Hanspeter Zablonier, Häftling in der Zürcher Strafanstalt Pöschwies, schreibt in einem Brief an plädoyer: «Ich bin zu zwei Jahren Gefängnis mit Verwahrung verurteilt worden. Meine Festnahme erfolgte am 25. Dezember 1998 und ich sitze nun mehr als 17 Jahre ununterbrochen in Haft.»
Zablonier hat seine Strafe längst abgesesse, trotzdem kann er seine Zelle bis heute nicht verlassen. Nach zwei Jahren Gefängnis folgte umgehend die Verwahrung.
Gemäss Lehre ist die Massnahme der Verwahrung nach Artikel 64 StGB für Täter vorgesehen, die eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen und bei denen eine therapeutische Massnahme nach Artikel 59 StGB als nicht ausreichend oder sogar als sinnlos angesehen wird. Verwahrung bedeutet Einschliessen des Täters nach dem Strafvollzug auf unbeschränkte Zeit. Die Verwahrung bezweckt, die Sicherheit Dritter zu garantieren.
Erfolglose Gesuche auf bedingte Entlassung
Hanspeter Zablonier wird als Sicherheitsrisiko angesehen. «Bei mir nur noch Hoffnungslosigkeit!», schreibt er in seinem Brief an plädoyer. Den Satz hat er mit roter Farbe fett unterstrichen.
Zabloniers Rechtsanwalt Bruno Steiner sagt: «Wenn alles so weiterläuft wie bis anhin, dann wird mein Klient ganz einfach hinter den Betonmauern verrotten. Nur ein Wunder oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte werden ihn je auf freien Fuss setzen können.» Mehrere Gesuche auf bedingte Entlassung aus der Verwahrung gemäss Artikel 64 Absatz 1 litera a StGB seien abgelehnt worden.
Sein Klient sei während 14 Jahren in rund 300 Therapiestunden behandelt worden, sagt Steiner: «14 Psychiater oder Psychologen haben im Lauf der Jahre ihre Kommentare, Diagnosen und Prognosen abgegeben. Es liegen vier Gutachten vor, die sich diametral widersprechen.»
Steiner fordert, «dass ein unbefangener und mit der Zürcher Gefängnispsychiatrie nicht verbandelter Psychiater ein Gutachten erstellt, der die bereits vorliegenden nicht kennt».
Zablonier ist weder ein Wiederholungstäter noch ein Vergewaltiger, Mörder oder Kinderschänder. Steiner sagt sarkastisch: «Es geht um einen Mann aus einer jenischen Familie, die irgendwann von gutmeinenden Behörden zerstückelt und aufgeteilt wurde – zum Wohle der Gesellschaft.»
Pikant: Zablonier wurde zuerst von einem Psychiater untersucht, der Vorstandsmitglied der deutschen Rechtsaussenpartei NPD war und keine besonderen Sympathien für Jenische haben dürfte. Dem Psychiater wurde später vorgeworfen, Dutzende von IV-Gutachten verfälscht oder gefälscht zu haben.
Unverhältsmässig lange Massnahmendauer
Wie ist es möglich, dass jemand mit so geringer Delinquenz so lange in Haft sitzt? Der Zürcher Strafverteidiger Stephan Bernard sagt, dass die «Sicherheitsgesellschaft» einen enormen Druck auf die Justiz, den Strafvollzug, die Gutachter und die Therapeuten ausübe: «Die Dauer von Verwahrungen und stationären Massnahmen hat oft nichts mehr mit der Strafe und der strafrechtlichen Schuld zu tun.» Eine Massnahmendauer oder Verwahrung, welche die Strafe um das Drei- oder Vierfache übersteige, sei keine Seltenheit. Für die Zukunft wünscht er sich, dass die Judikative trotz des heutigen Zeitgeists den Mut findet, dem Verhältnismässigkeitsprinzip nachzuleben.
Der Basler Rechtsanwalt und ehemalige Richter Peter Zihlmann sagt: «Das heute übersteigerte Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft wird vom Richter und dem in seinem Dienst stehenden Forensiker bedient. Beide spüren den Volkszorn und die mediale Entrüstung im Nacken, falls der Täter rückfällig werden sollte.»
