Anwaltskanzleien versuchen, die Arbeit mit neuen Computerprogrammen zu erleichtern. Es sind nicht nur bekannte Tools wie Deepl oder Chat-GPT Plus, die zum neuen Arbeitsalltag gehören. Gemäss «Anwaltsrevue» vom September benutzen grosse Kanzleien und Rechtsdienste vor allem Programme wie Herlock.ai, MS Copilot, Co Counsel oder Legartis. Diese selbstlernenden Programme können Textentwürfe formulieren sowie Dokumente erstellen und analysieren.
Daniel Brugger ist Gerichtsschreiber am Bundesgericht. Er hat sich durch IT-Projekte im Rechtsbereich wie «Frag den Onlinekommentar» (Fragdenok.ch) oder Fragmeisterjuristen.ch einen Namen gemacht. Er sagt: «Kanzleien haben oft Probleme mit dem Wissensmanagement. Hier können programmierte Suchtools helfen, die nicht nur Stichworte, sondern auch die Bedeutung von Suchanfragen evaluieren und so das Auffinden von Informationen erleichtern – eine sogenannte semantische Suche.»
Wie bei einer Google-Suche liefern solche Tools laut Brugger bessere Suchergebnisse. Zudem sei mit solchen Werkzeugen der sogenannten künstlichen Intelligenz (KI) auch ein Dialog mit Dokumenten möglich, bei dem Fragen wie «Wie oft kommt dieser Begriff vor?» oder «Wann wurde diese Aussage zum ersten Mal gemacht?» gestellt werden könnten.
«Die Systeme sind alles andere als intelligent»
Marco Candinas, Gerichtsschreiber am Luzerner Kantonsgericht, stellt klar: «Die Systeme sind alles andere als intelligent.» Chatroboter wie Chat-GPT verstünden Inhalte nicht, sondern würden Ergebnisse auf Basis von Algorithmen liefern. Es seien Assistenztools, ihre Ergebnisse müssten immer von Menschen überprüft werden.
Candinas verfasste mit «KI für Anwälte und Juristinnen» den ersten Ratgeber für den praktischen Einsatz von selbstlernenden Computerprogrammen im juristischen Alltag. Er warnt: «Nutzer müssen sich beim Arbeiten mit Sprachmodellen bewusst sein, dass die detaillierte Funktionsweise eine Blackbox darstellt.» Es sei nicht nachvollziehbar, wie ein Programm einen Text generiere. Daher sei es notwendig, sich auf den In- und den Output des Systems zu konzentrieren.
Entscheidend ist dabei laut Candinas die Erkenntnis, dass der Output stark vom Input abhängt, also von der Struktur und dem Kontext der Eingaben, den sogenannten Prompts. «Gutes Prompting macht den Unterschied zwischen einer hilfreichen und einer unbrauchbaren Antwort aus», so Candinas. «Anfangs wird die Integration dieser Programme in den Arbeitsalltag Zeit kosten. Aber mit der nötigen Übung und Routine führt ihr Einsatz zu einem deutlichen Effizienzgewinn.»
Einmal erstellte Eingaben könnten als Vorlagen abgespeichert und anschliessend standardmässig verwendet werden, was den Arbeitsaufwand vor allem bei Schriftsätzen wie Mandantenschreiben, Verträgen oder Klagen deutlich verringere.
Generell gelte im Umgang mit solchen KI-Modellen aber: Ein effizienter Einsatz sei nur bei Kenntnis der jeweiligen Materie möglich. «Wenn ich als Nutzer über keine Kenntnis in einem bestimmten Rechtsbereich verfüge, kann ich die Programme nicht gewinnbringend einsetzen.
Einerseits bin ich nicht in der Lage, eine konkrete, strukturierte Aufgabe für das System zu formulieren. Andererseits ist es mir aufgrund des fehlenden Fachwissens nicht möglich, den Output des Programms auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen.» Deshalb sei die Vorstellung, dass Programme Rechtsanwälte und Juristen ersetzen, «absolut unrealistisch». Der Jurist bleibe der Fachmann, der mit klaren Anweisungen dafür sorge, dass das System das tut, was er will.
David Rosenthal ist Partner der Kanzlei Vischer und auf Daten- und Technologierecht spezialisiert. Er sagt, die Versprechen der Anbieter von Legal-Tech-Anwendungen seien «oft vollmundig». Viele Programme brächten nicht, was sie versprechen.
Microsoft analysiert Texte «aus Sicherheitsgründen»
Andere Anwälte beklagen, dass das Berufsgeheimnis beim Einsatz von Computerprogrammen oder Cloud-Diensten verletzt werden könnte. Konzerne wie Microsoft erlaubten sich, Texte von Kunden auszuwerten – angeblich aus Sicherheitsgründen und zur Bekämpfung von gesetzwidrigen Handlungen. Ein weiterer Vorwurf: Microsoft erlaube Kanzleien nicht, die Überwachung zu deaktivieren. Die Firma versichere zwar, sie lese die Daten der Nutzer nicht, sie erkläre aber auch, dass bei einem Systemalarm eine Überprüfung durch Personal erfolge. Dies kollidiere mit dem Anwaltsgeheimnis.
