Etwa 2013 begannen die Tessiner Mitgrationsbehörden, ausländischen Personen, die kantonale Familienergänzungsleistungen in Anspruch nahmen, die Erneuerung von Ausländerbewilligungen zu verweigern bzw. sie entsprechend zu verwarnen. Als das Bundesgericht diese Praxisänderung als widerrechtlich bezeichnete,1 beschloss das kantonale Parlament, dieses familienpolitische Instrument Personen mit Niederlassungsbewilligung vorzubehalten.2 Die sowohl unter dem Aspekt der Rechtsgleichheit3 als auch sozialpolitisch bedenkliche Tendenz, Ausländerinnen und Ausländer aus dem Sozialsystem auszuschliessen,4 war Anlass zur vorliegenden Untersuchung.
1. Einleitung
«Ein Wesensmerkmal der Sozialversicherung liegt in der staatlich angeordneten gesetzlichen Verpflichtung zur Versicherung der Wohnbevölkerung oder Angehöriger bestimmter Personenkategorien.»5
Dieser Artikel analysiert die Beitragspflicht, die Anspruchsberechtigung und die Exportierbarkeit von Leistungen in den einzelnen Sozialversicherungszweigen und fragt einerseits, ob und wo nach Staatsangehörigkeit unterschieden wird, und damit verbunden, inwieweit Personen ohne Wohnsitz in der Schweiz oder Nichtstaatsangehörige Leistungen für Versicherungen erbringen, in deren Genuss sie unter Umständen nie gelangen können. Damit im Zusammenhang steht die Frage nach Schnittpunkten zur ausländerrechtlichen Gesetzgebung. Der Artikel beschränkt sich auf solche Personen, die einzig dem Ausländergesetz unterstehen und aus Staaten ohne Sozialversicherungsabkommen mit der Schweiz stammen, das heisst auf das autonome schweizerische Sozialversicherungsrecht im Zusammenspiel mit dem Ausländergesetz.
Die Stellung von Personen mit diplomatischen Vorrechten, anerkannten Flüchtlingen und Staatenlosen, Personen aus Staaten, mit welchen die Schweiz ein Sozialversicherungsabkommen hat (darunter Angehörige von EU-/Efta-Staaten) kann völkerrechtlich abweichend geregelt sein. Darauf wird nur vereinzelt eingegangen, insbesondere wo Normen direkt ins innerstaatliche Recht aufgenommen wurden. Auch für nichterwerbstätige Personen im Asylverfahren gelten zum Teil Sonderbestimmungen, auf die ebenso wenig eingegangen wird. Bei Personen ohne ausländerrechtliche Bewilligung besteht das Problem etwa beim Zugang zum Sozialversicherungssystem (Beweisschwierigkeiten beim Wohnsitz; Angst vor Datenaustausch mit Migrationbehörden u. Ä.).
Versichert ist eine Person, wenn sie für bestimmte Gefahren und Risiken Versicherungsschutz geniesst.6 Die Beitragspflicht und die Anspruchsberechtigung sind nicht deckungsgleich. Daher wird im Folgenden von Versicherten jeweils nur dort gesprochen, wo jedenfalls die Anspruchsberechtigung bei gleichbleibendem Wohnsitz gegeben ist und nicht schon bei Vorliegen einer Beitragspflicht.
2. Anknüpfung
2.1 Alters- und Hinterlassenenversicherung
In der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) stimmen Beitragspflicht und Anspruchsberechtigung nicht überein. Der Export von Renten hängt von der Staatsangehörigkeit ab.
2.1.1 Beitragspflicht
Die Beitragspflicht7 knüpft an den Wohnsitz oder Arbeitsort Schweiz (Art. 1a Abs. 1 lit. a und b AHVG) an. Der Wohnsitz bestimmt sich nach Art. 13 ATSG, der seinerseits auf Art. 23 – 26 ZGB verweist. Er ist dort, wo sich eine Person mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält, unabhängig von einer ausländerrechtlichen Bewilligung.8 Die Beitragspflicht ist daher unabhängig von Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatut.9
Bei Arbeit im Ausland kennt Art. 1a Abs. 1 lit. c AHVG eine weitere territoriale Anknüpfung über den Bund als Arbeitgeber.10 Diese Beitragspflicht gilt nur für Schweizer Staatsangehörige (Art. 1a Abs. 1 lit. c AHVG). Freiwillig und unabhängig von der Staatsangehörigkeit kann die Versicherung unter Umständen weitergeführt werden bei Arbeit im Ausland für eine Firma mit Sitz in der Schweiz (Art. 1a Abs. 2 lit. 3 AHVG) oder Ausbildung im Ausland (Art. 1a Abs. 3 lit. b AHVG).
