plädoyer: Haben sich Ihre Erwartungen an die Justiz im Lauf Ihrer langen Karriere verändert?
Bernard Rambert: Ehrlich gesagt, nein. Ich habe nach wie vor tiefe Erwartungen.
Woher kommt der Antrieb, trotzdem bis ins hohe Alter als Anwalt tätig zu sein?
Die Arbeit fasziniert mich nach wie vor. Als Strafverteidiger stehe ich kompromisslos auf der Seite eines Menschen, der in einer schwierigen Situation ist. Herausfordernd ist auch die Konfrontation mit dem nicht zu unterschätzenden Machtapparat des Staats. Und Strafverteidigung ist bis zu einem gewissen Grad wie ein Schachspiel: Man muss eine möglichst erfolgreiche Strategie entwickeln und Geduld zeigen. Der Job kann allerdings auch ziemlich frustrierend sein.
Wie reagieren Sie, wenn ein Verfahren für einen Klienten schlecht ausgeht?
Ich bin nicht nur frustriert. Ich frage mich auch jedes Mal, was ich wohl alles falsch gemacht habe. Zu meiner Entlastung sage ich mir dann allerdings, dass man von dieser Justiz nichts anderes erwarten kann (lächelt). Aber die Selbstzweifel bleiben bis ins hohe Alter.
Hat sich Ihr Umgang mit Staatsanwälten und Richtern im Lauf der Jahre geändert?
Die Staatsanwaltschaft sucht nach Beweisen für ihre These, dass jemand eine Straftat begangen haben soll. Die Verteidigung sucht nach Gegenbeweisen oder versucht zumindest das, was die Staatsanwaltschaft vorlegt, zu entkräften. Die Interessenlage der beiden Lager ist somit in der Regel klar konträr – ausser in Fällen, in denen die sogenannte Schuld anerkannt ist. Die Ausgangslage ist also konfliktbeladen, und Konflikte werden nicht immer freundlich ausgetragen – vor allem, wenn die eine Seite mit Tricks operiert.Faule und weniger faule Tricks waren früher im Strafprozess häufiger.
Entsprechend heftig konnten die Schlagabtäusche zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung ausfallen. Heute geht es meistens etwas gesitteter zu und her. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass die Rechte der Verteidigung in den letzten Jahrzehnten ausgebaut wurden – wenn auch viel zu wenig. Faule Tricks vonseiten der Staatsanwaltschaft sind immer noch möglich, aber weniger. Bei den Richtern habe ich den Eindruck, sie seien früher direkter und ehrlicher aufgetreten. Heute versteckt man sich oft hinter formellen Floskeln. Aber das ist mein persönlicher Eindruck und keineswegs bei allen der Fall. Es hängt auch davon ab, wie man selbst auftritt. Und natürlich auch vom Fall, der verhandelt wird.
Haben sich die Arbeitsmethoden der Gerichte nach Ihrer Erfahrung geändert?
Es gibt viele Richterinnen und Richter, die ihre Arbeit gut machen. Das hat auch mit ihrer weltanschaulichen Einstellung zu tun. Die parteipolitische Zugehörigkeit ist dabei weniger entscheidend. Mir sind SVP-Richter oft lieber als SP-Richter. Entscheidend ist, wie unabhängig ein Richter von den Zwängen in dieser Gesellschaft ist. Eine SP-Richterin ist oft staatsgläubiger als ein SVP-Richter. Und von der Richterin der Alternativen Liste (AL) will ich jetzt gar nicht sprechen. Die müssen sich und den Kollegen beweisen, wie staatstragend sie sind, und damit ihre vermeintliche Unabhängigkeit links liegen lassen – meistens auf Kosten der Beschuldigten.
Das ist zumindest meine persönliche Erfahrung. Ich bin überzeugt, dass im Fall von Brian Keller ein AL-Richter nie und nimmer eine Haftentlassung angeordnet hätte, aus Angst vor den möglichen Konsequenzen für ihn selbst, wenn etwas schiefgegangen wäre. Mut für kreative Lösungen traue ich linken Richtern weniger zu. Aber es gibt natürlich auch Ausnahmen.