Auch Rosenthal kritisiert die «manuelle Sichtung der Inhalte durch Mitarbeiter von Microsoft». Eine grosse Firma könne zwar bei Microsoft den Ausschluss dieses «Missbrauchs-Monitorings» verlangen. «Aber selbst grosse Anwaltskanzleien in der Schweiz gelten für Microsoft als kleine Kunden und sind mit ihren Berufsgeheimnisanliegen erfolglos.»
Rosenthal fand immerhin bei der Konkurrenz Gehör: «Wir haben mit Google Cloud nun eine Lösung für unsere Berufsgeheimnisdaten gefunden.» Google Cloud habe zugesagt, «auf die Prüfung von Inhalten durch Menschen zu verzichten». Die Kanzlei habe sich auch bei anderen Bestimmungen zum Schutz des Berufsgeheimnisses einigen können.
Schnelle Bearbeitung von Aktenbergen möglich
Es gibt Programme, die auch für kleinere Kanzleien einen grossen Nutzwert haben. Der Ostschweizer Rechtsanwalt Fatih Aslantas verteidigte im Strafverfahren rund um Raiffeisen und Pierin Vincenz den mittlerweile verstorbenen Angeschuldigten Peter Wüst und stand vor riesigen Aktenbergen.
Aslantas suchte Hilfe beim Programm Herlock.ai. Für 200 Franken pro Monat könne er ein Datenvolumen von rund einem Gigabyte bearbeiten lassen. Zu den verfügbaren Anwendungen gehörten zudem eine chronologische Auflistung von Ereignissen, eine Transaktionsanalyse und die Darstellung von Beziehungsnetzen, so Aslantas. Herlock.ai enthalte auch eine Chat-Funktion: «Man kann also Fragen stellen und erhält eine Antwort mit Quellenangaben.»
Die Suchfunktion erlaube, Informationen präzis zu finden, «was die Arbeit erheblich beschleunigt». Herlock.ai garantiere zudem, dass der Serverstandort in der Schweiz liegt. «Laut vertraglicher Zusicherung werden die Daten nicht ins Ausland übermittelt. Zu meiner Absicherung hole ich mir zudem eine Zustimmung bei meinen Klienten ein.»
Trotzdem könne nie ausgeschlossen werden, dass Daten gehackt werden, sagt Aslantas: «Daher lade ich nur ausgewählte Daten hoch und lösche sie nach Gebrauch.»
Neue Computer-Programme erleichtern Massenverfahren
Das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart ist für die Berufungsverfahren im Diesel-Abgasskandal zuständig. Es sieht sich mit einer Flut von Berufungen klagender Käufer von Dieselfahrzeugen konfrontiert. Um die Klagen Kategorien und entsprechenden Beschlusstypen zuzuordnen, sind Daten wie Verkäufer, Fahrzeugtyp, Kaufdatum, Fahrzeugidentifikationsnummer, Schadstoffklasse oder Motortyp erforderlich.
Seit 2022 ordnet das Gericht die Fälle automatisiert ein. Anstelle einer Beschlussausfertigung pro Einzelfall passt ein Programm gerichtliche Vorlagen für die jeweilige Fallkategorie mit den individuellen Informationen an. Ihr Programm tauften die Stuttgarter in Analogie zur Abkürzung OLG auf den Namen OLGA, wobei das A für Assistent steht.
Das Amtsgericht Frankfurt steht vor ähnlichen Herausforderungen. Jährlich landen dort bis zu 15'000 Entschädigungsverfahren wegen Verspätungen oder Ausfällen von Flügen. Laut «Computerwoche» setzen die Frankfurter Richter auf Computerprogramme, um die Menge zu bewältigen. Die Programme sollen das Gericht bei der Urteilsfindung unterstützen und einen Textentwurf für das Urteil erstellen.
Dies führte zur Entwicklung von FRAUKE, dem Frankfurter Urteils-Konfigurator elektronisch. Die Anwendung ist in der Lage, Schriftsätze zu analysieren, daraus Daten herauszulesen und das Gericht mit Textbausteinen bei der Erstellung von Urteilsentwürfen zu unterstützen.
Bundesgerichtsurteile automatisch anonymisiert
In der Schweiz werden an verschiedenen Gerichten Urteile automatisch anonymisiert, am Bundesgericht seit Oktober 2021. Wie Gerichtssprecher Peter Josi im Blogbeitrag «Urteile automatisch anonymisieren» erklärt, macht «die Maschine Vorschläge, der Mensch kontrolliert». Zentrale Herausforderung sei der Datenschutz. Fürs Training des Programms standen 110'000 Urteile in anonymisierter und nicht anonymisierter Fassung zur Verfügung. Aufgrund der nicht anonymisierten Daten erfolgte das Programmtraining innerhalb der eigenen IT-Infrastruktur des Bundesgerichts.