Die freiwillige Versicherung (Art. 2 AHVG) steht Staatsangehörigen der Schweiz und von EU-/Efta-Staaten offen, wenn ihr Wohnsitz ausserhalb des Anwendungsbereichs der bilateralen Abkommen mit der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta) liegt – obschon die freiwillige Versicherung allgemein und nicht nur in Bezug auf EU-/Efta-Angehörige diskriminierend und mit dem Uno-Pakt I nicht vereinbar ist.11
2.1.2 Anspruch
Bei Schweizer Wohnsitz spielen Staatsangehörigkeit und ausländerrechtliches Statut keine Rolle, ausser bei der ausserordentlichen Rente, die Schweizerinnen und Schweizern sowie ihnen staatsvertraglich gleichgestellten Staatsangehörigen vorbehalten bleibt (Art. 18 Abs. 1 und 2 AHVG). Die Anspruchsberechtigung stimmt also mit der Beitragspflicht überein, wobei zusätzlich der gewöhnliche Aufenthalt gegeben sein muss. Nicht ganz klar ist, inwieweit dieses Erfordernis wirklich ein Zusatzelement einbringt.12
Bei Personen im Ausland ist die Anspruchsberechtigung im Gegensatz zur Beitragspflicht von der Staatsangehörigkeit des Beitragspflichtigen abhängig (Art. 18 Abs. 2 AHVG).
Die ausserordentliche Rente ist Schweizern vorbehalten. Zumindest im Verhältnis zu Angehörigen von EU-/Efta-Staaten ist dies direkt diskriminierend.13
2.1.3 Exportierbarkeit
Abgesehen von staatsvertraglichen Vereinbarungen ist die AHV-Rente nur für Schweizer exportierbar. Ausländer sowie ihre Hinterlassenen ohne Schweizer Bürgerrecht, inklusive Flüchtlinge, sind nur rentenberechtigt, solange sie ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz haben (Art. 18 AHVG; Art. 3 BB-Flüchtlinge und Staatenlose). Wurden Beiträge länger als ein Jahr bezahlt, erfolgt eine Rückvergütung (Art. 18 Abs. 3 AHVG und 1 RV-AHV),14 aus Billigkeitsgründen (sic!)15 aber nur bis zum Barwert der verlorenen AHV-Leistungen (Art. 4 Abs. 4 RH-AHV).
Ausserordentliche Renten nach Art. 42 AHVG sind mit wenigen Ausnahmen (Art. 42 Abs. 3 AHVG, Art. 1a Abs. 4 lit. c AHVG) auch für Schweizer nicht exportierbar.
Hilflosenentschädigung, Assistenzbeitrag und Hilfsmittel sind nie exportierbar (Art. 43bis ff. AHVG).
2.2 Invalidenversicherung
Beitragspflicht (Art. 1b IVG), Anspruchsberechtigung (Art. 6 IVG) und Exportierbarkeit der Leistungen (Art. 6 Abs. 2 IVG) sind gleich geordnet wie bei der AHV und fallen somit auseinander. In der Schweiz invalid gewordene Kinder mit ausländischer Staatsangehörigkeit haben aber gegebenenfalls (Art. 9 Abs. 3 IVG) Anspruch auf eine ausserordentliche Rente (Art. 39 Abs. 3). Für Minderjährige bestehen Besonderheiten bei Erwerbstätigkeit der Eltern im Ausland im Dienste von Schweizer Firmen (Art. 9 Abs. 2 IVG).16
Für ausländische Staatsangehörige ist eine zusätzliche Karenzfrist vorgesehen (ein volles Jahr Beiträge bzw. zehn Jahre Aufenthalt in der Schweiz, Art. 6 Abs. 2 IVG). Neben der Karenzfrist für eine ordentliche Rente gemäss Art. 36 Abs. 1 IVG (drei Jahre Beiträge) besteht also auch eine für die übrigen Leistungen.
Auch für Schweizer Staatsangehörige nicht exportierbar ist nebst Eingliederungsmassnahme, Hilflosenentschädigung und Assistenzbeitrag die ordentlichen Viertelsrente.
