!»
Auf die Frage, was die Schweiz für die internationale Strafverfolgung leiste, weist Burri auf die zwiespältige Rolle des Landes hin: Auf politisch-diplomatischem Parkett unterstütze das Aussendepartement die internationale Strafjustiz stark. Erst im Dezember wurde das Aushungern der Zivilbevölkerung in Bürgerkriegen zu einem Kriegsverbrechen erklärt, das der ICC verfolgen kann. Die Initiative kam von der Schweiz. «Bei der konkreten Strafverfolgung im eigenen Land hinkt die Schweiz aber stark hinterher», kritisiert Burri. Deutschland, Frankreich oder Schweden würden aktiv gegen syrische Kriegsverbrecher vorgehen. Und die Schweiz? «Die Bundesanwaltschaft macht bei der Strafverfolgung von Völkerstraftaten viel zu wenig. Der nötige Wille scheint schlicht nicht vorhanden zu sein.» Zudem würde es an den entsprechenden personellen Ressourcen fehlen.
Kritisch beurteilt Burri auch die gezielte Tötung des iranischen Generals Soleimani im Januar. «Die Tötung war völkerrechtlich illegal, falls die USA keine Beweise liefern, dass sie durch Soleimani unmittelbar bedroht wurden.» Laut Burri sind solche gezielten Tötungen im Völkerrecht höchst umstritten und in den meisten Fällen nicht legitim. Soleimani sei berühmt – deshalb der grosse Aufschrei auch im Westen. «Aber unter Barack Obama sind mehr Menschen durch gezielte Tötungen mittels Drohnen gestorben als unter anderen Präsidenten.»
Dort hinschauen, wo andere wegsehen
Nina Burri wurde bereits am Küchentisch politisiert: Im Elternhaus im thurgauischen Amriswil habe man stets engagiert über Abstimmungen und politische Themen diskutiert. Burri liebäugelte zuerst mit andern Studienrichtungen. «Ich wollte lange Diplomatin oder Kriegsreporterin werden. Ich wollte dort Probleme aufdecken und hinschauen, wo andere nicht hinsehen.»
Schliesslich entschied sie sich dann doch für eine praktische Studienrichtung. 2002 begann sie ihr Rechtsstudium an den Universitäten in Zürich und im spanischen Bilbao. Sie schloss es mit mit einer Doktorarbeit «über den Schutz von Journalisten in bewaffneten Konflikten» ab. Die Arbeit wurde unter anderem mit dem renommierten Paul-Guggenheim-Preis ausgezeichnet. Bereits ihre Maturaarbeit und Semesterarbeiten während des Studiums wurden mehrfach ausgezeichnet.
Nina Burri schreibt viel und gerne. Sie äussert sich regelmässig in wissenschaftlichen Beiträgen oder Zeitungsartikeln zu aktuellen völker- und grundrechtlichen Themen. «Ich möchte Theorie und Praxis verbinden», erklärt sie. Während eines Praktikums bei der TV-Sendung «10 vor 10» sei ihr klar geworden, dass sie keine Journalistin werden wolle. «Ich wollte nicht einzig darüber berichten, was andere machen, sondern selbst aktiv etwas gestalten.»
Das tut sie auch in ihrem neuen Job, den sie kürzlich angetreten hat: Burri arbeitet heute bei der Organisation «Brot für Alle» in Bern. Als Hausjuristin untersucht sie Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen und entwickelt strategische Prozessführungen. Ihr ist es ein Anliegen, dass rechtsfreie Räume – ob durch Konflikte, Politik oder andere Ursachen bedingt – nicht zulasten von Schwachen ausgenutzt werden.
Bald schon reist Nina Burri wieder ins Feld, diesmal, um Menschenrechtsverletzungen eines grossen Schweizer Konzerns zu untersuchen. Wo es hingeht, will sie nicht verraten.