Norwegen gilt als vorbildlich im Umgang mit Gefangenen. Dort soll sich die Strafe auf den Entzug der Freiheit beschränken. Die Haft dient von Anfang an der Wiedereingliederung. Inhaftierte sollen daher respektvoll behandelt werden. Das hat einen positiven Effekt: Die Rückfallquote ist sehr niedrig. Zwei Jahre nach der Entlassung beträgt die Wiederverurteilungsrate dort nur 20 Prozent. Dagegen ist sie in angelsächsischen Ländern wie Neuseeland und den USA mit je 60 Prozent sehr hoch (siehe Tabelle im PDF). In Europa ist die Rückfallquote drei Jahre nach der Entlassung mit 51 Prozent in den Niederlanden am höchsten. Allerdings ist es äusserst schwierig, vergleichbares Zahlenmaterial zu finden.
Rückfallquote: Tendenz sinkend
Die aktuellsten Zahlen des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2013 zeigen: Die Schweiz weist eine höhere Rückfallquote auf als Norwegen und Österreich, aber eine niedrigere als die meisten anderen Staaten. Von den total 1309 in der Schweiz im Jahr 2013 entlassenen Häftlingen wurden 461 innerhalb von drei Jahren wieder wegen eines Verbrechens oder Vergehens verurteilt – dies entspricht einer Quote von rund 35,2 Prozent.
Die Tendenz ist sinkend: Bei den im Jahr 2008 Entlassenen betrug die Rückfallquote noch
48,5 Prozent, fünf und zehn Jahre davor waren es ebenfalls rund 48 Prozent. Wichtig: Alle Zahlen umfassen nur die wiederverurteilten Schweizer Staatsangehörigen. Daten zu Verurteilungen der Ausländer sind nicht enthalten, da es die verfügbaren Informationen nicht erlauben, zwischen in der Schweiz und nicht in der Schweiz wohnhaften Ausländern zu unterscheiden.
Neben der Wiederverurteilungsrate erhebt das Bundesamt für Statistik auch die Wiedereinweisungsrate. 227 der total 1309 im Jahr 2013 in der Schweiz entlassenen Häftlinge wurden binnen dreier Jahre erneut verurteilt und inhaftiert – das sind 17,3 Prozent. Auch hier war die Quote in früheren Jahren höher (siehe Tabelle im PDF).
Strafgesetzrevision von 2007 wirkt sich positiv aus
Wo liegen die Gründe für diese positive Entwicklung? Daniel Fink, Lehrbeauftragter für Kriminalstatistik und Kriminalpolitik an der Uni Luzern, macht die Revision des Strafgesetzbuches von 2007 für die gesunkene Rückfallquote verantwortlich. Mit der Revision seien die kurzen Freiheitsstrafen bei Erstdelinquenten fast gänzlich abgeschafft und die – meist bedingt umgesetzte – Geldstrafe eingeführt worden. «Damit gingen sowohl die Wiederverurteilungs- als auch die einweisungsraten massiv zurück.» Gemäss Fink zeigen die Zahlen, dass eine Geldstrafe genügt, um eine Person von der Begehung weiterer Delikte abzuhalten. «Es ist eindeutig nicht mehr notwendig, kurze Freiheitsstrafen auszusprechen.» Die Tatsache, dass bei den Entlassenen die Wiederverurteilungsrate relativ hoch liegt, aber die Wiedereinweisungsrate tief, zeige, dass es bei den urteilenden Behörden zu einem Umdenken kam: «Bei Entlassenen wird nicht mehr systematisch erneut eine unbedingte Freiheitsstrafe verhängt. Wahrscheinlich ist auch dafür die Revision des Sanktionenrechts verantwortlich.»
Die aktuellen Zahlen des Bundesamts für Statistik lassen zudem folgende Schlüsse zu:
Männer und Frauen sind ähnlich rückfallgefährdet.
Ein höheres Rückfallrisiko haben jüngere Verurteilte bis 34 Jahre und solche mit zwei oder mehr Vorverurteilungen.
Vergleichsweise viele Rückfalltäter gibt es im Bereich des Betäubungsmittelgesetzes und des Strafgesetzes.
Weniger oft verstossen Personen wiederholt gegen das Strassenverkehrsgesetz.
Gründe für die im internationalen Vergleich niedrige Wiedereinweisungsquote der Schweiz sieht Strafvollzugsexperte Benjamin Brägger im «menschlichen Vollzug». «Gefangene sind laut Gesetz als vollwertige und im Grundsatz eigenverantwortliche Menschen zu respektieren», sagt Brägger. «Sie sollen nicht zum
Objekt reduziert werden.» Wie in Norwegen soll auch in der Schweiz die Normalität im Gefängnis so weit wie möglich den allgemeinen Lebensverhältnissen entsprechen (Artikel 75 Absatz 1 StGB).
Brägger erwähnt als weiteren positiven Punkt, dass es keine sehr grossen Haftanstalten gibt. Die grösste Einrichtung mit 460 Plätzen ist die Justizvollzugsanstalt Pöschwies in Regensdorf ZH. In den USA gibt es Haftanstalten mit bis zu 20 000 Plätzen. «Je grösser ein Gefängnis ist, desto standardisierter wird dessen Führung, was eine gewisse Entmenschlichung nach sich zieht», sagt Fink.
Die tiefe Rückfallquote ist laut Brägger auch auf den individuellen, auf Wiedereingliederung ausgerichteten Vollzug zurückzuführen. «Dank der Einführung des risikoorientierten Sanktionenvollzugs in allen Deutschschweizer Kantonen wurde die Gefahr für die Begehung von neuen Straftaten nach der Entlassung minimiert.»
Auch der offene Vollzug sorgt für tiefe Rückfallquoten. In dessen Einrichtungen werden Häftlinge in adäquatem Rahmen auf das Leben in Freiheit vorbereitet. «Dadurch kann die Rückfallquote nach der Entlassung entscheidend gesenkt werden», sagt Patrick Cotti, Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrums für den Justizvollzug.
Laut Christoph Urwyler, Soziologe und Jurist am Schweizerischen Kompetenzzentrum für Justizvollzug, lassen sich Rückfälle auch durch bedingte Entlassungen reduzieren. «Gefangene müssen den Umgang mit der Freiheit erlernen.» Dies sei nur möglich in der relativen Freiheit einer bedingten Entlassung. «Sonst drohen überbelegte Gefängnisse und ein schlechtes Anstaltsklima.»
Humaner Vollzug wirkt sich positiv aus
Thomas Noll vom Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich ergänzt, in der Schweiz würden viele Straftäter sowohl im Gefängnis als auch nach der Entlassung von einer risikosenkenden Behandlung profitieren. Als Beispiele nennt er betreuerisch tätige Aufseher und die Unterbringung von Insassen in kleinen, übersichtlichen Wohngruppen.
Die international unterschiedlich hohen Rückfallquoten erstaunen die Fachleute nicht. Benjamin Brägger ist überzeugt, dass sich ein humaner Strafvollzug positiv auf die Rückfallquote auswirkt. «Während in den USA der Rachegedanke, die Unterdrückung des Häftlings und die Sicherheit des Personals im Zentrum stehen, ist dies in der Schweiz und in Norwegen die Wiedereingliederung des Gefangenen in die Gesellschaft.»
Trotz des guten Abschneidens im internationalen Vergleich sehen die Vollzugsfachleute auch in der Schweiz noch Verbesserungsmöglichkeiten. Laut Thomas Noll könnte sich der gesamte Strafvollzug noch vermehrt am Gedanken der Wiedereingliederung orientieren.
Daniel Fink sagt, die Entlassung sollte bereits ab dem ersten Tag des Antritts einer Strafe oder Massnahme mit den Gefangenen vorbereitet werden: «Dies ist oft erst nach der Hälfte des Strafvollzugs der Fall.» Und auch dann werde noch nicht genug getan – und zwar weder durch das Gefängnis noch durch den Bewährungsdienst oder durch weitere soziale oder medizinische Dienste, die den Übergang in die Gesellschaft begleiten sollten.