Die Voraussetzung eines Wohnsitzes in der Schweiz für einen Anspruch auf Versicherungsleistungen verstösst laut Bundesgericht nicht gegen Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens),17 was in Verbindung mit der restriktiven Handhabung des Familiennachzugs insbesondere für Minderbemittelte18 zumindest diskutabel ist.
Im Gegensatz zu Art. 18 Abs. 3 AHVG sieht das IVG keine Rückerstattung bezahlter Beiträge vor.
2.3 Ergänzungsleistungen zu AHV und IV
Die Ergänzungsleistungen sind steuerfinanziert. Sie stehen einzig Personen mit Wohnsitz in der Schweiz zu und sind nicht exportierbar. Für ausländische Staatsangehörige gelten zusätzlich Karenzfristen und der Aufenthalt muss rechtmässig sein.19
2.3.1 Beitragspflicht
Ergänzungsleistungen sind steuerfinanziert (Art. 2, 13, 16 ELG), es tragen alle Personen mit Wohnsitz, Aufenthalt oder Erwerbstätigkeit in der Schweiz dazu bei (für die Bundessteuern vgl. Art. 3 ff. und 91 ff. DBG; siehe auch Art. 30 ff., 20 ff., 35 ff. StHG). Wie andere steuerfinanzierte Sozial(versicherungs)leistungen sind sie nur in dem Sinne beitragsunabhängig, als die Finanzierung nicht individuell, sondern über die allgemeinen Steuerpflichten erfolgt.
2.3.2 Anspruch
Anspruchsberechtigt sind Personen mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, sofern sie AHV- oder IV-Renten beziehen oder wenn bei Erfüllung der Mindestbeitragsdauer nach Art. 29 Abs. 1 AHVG ein solcher Anspruch bestünde (Art. 4 ELG).
Für Ausländer bestehen zusätzliche Karenzfristen, analog zu den Fristen zum Erwerb der Niederlassungsbewilligung im AuG (10 Jahre, für Flüchtlinge und Staatenlose 5 Jahre, Art. 5 ELG – Art. 34 AuG; Art. 60 AsylG in der Version vor dem 1.1.2014), und zwar selbst für Personen aus Staaten mit Sozialversicherungsabkommen (Art. 5 Abs. 3 ELG, betragliche Beschränkung). Ausser bei Flüchtlingen und Staatenlosen ist ein EL-Anspruch nicht gegeben, wenn wegen nicht erfüllter Mindestbeitragsdauer kein Anspruch auf AHV- oder IV-Rente besteht (Art. 5 Abs. 4 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 lit. b Ziffer 1 und 4 Abs. 1 lit. d ELG).
2.3.3 Exportierbarkeit
Ergänzungsleistungen sind nicht exportierbar (Art. 4 ELG), bei Auslandaufenthalt werden sie maximal ein Jahr weiter entrichtet.20
Bei Schweizer Staatsangehörigen lebt der Anspruch nach Rückkehr aus dem Ausland wieder auf, bei Ausländern aus Staaten ausserhalb der EU/Efta, die sich über ein Jahr am Stück ohne zwingenden Grund im Ausland aufhalten, läuft die Karenzfrist von vorn.21
Da laut Art. 61 Abs. 2 AuG die Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligung nach 6 Monaten erlischt, aber die Niederlassungsbewilligung auf Gesuch 4 Jahre aufrechterhalten werden kann, weicht die ausländer- von der versicherungsrechtlichen Regelung ab.
2.4 Berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge
Im BVG erfolgt die Anknüpfung einzig im Rahmen der Beitragspflicht. Anspruchsberechtigung und Exportierbarkeit der Leistungen folgen der Beitragspflicht, die folglich mit der Versicherteneigenschaft übereinstimmt.
2.4.1 Beitragspflicht
Beitragspflicht und -möglichkeit knüpfen an die Erwerbstätigkeit an und gelten nur für AHV-beitragspflichtige Personen (Art. 5 BVG; für befristete Ausnahmen siehe Art. 1j BVV2 Abs. 1 lit. b und Art. 1j Abs. 2 BVV2).
2.4.2 Anspruch
Anspruchsberechtigt ist, wer Beiträge bezahlt (hat), bzw. Hinterlassene solcher Personen.
Die Anspruchsberechtigung ist somit unabhängig von Staatsangehörigkeit, Wohnsitz und Aufenthaltsstatut. Art. 24 Abs. 2 und 2bis BVV2 erlauben die Anrechnung ausländischer Sozialversicherungsleistungen bei der Berechnung der Überentschädigung bei Invalidenrenten. Art. 89b enthält ein Gleichbehandlungsgebot, Art. 89c BVG ein Verbot von Wohnortsklauseln, jedoch nur für EU-/Efta-Angehörige).
2.4.3 Exportierbarkeit
BVG-Ansprüche sind unbeschränkt exportierbar, Besonderheiten sind jeweils technisch bedingt (Wohneigentumsvorbezug, Art. 30e Abs. 5 BVG; Kapitalbezug, Art. 5 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 25f a FZG; Export von Freizügigkeitskapital, Art. 10 FZV). Einzig für Barauszahlungen in Mitgliedstaaten der EU/Efta bestehen staatsvertraglich bedingte Beschränkungen (Art. 25f FZG).22
Wegzug ins Ausland oder Rückkehr ins Heimatland bei Teilinvalidität führt vermutungsweise nicht zu einer Anpassung des mutmasslich entgangenen Verdiensts (Art. 24 BVV2),23 zumindest nicht, solange «die ins Ausland gehenden, nach Art. 24 Abs. 2 BVV 2 anrechenbaren Sozialversicherungsleistungen, insbesondere die Renten der Invaliden- und Unfallversicherung, nicht an die Kaufkraft am Wohnsitz des Bezügers oder der Bezügerin angepasst werden».24
2.5 Krankenversicherung
In der Krankenversicherung besteht ein strenges Territorialitätsprinzip,25 Leistungen sind nicht exportierbar. Beitragspflicht und Anspruchsberechtigung stimmen aber überein.
2.5.1 Beitragspflicht
Beitragspflichtig bei der obligatorischen Krankenpflegeversicherung sind Personen mit Wohnsitz in der Schweiz, unabhängig von Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatut (Art. 3 KVG). Nur ausländische Personen sind auch bei bloss kurzfristigem Aufenthalt beitragspflichtig (Art. 1 Abs. 2 lit. a KVV; Art. 1 Abs. 2 lit. b KVV). Obwohl Personen mit Aufenthaltsbewilligungen nach Art. 33 AuG in der Regel einen Wohnsitz begründen (Aufenthalte unbestimmter Dauer), sind sie in Art. 1 Abs. 2 lit. a KVV ausdrücklich genannt, ebenso Asylsuchende und vorläufig Aufgenommene (Art. 1 Abs. 2 lit. c KVV) sowie Nothilfeberechtigte (Art. 92d KVV).
Ausnahmen von der Versicherungspflicht gründen insbesondere auf internationalen Abkommen, teilweise analog zur AHV-Beitragspflicht (Art. 1 ff. KVG), oder um Doppelversicherung zu vermeiden (vgl. Art. 3 Abs. 4 KVG).
Die freiwillige Taggeldversicherung steht nicht nur Personen mit Wohnsitz in der Schweiz, sondern allen in der Schweiz Erwerbstätigen zur Verfügung, ebenfalls unabhängig von Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatut (Art. 67 KVG).
2.5.2 Anspruch
Entspricht der Beitragspflicht (vgl. Art. 24 und 72 KVG). Anspruch auf Prämienverbilligung bei der obligatorischen Krankenpflegeversicherung haben laut Art. 65 KVG Versicherte in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen, inkl. Personen mit Kurzaufenthalts- und Aufenthaltsbewilligung nach Art. 32 und 33 AuG (Art. 106 KVV). Für EU-/Efta-Angehörige gelten verschiedene Spezialvorschriften (Art. 65a und 66a KVG, 106a KVV).
2.5.3 Exportierbarkeit
Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung sind unabhängig von der Staatsangehörigkeit der versicherten Person (ausser in Sonderfällen) nicht exportierbar (vgl. Art. 34, 36 und 41 KV und 58a ff. KVV).
Erwerbstätige können Taggeldleistungen nur ins grenznahe Ausland exportieren, sofern die Versicherung keine Ausdehnung der Deckung vorsieht. 26 Erlischt die Aufenthaltsbewilligung, können sie des Versicherungsschutzes verlustig gehen.27
2.6 Unfallversicherung
Bei der Unfallversicherung stimmen Beitragspflicht und Anspruchsberechtigung überein. Die Versicherungsleistungen, insbesondere der Ersatz für Erwerbsausfall, sind exportierbar. Territorial knüpft nur die Beitragspflicht an.
2.6.1 Beitragspflicht
Anknüpfungskriterium ist die AHV-beitragspflichtige unselbständige Erwerbstätigkeit in der Schweiz, d.h. der Arbeitsort, und in beschränktem Umfang der Sitz des Arbeitgebers.