Auch Niklaus Ruckstuhl, Rechtsanwalt und Kantonsrichter im Baselbiet, sieht das Sicherheitsbedürfnis der Öffentlichkeit als Grund für die Verschärfung des Vollzugs: «Der Vollzug fühlt sich immer öfter dazu berufen, nachträglich gefährliche Täter zu eruieren: Personen, die an sich ein relativ harmloses Delikt begangen haben, im Vollzug aber nicht an Programmen zur Aufarbeitung ihrer Delinquenz teilnehmen, fallen sofort als verdächtig auf.»
Der Zürcher Strafverteidiger Matthias Brunner weist auf ein fundamentales Problem hin, das sich im Strafrecht verbreitet: «Wer seine schuldangemessene Strafe abgesessen hat, dem wird nicht mehr wegen seinem begangenen Unrecht die Freiheit entzogen, sondern wegen der ihm zugeschriebenen Persönlichkeit. Aus der Strafe für die begangene Tat wird die Bestrafung der Person.» Sie werde zur Befriedigung eines «übersteigerten Sicherheitsbedürfnisses» präventiv aus der Gesellschaft ausgeschlossen: «Diese Exkommunikation basiert immer auf der These, der Betreffende werde rückfällig – eine These, die sich in den meisten Fällen mutmasslich als falsch herausstellen würde.»
Strafrechtsprofessor Marcel Niggli zeigt in einer Publikation, in der es um die «Abkehr von der Ahndung begangener hin zur Verhinderung befürchteter Delikte» geht, auf, wie sich das Strafrecht zum Polizeirecht verändert: «Das Polizeirecht als Teil des Verwaltungsrechts ist (anders als das auf Vergangenheit, Ausgleich und Gerechtigkeit orientierte Strafrecht) auf die Zukunft orientiert.»
Es sei ein Streit zwischen Straf- und Verwaltungsrecht im Gange. «Wobei Letzteres – in seiner Ausformung als Polizeirecht – das Strafrecht immer mehr zurückdrängt.» Niggli ist der Auffassung, dass die Durchsetzung des Strafrechts mit schuldunabhängigen Massnahmen und der Psychiatrisierung der Straftäter inzwischen bedrohliche Züge angenommen hat: «Längst weiss man, dass freiheitsentziehende Massnamen statistisch länger dauern als freiheitsentziehende Strafen. Und dass das Fehlen eines begrenzenden Kriteriums wie der Schuld Ursache dafür ist, dürfte ebenfalls offensichtlich sein.»
Eliminiere man jedoch die Schuld, eliminiere man auch die Verantwortung. «Damit aber entfällt auch das Individuum als Referenzgrösse, denn wo wäre Schuld zu finden, wenn nicht beim Verantwortungsträger Individuum.» Durch die Bewegung weg von der Schuld werde Verantwortung nicht nur beim Täter eliminiert, sondern auch bei den Strafenden selbst. «Die Verschiebung weg vom Strafrecht hin zum Verwaltungsrecht erlaubt, dessen Flexibilität zu gewinnen, ohne das Kriterium der Verhältnismässigkeiten beachten zu müssen.»
“Tyrannei des Wahrscheinlichen”
Auch die Basler Strafrechtlerin Nadja Capus kritisierte in der «Wochenzeitung» die fortschreitende Verlagerung vom bestrafenden zum präventiven Strafrecht. Mit Verweis auf den französischen Juristen Antoine Garapon und den britischen Soziologen Anthony Giddens nennt Capus diese Entwicklung «Tyrannei des Wahrscheinlichen» und «Kolonisierung der Zukunft».
Capus sagt: «Wenn ich Ihnen voraussage, dass Sie das Risiko in sich tragen, in den nächsten drei Jahren eine Brandstiftung zu begehen: Was macht das mit Ihnen? Dazu gibt es bis heute keine Untersuchungen. Klar ist: Man spricht den Menschen die Entwicklungsfähigkeit ab und schreibt ihnen Dinge zu, die sie nicht begangen haben.» Man halte heute Menschen gefangen für Morde ohne Leiche, für eine Vergewaltigung, die nicht stattgefunden hat. Für eine Brandstiftung, wo nichts brannte.