Hat sich die Qualität der Urteilsbegründungen Ihrer Ansicht nach verbessert?
Na ja. Die Begründungen sind vollgespickt mit Textbausteinen, die unheimlich gescheit daherkommen und den Anschein von Objektivität und Wissenschaftlichkeit erwecken. Die allgemeinen rechtlichen Ausführungen werden länger und länger, die Begründung des konkreten Entscheids entsprechend kürzer und enden nicht selten ohne weitere Begründung mit dem Sätzchen: «Daran vermögen die Ausführungen der Verteidigung nichts zu ändern.» Amen, könnte man da noch hinzufügen.
Aber bitte: Das ist natürlich nicht immer so, es gibt auch Urteile, die sehr gut begründet sind. Und im Übrigen sind wir Verteidiger oft nicht viel besser, wenn wir in unseren Plädoyers und Schriftsätzen langfädige juristische Erörterungen aus irgendeinem Bundesgerichtsurteil oder dem Basler Kommentar abschreiben, die fast alle im Gerichtssaal kennen.
Das Strafprozessrecht hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert, etwa mit der Einführung des Haftrichters oder des Anwalts der ersten Stunde. Zum Vorteil der Beschuldigten?
Der Haftrichter ist nur auf dem Papier eine Errungenschaft, in der Realität nicht. Formal handelt es sich beim Haftrichter um eine unabhängige Instanz. In Wirklichkeit ist die Situation zumindest in Zürich schlechter als zuvor. Die Haftrichter winken 98 bis 99 Prozent der Anträge der Staatsanwälte durch. Für mich heisst das oft: Wenn ich eine Haft vermeiden oder eine Entlassung erreichen will, muss ich versuchen, mit der Staatsanwaltschaft klarzukommen oder via Bundesgericht Druck aufzusetzen, was aber oft genug schiefgeht. Und dann kommen wieder die Selbstzweifel auf (lächelt).
Das war nicht der Sinn der Zwangsmassnahmengerichte.
Ein Problem ist die Sicherheitshysterie, die unsere Gesellschaft erfasst hat und enormen Druck auch auf die Richter auslöst. Das entschuldigt die Entscheide aber nicht, es erklärt sie teilweise. Allgemein herrscht ein Anpassertum vor. Man will die Karriere nicht aufs Spiel setzen, nicht anecken. Auch das betrifft natürlich nicht alle.
Was brachte der Anwalt der ersten Stunde?
Das ist aus meiner Sicht fast die grösste Errungenschaft. Und zwar deshalb, weil wir Verteidiger sofort intervenieren können, vorausgesetzt, die Beschuldigten machen von diesem Recht Gebrauch. Dazu kommt, dass wir via Haftprüfungsgesuch zumindest einen Teil der Akten einsehen können. Das kann aber auch gefährlich sein, weil uns nur ein Teil der Akten vorgelegt wird, was uns in die Irre führen kann.
Ist die Waffengleichheit zwischen Staatsanwalt und Verteidiger nicht grösser geworden?
Nein, davon kann aus meiner Sicht keine Rede sein. Klar, es gibt den Anwalt der ersten Stunde, es gibt bessere Teilnahmerechte et cetera. Aber uns kleinen Strafverteidigern steht ein mächtiger Staatsapparat gegenüber: Die Polizei und die Staatsanwaltschaft, die all ihre Gutachter nicht selbst bezahlen müssen, auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite eine Anwältin oder ein Anwalt, allein und meist ohne finanzielle Ressourcen und im Fall einer amtlichen Verteidigung unter dem ständigen Druck, dass das Gericht in Union mit der Staatsanwaltschaft «unnötigen» Aufwand aus der Kostenrechnung streicht. Ist das Waffengleichheit? Nein.
Wurde die Position des Individuums gegenüber dem Staat im letzten halben Jahrhundert unter dem Strich eher besser oder schlechter?
