Während über zwanzig Jahren lehrte der Obwaldner Andreas Bucher an der Universität Genf Privatrecht und internationales Privatrecht. Noch immer hat er im Französischen einen leichten Deutschschweizer Akzent – und nach vielen Jahren im internationalen Privatrecht Galgenhumor: «Wenn Sie mich bitten, die soziale Dimension des internationalen Privatrechts in der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichts darzulegen, kann ich mich kurz fassen: Es gibt sie nicht.»
Andreas Bucher studierte in Zürich und Basel. Er doktorierte zu «Grundfragen der Anknüpfungsgerechtigkeit im internationalen Privatrecht», kam dann als Assistent von Pierre Lalive nach Genf. Das internationale Privatrecht interessierte ihn, weil es noch wenig entwickelt war. Bucher war einer der Experten bei der Erarbeitung des Bundesgesetzes zum internationalen Privatrecht im Jahr 1987.
Das Gebiet gilt als technisch schwierig. Wird es deshalb oft falsch angewandt? «Den Gerichtsstand und das anwendbare Recht festzulegen, ist eigentlich ziemlich einfach», sagt der 69-Jährige. Natürlich brauche es ein Wissen über ausländisches Recht, das nicht alle haben – so wie auch nicht alle bereit seien, ausländische Behörden zu kontaktieren, um eine anwendbare Lösung zu finden. Bucher: «Das Bundesgericht macht dies in Schiedsgerichtsfragen – wenn es also um die Wirtschaft geht. Bei Familienfragen aber schert es sich nicht darum.» Universitätsprofessoren, sagt er, könnten eine wichtige Rolle spielen: «Sie sollen jene unterstützen, die keine Lobby haben, beispielsweise die Kinder.»
Bucher war der Hauptverantwortliche für die Schweiz bei den Verhandlungen zum Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption (1993). Dabei habe er viel gelernt über die Probleme von Kindern auf der internationalen Ebene, vor allem an der Haager Konferenz. So sei ihm aufgefallen, dass die Staaten höchstens bei Trusts echtes Interesse an Übereinkommen zum anwendbaren Recht zeigten. Erfolgreich seien hingegen Konventionen über die Zusammenarbeit zwischen Staaten, etwa beim Thema Adoptionen oder Kindesentführungen.
Für seine Bemerkung zur sozialen Kälte des Bundesgerichts nennt Bucher Beispiele: «Im Urteil 5A_637/2013 zitiert das Bundesgericht teilweise den Artikel 5 des Bundesgesetzes über internationale Kindesentführungen. Damit will es untermauern, dass die Beziehung einer Mutter zu ihrem zweijährigen Kind so eng ist, dass eine Trennung und Übergabe des Kindes an den Vater in Frankreich nicht zulässig ist.» Dann aber weise das Gericht den Fall bloss an die kantonalen Behörden zurück.
Bucher stellt fest: «Das Bundesgericht hätte die Mittel, in dringenden Fällen die Voraussetzungen der Rückkehr des Kinds zum andern Elternteil selbst zu klären.» So geschehen im Urteil 5A_105/2009. «Zudem», so Bucher, «könnte das Bundesgericht die Hilfe der zentralen Behörde in Bern verlangen, doch die Richter der II. zivilrechtlichen Abteilung haben Angst vor zu viel Arbeit. Im Jahr 2009 wurde dies noch schnell via Fax geregelt.»
Schockierend findet er, wenn Kinder vom einen Elternteil getrennt und in ein anderes Land geschickt werden, ohne dass klar ist, ob der andere Elternteil sie aufnehmen kann. «Nach einigen Monaten kommen die Kinder in die Schweiz zurück – doch in welchem Zustand? Solche Situationen führen zu Traumata. Und die Kinder brauchen lange medizinische Behandlungen. Das sind Kosten für die Gesellschaft, die sich verhindern lassen.»
Das Urteil 5A_880/2013 ist für Bucher ein «Beispiel von Fehlern, die man nicht machen darf». Bei dieser Kindesentführung von Italien in die Schweiz wurde das Verfahren ohne Vertreter für das Kind, Mediation, Anhörung und Vorbereitung für die Rückkehr geführt. Der Vater lebte in Italien in einem Wohnmobil und war beruflich vier Monate pro Jahr weg, es blieb unklar, wer sich dann um das Kind kümmert. «Was den Bundesrichtern nicht passt – eine Mediation, ein Vertreter für das Kind, die Zusammenarbeit mit ausländischen Behörden –, lassen sie weg.» Das Bundesgericht zitiere Entscheide des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die nicht auf den Fall anwendbar seien. So machte man mit dem achtjährigen Knaben kurzen Prozess, riss ihn aus der Schule und schickte ihn nach Italien, ohne sich zu fragen, wie er ohne Mutter und Bruder im Wohnmobil leben soll.
Es gibt die Zürcher Praxis, Kinder am Tag der Obergerichtsverhandlung auszuschaffen, damit der Rechtsweg ausgeschlossen ist. Mit Urteil 5A_210/2014 segnet das Bundesgericht dieses Vorgehen ab. Für Bucher ist klar: «Das internationale Privatrecht wird an den Schweizer Universitäten vernachlässigt.» In Zürich sei es ein fakultatives Fach, in Basel ein Wahlfach. «Und dort, wo es gelehrt wird, stehen Wirtschaft und Schiedsgerichte im Mittelpunkt – das Familienrecht lässt man weg.» Er moniert, dass es am Bundesgericht – im Gegensatz etwa zum französischen Kassationshof – keine Weiterbildung gibt: «Unsere Richter und Gerichtsschreiber sind alle Götter und wissen bereits alles.»
Das fehlende Menschengefühl vieler Bundesrichter sei nicht neu, sagt Bucher: «Vor zehn Jahren schickte man eine Mutter mit drei Kindern nach Argentinien zurück, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie im Gefängnis landen könnte. In einem anderen Entscheid hiess es, es sei zumutbar, dass eine Mutter ihr Kind abstille, damit es in ein anderes Land gebracht werden könne. Geändert habe sich seither nur wenig, noch immer bestehe dieselbe Mentalität.
Bucher kritisiert am Bundesgericht auch die fehlende Kohärenz zwischen der II. zivilrechtlichen und der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung bei der Anwendung von ausländischem Recht: «Wenn der Entscheid einer Kammer der andern nicht passt, wird er schlicht ignoriert.» Als Privatrechtler stört sich Andreas Bucher zudem am «unnötig komplizierten Unterhaltsrecht und den Kosten, die es verursacht». Bei der Einführung des gemeinsamen elterlichen Sorgerechts rechnet er mit vielen Problemen, weil es zu kompliziert sei. Man stelle schöne Regeln auf, doch man hinterfrage sie nicht auf ihre Anwendbarkeit und die Kosten für Familien und Gesellschaft.»
Seit dem Jahr 2008 ist Andreas Bucher emeritiert. Noch immer kommentiert der Autor des berühmten «Commentaire Romand» Bundesgerichtsentscheide auf seiner Website www.andreasbucher-law.ch: «Als Angebot für die Praktiker.» Einen Tag pro Woche hat der Familienrechtler aber für seine vier Enkel reserviert.