Was müsste sich in Zukunft ändern, damit die Position von Verwahrten wie im Fall von Hanspeter Zablonier verbessert wird? Rechtsanwalt Stephan Bernard fordert: «Der Katalog der Anlasstaten nach Artikel 59 und 64 StGB müsste stärker eingegrenzt werden, er ist zu offen formuliert.» Zudem müsste die Möglichkeit einer nachträglichen Anordnung von Verwahrungen oder stationären Massnahmen abgeschafft werden, wenn die Massnahme eine nachträgliche Verschärfung darstellen würde. Ausserdem müsste sich die Vollzugspraxis bei Massnahmen oder Verwahrungen ändern. Diese Sanktionen seien keine Strafen. Bernard: «Trotzdem werden die Betroffenen über weite Strecken gleich behandelt wie normale Strafgefangene.»
Bei Verwahrten müssten gemäss Bernard und Brunner beispielsweise der Zugang zum Internet oder freie Telefonmöglichkeiten und möglichst uneingeschränkt Besuche gewährt werden. «Gleichwohl muss die Entlassung in die Freiheit immer das anvisierte Ziel bleiben», so Brunner.
Dasselbe verlangt auch der Berner Strafrechtsprofessor Jonas Weber: «Die Verwahrung ist trotz aller Gefährlichkeit der Betroffenen immer freiheitsorientiert auszugestalten. Ihnen ist eine Perspektive zu vermitteln.» Da es sich bei der Verwahrung um einen «nicht verschuldensadäquaten Freiheitsentzug» zugunsten der Sicherheit der Gesellschaft handle, erbringe der Verwahrte also ein «Sonderopfer gegenüber der Gesellschaft». «Dieses Opfer ist nur zu rechtfertigen, wenn der Verwahrungsvollzug so ausgestaltet ist, dass die Rechte und die Interessen der Betroffenen so wenig wie möglich beeinträchtigt werden.»
Daraus ergebe sich auch, dass eine Verwahrung nicht in einer Strafanstalt vollzogen werden dürfe. Weber nennt einige Reformbeispiele für den Verwahrungsvollzug, die das Leben für Verwahrte erträglicher und sinnreicher machen würden: «Internetzugang mit Positivliste der Internetseiten, grössere und individueller eingerichtete Zellen, Wohngruppen, grössere Besuchskontingente, Freizeitaktivitäten im Freien sowie humanitäre begleitete Ausgänge.» Allgemein brauche es eine grosszügigere und sinnhaftere Ausgestaltung des Verwahrungsvollzugs.
Über Entlassungen sollten Gerichte entscheiden
Marianne Heer, Luzerner Kantonsrichterin, fordert, dass Fragen bezüglich der Platzierung, Lockerung der Haft oder einer bedingten sowie definitiven Entlassung nicht in die Zuständigkeit einer Vollzugsbehörde fallen dürften. «Die Vollzugsbehörden sind einer politisch orientierenden Person – Regierungsrat oder Justizdirektorin – unterstellt und damit nicht in gleicher Weise unabhängig wie ein Richtergremium.» Für Heer wäre es nötig, wenn über solche Fragen stets ein Gericht entscheiden würde. «Die Justiz ist unabhängig und nicht den Weisungen und dem Denken einer Exekutive unterworfen.» Heer verschweigt jedoch nicht, dass auch die Gerichte unter Druck sind und von der Öffentlichkeit «angegriffen» werden. Wenn etwas passiere, müssten die Richter auch immer damit rechnen, weniger Stimmen bei der Wiederwahl zu bekommen. Die Richter werden also abgestraft: «Die Angst, nicht mehr gewählt zu werden, hat es früher nie gegeben. Auch hier akzentuiert sich das Problem.» Trotzdem, die Entscheidungen würden in einem Dreiergremium gefällt, die Unabhängigkeit sei bei der Justiz besser gewährleistet.
Zabloniers Anwalt Bruno Steiner wäre es auch lieber, wenn die Vollzugsbehörden über solche Fragen keine Entscheidungsbefugnisse hätten: «Solange die Entscheide über eine Freilassung meines Klienten in den Händen verängstigter Kleinbürger mit Pensionsberechtigung liegen, wird er zu einer menschlichen Kruste auf dem Beton eingedampft werden.»
