Nachdem die Schweiz Anfang April vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg im Fall Klimaseniorinnen unterlag, waren die Kritiker aus der Polit- und Medienlandschaft schnell zur Stelle: Das Urteil sei «inakzeptabel», wetterte die SVP – und forderte den Austritt der Schweiz aus dem Europarat. Die NZZ schrieb von «Grössenwahn in Strassburg», der «Blick» von «Klima-Justiz» und «fremden Richtern».
Auch wenn er mit Kritik im Nachgang auf das Urteil gerechnet habe, sei er von deren Heftigkeit doch «überrascht» gewesen, sagt Andreas Zünd, der die Schweiz als Richter am EGMR vertritt und in dieser Rolle selbst angegriffen wurde. «Die Art und Weise hätte etwas zivilisierter sein können», sagt Zünd zu plädoyer.
Die Kritiker stellten das Urteil in Sachen Klimaseniorinnen mitunter in eine Reihe weiterer Urteile, die Strassburg in den letzten Jahren gegen die Schweiz gefällt hatte. Die Schweiz, so die NZZ, werde vom EGMR «inzwischen bald im Monatstakt verurteilt».
Die Aussage mag polemisch anmuten, ganz falsch ist sie nicht: Seit Dezember 2023 entschied der EGMR in fünf Fällen gegen die Schweiz. Am meisten Beachtung fand der Fall der Klimaseniorinnen. Doch auch das Verfahren um den (gemäss EGMR unrechtmässigen) Polizeikessel am 1. Mai 2011 in Zürich oder die Verurteilung der Schweiz wegen Racial Profiling liessen in der Öffentlichkeit aufhorchen.
Statistisch schnitt die Schweiz vor dem EGMR in den letzten Jahren nicht gut ab: Im Jahr 2023 wurde sie pro Million Einwohner 0,79 Mal verurteilt. Sie lag mit dieser Quote klar vor Deutschland (0,04 Verurteilungen), Frankreich (0,17 Verurteilungen) und Österreich (0,54 Verurteilungen). Von den Nachbarländern lag lediglich Italien – ein Land auf der Mittelmeerroute mit entsprechend hohen Asylzahlen – mit 0,81 Verurteilungen vor der Schweiz. Im Jahr 2022 war die Schweiz mit 0,8 Verurteilungen pro Million Einwohner verglichen mit allen Nachbarstaaten Spitzenreiterin und lag nur knapp hinter der international viel gescholtenen Türkei (0,86 Verurteilungen).
Experten aus Lehre und Praxis führen die Verurteilungen der Schweiz durch den EGMR weniger auf Strassburger Grössenwahn und fremde Richter zurück – sondern auf die Besonderheiten im Schweizer Rechtssystem und in der Rechtspraxis.
Deutsche Justiz prüft Menschenrechte genauer
Was den Fall der Klimaseniorinnen betrifft, so ist es für EGMR-Richter Andreas Zünd weitgehend Zufall, dass in diesem Präzedenzfall ausgerechnet die Schweiz verurteilt wurde. «Es hätte wohl auch ein anderes Land treffen können», sagt er. Dass rund um die Schweiz viele sogenannte «High profile»-Fälle, also Fälle, in denen es um bedeutende Grundsatzfragen geht, verhandelt würden, sei für die Schweiz grundsätzlich «ein gutes Zeichen» und zeuge von einer fortgeschrittenen Rechtsordnung.
Allerdings gebe es gewisse verfahrensrechtliche Aspekte, welche dazu beitragen könnten, weniger Fälle in Strassburg zu generieren, so Zünd. Dass beispielsweise von Deutschland weniger Fälle nach Strassburg kämen, habe mit den «hochqualifizierten Höchstgerichten» dort zu tun – dem Bundesverfassungsgericht, aber auch anderen wie beispielsweise dem Bundesverwaltungsgericht. «Diese Gerichte prüfen menschenrechtliche Fragestellungen auf ähnliche Weise, wie wir es in Strassburg tun.» Früher gab es in der Schweiz die staatsrechtliche Beschwerde, die verfassungsrechtliches Denken in den Mittelpunkt gestellt habe, so Zünd. Sie wurde abgeschafft, und das heutige System fördere die Prüfung von Verfassungsfragen nicht mehr.
Gemäss dem Artikel 190 der Bundesverfassung sind Bundesgesetze für das Bundesgericht und die rechtsanwendenden Behörden massgebend. Sie dürfen nicht oder nur eingeschränkt auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüft werden. «Dass Bundesgesetze damit grundsätzlich sakrosankt sind, führt bei den Schweizer Richtern zu gewissen Hemmungen bei der Feststellung von Menschenrechtsverletzungen», sagt Zünd. Auch wenn die Menschenrechtskonvention gemäss Artikel 190 der Bundesverfassung genauso massgebend ist wie Bundesgesetze – und seit dem PKK-Urteil von 1998 gemäss Bundesgericht gar grundsätzlich vorgeht.
Lorenz Langer, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Zürich, sieht Artikel 190 der Verfassung eher als «Symptom, denn als Ursache». «Politische Fragen gehören nicht vor Gerichte – diese Haltung ist in der Schweiz sehr ausgeprägt», sagt er. Und die Fälle, die vor dem EGMR verhandelt werden, hätten schnell einmal eine politische Komponente.
Hinzu kommt: «Ein gelehrter Juristenstand und spezialisierte Gerichte – das hat sich in der Schweiz eher spät durchgesetzt, das Laienrichtertum galt hier lange als Ideal.» Hinzu komme die Bedeutung des Föderalismus: «Das Bundesgericht räumt kantonalen Entscheidungsträgern oft einen erheblichen Ermessensspielraum ein. Der Gerichtshof in Strassburg hat verständlicherweise eine andere Perspektive.»
Bundesgericht beharrt auf Formstrenge
Zünd, vor seinem Wechsel nach Strassburg Bundesrichter, kennt eine weitere Eigenheit des schweizerischen Rechtssystems, die bei Schweizer Richtern zu Zurückhaltung bei der Überprüfung menschenrechtlicher Fragestellungen führt. Gemäss Artikel 106 Absatz 2 des Bundesgerichtsgesetzes prüft das Bundesgericht die Verletzung von Grundrechten nur, «wenn eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist». Vereinfacht gesagt: Wenn Grundrechtsverletzungen nicht ganz genau benannt und begründet werden, tritt das Bundesgericht gar nicht auf solche Beschwerden ein.
Vor dem Gerichtshof für Menschenrechte hingegen gelten mildere Massstäbe: «Für uns genügt es, wenn eine bestimmte Rüge im nationalen Instanzenzug in der Substanz vorgebracht wurde – es muss nicht explizit ein bestimmter Artikel erwähnt werden», sagt Zünd. Dass es zwischen Lausanne und Strassburg eine derartige Differenz bezüglich der Formstrenge gibt, sei ein weiterer Aspekt für abweichende Urteile. «Wenn das Bundesgericht ein bisschen weniger strikt wäre, gäbe es weniger Differenzen», sagt Zünd.
Rechtsanwälte äussern den Verdacht, dass das Bundesgericht manchmal formelle Aspekte vorschiebe, um sich inhaltlich nicht mit einem brisanten Vorbringen auseinandersetzen zu müssen – und heikle Fälle bewusst an den EGMR delegiert. So argumentiert etwa der Zürcher Rechtsanwalt Viktor Györffy, der in Strassburg erfolgreich gegen die präventive Festnahme von 542 Demonstranten durch die Zürcher Polizei klagte.
Auch das Bundesgericht sah darin einen Freiheitsentzug nach Artikel 5 der Menschenrechtskonvention. Ein solcher Freiheitsentzug braucht eine Begründung. Das Bundesgericht sah diesen in «drohenden Straftaten», welche die Eingekesselten möglicherweise begangen hätten.
Gemäss Györffy eine «aus den Fingern gesogene» Argumentation – die von der Polizei im vorinstanzlichen Verfahren auch nicht vorgebracht wurde. «Ich bin überzeugt, dass die Bundesrichter genau wussten, dass ihre Begründung in Strassburg nicht standhalten wird.» Sie hätten es aber wohl vorgezogen, in einem öffentlichkeitswirksamen Fall die Polizei zu schützen und einen heiklen Entscheid nach Strassburg auszulagern.
Der Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer sagt, das Bundesgericht sei «durchaus schon gestaltungswilliger» gewesen. «Als es in der Schweiz noch keinen geschriebenen Grundrechtskatalog in der Bundesverfassung gab, anerkannte das Bundesgericht ungeschriebene Grundrechte – zum Beispiel die Meinungsfreiheit.»
Es habe dies nicht getan, weil es «politisieren» wollte, sondern weil es einer gewissen juristischen Logik gefolgt sei, sagt Schefer. Heute sei es das Selbstverständnis des Gerichts, «dass es sich nicht als verfassungsmässiges Korrektiv der Bundesversammlung» sehe. Auch fehle es dem Bundesgericht an Zeit und Ressourcen, sich vertieft mit rechtlichen Grundsatzfragen auseinanderzusetzen.
Schweiz als einziger Staat nicht im Courts Network
Der selbstauferlegten Zurückhaltung der Schweizer Gerichte bei menschenrechtlichen Fragen stehe eine Zivilbevölkerung gegenüber, in der die Menschenrechtskonvention sehr populär sei, glaubt Stefan Schlegel, seit Februar Direktor der neu geschaffenen Schweizer Menschenrechtsinstitution. «Es gab in der Schweiz Volksinitiativen, welche die Konvention betrafen, sie ist bekannt und wird von Rechtssuchenden rege genutzt», so Schlegel. In der Schweiz habe es zudem früher als anderswo – zum Beispiel in Osteuropa – Strukturen gegeben, die den Gang nach Strassburg erleichterten – und entsprechend bewanderte Anwälte.
«Das Verhältnis zwischen der Schweiz und Strassburg hat sich aber nicht so entwickelt, wie es von den Behörden einst vorgesehen war», sagt Schlegel. Bei der Ratifzierung der Menschenrechtskonvention im Jahr 1974 sagte der damalige Bundesrat Pierre Graber (SP) noch, dass eine «Verurteilung der Schweiz wegen Verletzung der Menschenrechte nicht vorstellbar» sei. «Die Unterzeichnung wurde als Solidaritätsbekundung zu den Osteuropäern aufgefasst, die unter dem Joch des Kommunismus lebten.»
Dass die Schweiz und Strassburg bis heute Distanz wahren, zeigt sich am Superior Courts Network des EGMR – einer Plattform zum Austausch unter den obersten Gerichten der Mitgliedstaaten. Die obersten Gerichte können sich so zum Beispiel über Besonderheiten der Rechtssysteme der einzelnen Länder informieren und darüber diskutieren. Von den 46 Unterzeichnerstaaten der Menschenrechtskonvention sind deren 45 dem Netzwerk angeschlossen. Ein Land fehlt: die Schweiz.