Es gibt Bereiche, wo sie besser ist. Zum Beispiel die Haftbedingungen: Sie haben sich in der Untersuchungshaft verbessert. Es gibt weniger Einzelhaft, allerdings noch immer viel zu viel. Oder die «Drogenkriminalität»: In den 1970er- und 1980er-Jahren herrschte bei den Gerichten eine absolute Uneinsichtigkeit für die Ursachen einer Drogenabhängigkeit. Drogenkonsumenten waren einfach Kriminelle, basta. Heute ist allen klar, dass Sucht eine Krankheit ist. Im materiellen Strafrecht sehe ich den Fortschritt nicht, im Gegenteil.
Die Fülle an neuen Straftatbeständen ist enorm, auch im Nebenstrafrecht. Ein Vorteil für die Gesellschaft
ist nicht ersichtlich. Eine eigentliche Katastrophe ist heute der Massnahmenvollzug. Bei einer Massnahme nach Artikel 59 des Strafgesetzbuchs ist man verloren. Gefangene sind den Psychiatern ausgeliefert. Und: Früher wurden die Leute nach zwei Dritteln der Strafe entlassen. Heute nicht mehr.
Sie sind der einzige Anwalt der Schweiz, der 13 Jahre lang vom Nachrichtendienst des Bundes observiert wurde. Das erfuhren Sie erst vor acht Jahren. Waren Sie überrascht?
Ja, trotz allen Vorbehalten punkto Rechtsstaatlichkeit der Schweizer Justiz. Alle sechs Monate musste die Bundesanwaltschaft dem Präsidenten der Anklagekammer des Bundesgerichts einen Zwischenbericht abstatten. Darin hiess es während 13 Jahren immer, der Verdacht habe sich nicht erhärtet, man brauche noch mehr Zeit. Und die jeweiligen Präsidenten segneten die Bespitzelung nichtsdestotrotz frisch-fröhlich ab. Und im Rahmen der Fichenaffäre wurde das Verfahren dann sang- und klanglos eingestellt, selbstredend ohne mich zu informieren. Eine Farce.
Bedeutet das, dass alle Klienten aktenkundig waren, das Anwaltsgeheimnis in der Kanzlei Rambert aufgehoben?
Ja, alle Telefongespräche wurden mitgehört, die Post vor Zustellung geöffnet. Bei jedem Kontakt eines Klienten per Telefon oder im Büro stand im Rapport, wer es genau war, was er wollte, und was über ihn bekannt war, inklusive Eltern, etwa ob sein Vater Alkoholiker war. Die Einsicht in die Akten musste ich mir via Bundesverwaltungsgericht erstreiten. Die Gegenseite war bis am Schluss gegen eine Akteneinsicht.
Haben es Beschuldigte heute einfacher als früher, einen Anwalt zu finden, der sich für sie engagiert?
Ja, eindeutig. Es gibt viel mehr jüngere und nicht mehr so junge Anwälte und Anwältinnen, die fachlich top sind und sich auch engagieren. Daneben gibt es freilich wie früher auch andere: die nur so viel machen, wie Geld vorhanden ist, und solche, die Angst haben, bei den Behörden anzuecken.
Zum Schluss ein Tipp an einen jungen Anwalt?
Er soll keine Angst haben, weder vor der Staatsanwaltschaft noch vor Gerichten. Und er soll immer daran denken: Der Klient hat nur ihn. Opfer haben die Opferhilfe, einen Geschädigtenvertreter und die Staatsanwaltschaft. Die beschuldigte Person nur uns.
Ein Verteidiger verteidigt in den allermeisten Fällen keine Tat, sondern einen Menschen. Wichtig ist die Empathie für den Klienten. In einem Strafprozess geht es nie um die Suche nach einer materiellen Wahrheit. Die gibt es nicht. Jeder erzählt eine Geschichte. Weder der Staatsanwalt noch der Verteidiger noch die Richter wissen, was passiert ist. Es geht nur um einen Menschen, der von einem übermächtigen Staat in die Enge getrieben wird.
Ein Wunsch an die nächste Generation?
Mehr Respekt vor der Menschenwürde. Die Gefängnisse sind gefüllt mit Leuten, die das ganze Leben untendurch mussten. Die schon als Kind zu Hause oder wo auch immer ohne Geborgenheit, Sicherheit und Empathie aufwuchsen, später keinen Beruf erlernen konnten, also von A bis Z benachteiligt waren. Solche Karrieren könnte man verhindern.