“Wir lehnen uns sehr weit aus dem Fenster”
Der Psychiater Marc Graf sagt, viele Fragen der Gerichte an forensische Psychiater seien wissenschaftlich nicht
klar zu beantworten.
plädoyer: Marc Graf, können Sie die Gefährlichkeit eines Häftlings beurteilen?
Marc Graf: Gefährlichkeit ist ein juristischer, kein medizinischer Begriff. Den finden Sie nirgends in medizinischen Fachbüchern. Wir Mediziner können im besten Fall versuchen, die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, mit der ein Täter eine ähnliche oder eine andere Straftat begehen wird. Forensische Psychiater dürfen nie nach der Gefährlichkeit gefragt werden. Aber genau diese Gefährlichkeit ist die wesentliche Grundlage des Massnahmenrechts (Artikel 56 Absatz 1 und 2 StGB).
plädoyer: Wie erarbeiten Sie Prognosen zur Rückfallgefahr?
Dazu verwenden wir wissenschaftlich untersuchte Prognosemethoden und -instrumente. Dabei gilt: Je seltener ein Ereignis, desto schwieriger ist es zu prognostizieren. Tötungsdelikte sind in der Schweiz selten. Letztes Jahr hatten wir ein Allzeittief von 41 Tötungsdelikten. Und wenn wir von Wiederholungstötungsdelikten sprechen, dann sind das noch seltenere Ereignisse. Die Häufigkeit des Wiederauftretens bei Mord und Totschlag liegt in der Schweiz bei unter 3 Prozent. Bei Inzest sowie Gewaltdelikten mit pädophilem Hintergrund liegt die Häufigkeit des Wiederauftretens bei 3 bis 10 Prozent. Bei Raub, Brandstiftung, Vergewaltigung, sexueller Nötigung sind es 10 bis 25 Prozent und bei Körperverletzung, Exhibitionismus sowie heterosexueller Pädophilie liegt sie bei 25 bis 50 Prozent.
plädoyer: Wie beurteilen Sie die Zusammenarbeit mit den Gerichten?
Medizinische Wissenschaften arbeiten mit Wahrscheinlichkeiten. Das müssen wir den Gerichten und Behörden immer wieder klarmachen. Dazu kommt, dass diese Risikowahrscheinlichkeiten nicht stabil sind. Wir haben viel zu wenig wirklich gute Studien, wie sich das Risiko zeitlich bei unterschiedlichen Tätern mit unterschiedlichen Störungen und mit unterschiedlichen Deliktskategorien verhält. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung wird von uns eine Individualprognose gefordert. Ich meine, wir lehnen uns bezüglich dieser Möglichkeiten sehr weit aus dem Fenster.
plädoyer: Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Es braucht eine klare Rollentrennung zwischen Justiz und Psychiatrie. Rechtsfragen und Sachfragen müssen strikt getrennt betrachtet werden. Die standardisierten Fragenkataloge müssen wohl angepasst werden. Es darf nicht sein, dass wir gefragt werden, ob beispielsweise eine ambulante oder eine stationäre Massnahme geeignet ist, die Rückfallgefahr zu reduzieren.
Die Anordnung einer solchen Massnahme stellt einen massiven Eingriff in die Persönlichkeitsrechte dar. Zudem benötigt die Justiz klare Angaben über die Validität unserer Methoden – sowohl in der Diagnostik als auch bei der Beurteilung des Rückfallrisikos. Wir sind gut beraten, unsern Job mit mehr Bescheidenheit zu machen. Wir müssen lernen zu sagen, dass wir gewisse Fragen mit den uns zur Verfügung stehenden Methoden nur mit sehr begrenzter Validität beantworten können.
Über 800 verwahrte Straftäter
Die Zahl der Verwahrten nach Artikel 59 StGB ist in den letzten sechs Jahren um 150 Prozent gestiegen: 2009 befanden sich noch 346 Verurteilte mit einer kleinen Verwahrung im Strafvollzug, letztes Jahr waren es bereits 864 Inhaftierte. Mit 178 Verurteilten liegt der Kanton Zürich an der Spitze. Es folgen Bern mit 122, Waadt mit 92, Genf mit 78 und Basel mit 62 Verurteilten, so die «Sonntags-Zeitung» am 8. Mai mit Hinweis auf eine Umfrage der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektionen.