Die Bahnen haben die Anzahl Kameras in Zügen und Bahnhöfen in den letzten acht Jahren stark erhöht: auf mehr als 36'000 Aufnahmegeräte. Sie überwachen die Passagiere heute in Zügen, Bussen und Bahnhöfen. Jeden Monat landen rund 200 Videos der SBB bei den Strafverfolgungsbehörden. Diese Zahlen publizierte der «Sonntags-Blick» im Frühjahr. Doch unter welchen Bedingungen dürfen die Betriebe des öffentlichen Verkehrs Passagiere filmen und die Videos der Justiz aushändigen?
Privaten Firmen ist es grundsätzlich untersagt, den öffentlichen Raum zu überwachen. Das steht in einem Merkblatt des Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragen. Gleich entschied das Bundesgericht mit Urteil 6B_1468/2019 vom 1. September 2020. Auch Kantonen und Gemeinden sind bei der Überwachung des öffentlichen Raums Grenzen gesetzt. Die Filmerei bedarf einer gesetzlichen Grundlage und muss erforderlich sein.
Doch den Betrieben des öffentlichen Verkehrs gab das Parlament einen Freipass, um Wagen und Bahnhöfe mit Kameras auszustatten. Das Personenbeförderungsgesetz ermächtigt Betriebe des öffentlichen Verkehrs, «zum Schutz der Reisenden, des Betriebes und der Infrastruktur eine Videoüberwachung einzurichten». Die Daten müssen mindestens drei Tage gespeichert und spätestens nach 100 Tagen gelöscht werden. Die Betriebe dürfen die Aufnahmen nur an Strafverfolgungsbehörden und andere Behörden herausgeben, die Anzeigen von Firmen bearbeiten oder über ihre Zivilansprüche entscheiden.
Tausende Aufzeichnungen pro Jahr herausgegeben
Auf Anfrage von plädoyer versichern sieben stichprobemässig angefragte Verkehrsbetriebe unisono, die Strafverfolger würden die Überwachungsvideos nur mit einer schriftlichen Herausgabeverfügung erhalten. SBB-Sprecherin Sabrina Schellenberg etwa sagt, jährlich würden 2400 Aufzeichnungen von den Staatsanwaltschaften oder der Polizei verlangt.
Ähnlich antworten die BLS. Sie hätten der Polizei oder den Staatsanwaltschaften im vergangenen Jahr 750 Videos zugänglich gemacht. Ein Postauto-Sprecher berichtet von 121 Filmherausgaben. Die Strafverfolger würden die Aufnahmen vermehrt für Ereignisse ausserhalb des Postautos anfordern, etwa einem Raub in einem Tankstellenshop. Die Verkehrsbetriebe der Stadt Zürich übergaben der Staatsanwaltschaft und Polizei letztes Jahr in 487 Fällen Videomaterial, bei der Südostbahn waren es 110 Fälle, bei den Basler Verkehrs-Betrieben 80, desgleichen bei der Rhätischen Bahn.
Das sei rechtlich zulässig, sagt Monika Simmer, Assistenzprofessorin für Strafrecht an der Universität St. Gallen. Gestützt auf Artikel 265 der Strafprozessordnung dürften sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Polizei Videoaufnahmen verlangen. Zu Zwangsmassnahmen, etwa einer Strafandrohung, sei jedoch nur die Staatsanwaltschaft befugt.
Die Praxis der Strafverfolger ist je nach Kanton unterschiedlich. In den Kantonen Bern und Zürich stammt ein Grossteil der Herausgabebegehren von der Polizei. Die Generalstaatsanwaltschaft und Kantonspolizei Bern einigten sich 2021 in einem gemeinsamen Merkblatt, die Herausgabeersuche würden für einen «effizienten» Ablauf «üblicherweise durch die Polizeikorps und nicht mehr die Staatsanwaltschaften erfolgen».
In den Kantonen Aargau oder Graubünden ergehen die Herausgabeverfügungen hingegen stets über die Staatsanwaltschaft und nicht die Polizei. Eine mögliche Erklärung für die Aargauer Praxis ist, dass der Kanton vor der Einführung der eidgenössischen Strafprozessordnung ein entsprechendes Unterschungsrichtermodell kannte. Bereits damals ergingen die Herausgabeverfügungen durch die Untersuchungsrichter und nicht die Polizei.
Ob in einem Kanton die Staatsanwaltschaft oder die Polizei die Herausgabe der Videos anfordert, spielt für die Passagiere allerdings keine Rolle. Stets reicht ein einfacher Brief und schon sind die Ermittler im Besitz der gewünschten Beweismittel.