Für die freiwillige Versicherung Selbständigerwerbender wird an den Wohnsitz (Art. 4 UVG) angeknüpft, was zumindest im Anwendungsbereich der bilateralen Abkommen EU/Efta problematisch sein dürfte.28
2.6.2 Anspruch
Anspruchsberechtigt ist, wer Beiträge zahlt (Art. 10 Abs. 1 ff. UVG).
2.6.3 Exportierbarkeit
Heilbehandlung und Hauspflege sind beschränkt exportierbar und der Höhe nach limitiert (Art. 10 Abs. 3 UVG, Art. 17 UVG, Art. 53 ff. UVG, Art. 68 UVV u. a. im Zusammenhang mit Zusammenarbeits- und Tarifverträgen; Art. 18 UVV).
Für Hilfsmittel und Ersatz von Sachschäden besteht keine Einschränkung. Die Übernahme von Reise-, Transport- und Rettungskosten im Ausland ist betraglich beschränkt (Art. 13 UVG und 20 UVV), ebenso diejenige von Leichentransport- und Bestattungskosten (Art. 14 UVG und 21 UVV).
Geldleistungen wie Taggeld (Art. 16 f. UVG), Invalidenrente (Art. 18 ff. UVG), Integritätsentschädigung (Art. 24 f. UVG), Hilflosenentschädigung (Art. 26 f. UVG) und Hinterlassenenrente (Art. 28 f. UVG) sind uneingeschränkt exportierbar. Entfällt bei beruflicher Eingliederung im Ausland das IV-Taggeld, springt die Unfallversicherung mit einer Verlängerung der Übergangsrente ein (Art. 30 UVV), ebenso, wenn Personen invalid werden, die im Ausland wohnen und keinen Anspruch auf IV- oder AHV-Rente haben.Denn die Komplementärrente, das heisst die Reduktion der UV-Rente bei Überentschädigung, ist nur vorgesehen, wo ein Anspruch auf eine solche Rente besteht (Art. 20 Abs. 2 UVG; Art. 31 ff. UVV sieht nichts anderes vor). Anrechenbar sind auch ausländische Sozialversicherungsleistungen (Art. 51 Abs. 2 UVV). Bei späterem Wegzug der invalid gewordenen Person ins Ausland erfolgt aber keine Anpassung der Komplementärrente. Anpassungen sind auf spätere Änderung der für Familienangehörige bestimmten Teile der Rente der IV oder AHV beschränkt (Art. 20 Abs. 2 UVG und 33 UVV). Überentschädigungsgrenze ist der versicherte Verdienst,29 Taggeld und UV-Invaliditätsrenten werden abstrakt berechnet (Art. 20 Abs. 2 UVG).30 Eine Anpassung an die Kaufkraft im Ausland kommt somit auch hier nicht in Frage.31
2.7 Militärversicherung
Anspruchsberechtigt sind Dienst leistende Personen. Die Leistungen sind exportierbar.
2.7.1 Beitragspflicht und Anspruch
Die Militärversicherung wird vom Bund finanziert (Art. 82 MVG), d.h. aus Steuergeldern. Anknüpfungskriterium für die Versicherungsunterstellung sind besondere Dienste im Interesse des Bundes, Art. 1a ff. MVG (Militär-, Zivilschutz-, Zivildienst aber auch andere öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse zum Bund, vgl. Art. 1a lit. l f. MVG, usw.).
Art. 15 BZG z. B. sieht einen freiwilligen Schutzdienst auch für in der Schweiz niedergelassene Ausländer vor (Art. 15 Abs. 1 lit. e BZG). Sie sind den Schutzdienstpflichtigen gleichgestellt (Art. 15 Abs. 3 BZG). Die Staatsangehörigkeit ist somit nicht relevant.
2.7.2 Exportierbarkeit
Ambulante Behandlungen haben in der Nähe (Art. 17 MVG) zu erfolgen, (teil-)stationäre (ausser Notfälle) in einer Institution, mit der die Militärversicherung
einen Tarifvertrag und einen Zusammenarbeitsvertrag hat, d.h. (siehe auch Art. 22 MVG und 11 ff. MVV) in der Schweiz. Eingliederungsmassnahmen werden in der Regel in der Schweiz durchgeführt (Art. 33 Abs. 1 2. Satz MVG), Ausnahmen sind somit möglich.
Für übrige Sachleistungen (Art. 19 ff. MVG und 57 ff. MVG) und Geldleistungen (Art. 40 ff. und 51 ff. MVG) ist keine Einschränkung der Exportierbarkeit ersichtlich.
2.8 Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft
Beitragspflicht und Anspruchsberechtigung fallen auseinander, da auch Personen beitragspflichtig sind, die nie anspruchsberechtigt sein können, und Personen anspruchsberechtigt sein können, die nie beitragspflichtig waren:32 Die Anspruchsberechtigung hängt von besonderen Diensten im Interesse der Allgemeinheit ab.
2.8.1 Beitragspflicht
Die Beitragspflicht entspricht derjenigen in der obligatorischen AHV (Art. 27 EOG).
2.8.2 Anspruch
Der Entschädigungsanspruch steht Dienst Leistenden i.S.v. Art. 1a EOG zu, d.h. insbesondere Schweizer Männern, für die die Militär- und Zivildienstpflicht obligatorisch ist, kann aber auch Ausländer und Personen im Ausland betreffen (vgl. Art. 15 Abs. 1 lit. e und 15 Abs. 3 BZG sowie Art. 9 SpoFöG). Entsprechend unterscheidet das EOG bei der Anspruchsberechtigung nicht nach Staatsangehörigkeit, Aufenthaltsstatut oder Wohnsitz.
Auch der Anspruch auf Mutterschaftsentschädigung besteht unabhängig von Staatsangehörigkeit, Aufenthaltsstatut und Wohnsitz, knüpft aber nebst der Niederkunft an die Erwerbstätigkeit an und kennt Karenzfristen (Art. 16b Abs. 1 lit. a und b EOG und 28 ff. EOV).
2.8.3 Exportierbarkeit
Es ist keine Einschränkung der Exportierbarkeit vorgesehen (vgl. ausdrücklich Art. 22 EOV).
2.9 Familienzulagen
Bei den Familienzulagen sind auch Personen beitragspflichtig, deren Kinder im Ausland leben und für die sie daher keinen Anspruch haben. Angesichts der restriktiven Handhabung des Familiennachzugs ist das besonders fragwürdig (Art. 42 ff., insbesondere Art. 47 und 85 Abs. 7 AuG).
2.9.1 Beitragspflicht
Die Finanzierung der Familienzulagen in der Landwirtschaft obliegt Bund, Kantonen (d.h. über die Steuern) und Arbeitgebern in der Landwirtschaft (Art. 18 FLG).
Auch bei den Familienzulagen nach FamZG (Art. 11) wird nicht nach Staatsangehörigkeit, Wohnsitz und Aufenthaltsstatut unterschieden. Die Finanzierung erfolgt über die AHV-beitragspflichtige Lohnsumme (Art. 16 FamZG), für Nichterwerbstätige durch Beiträge der Kantone (Art. 20 FamZG).
2.9.2 Anspruch
Im FLG ist die Stellung im Betrieb ausschlaggebend. Da Landwirtschaftsbetriebe territorial gebunden sind, liegt der Arbeitsort in der Schweiz (vgl. Art. 18 FLG).
Das FamZG regelt die Anspruchsberechtigung gleich wie die Beitragspflicht zum AHVG abhängig von Wohnsitz und/oder Erwerbstätigkeit in der Schweiz (Art. 13 und 19 FamZG). Der Anspruch besteht für Kinder, zu denen ein Kindesverhältnis im Sinne des ZGB oder eine besondere Beziehung besteht (Art. 4 Abs. 1 FamZG und Art. 4 – 6 FamZV).
Keinen Anspruch auf Familienzulagen für nicht erwerbstätige Personen haben Personen im Asylbereich (Art. 16 lit. d FamZV). Bei allfälligen Geburtszulagen besteht unabhängig von der Staatsangehörigkeit eine Karenzfrist (Wohnsitz/Aufenthalt während der Schwangerschaft, Art. 2 Abs. 3 lit. b FamZV).
2.9.3 Exportierbarkeit
Alle Familienzulagen für Kinder mit Wohnsitz im Ausland werden nur ausgerichtet, sofern zwischenstaatliche Vereinbarungen es vorschreiben (Art. 7 Abs. 1 FamZV; Art. 1a Abs. 3 FLG) und selbst dort richtet sich die Höhe nach der Kaufkraft (Art. 4 Abs. 3 FamZG). Einzige Ausnahme sind Schweizer, die im Ausland im Dienst der Eidgenossenschaft stehen, und Personen, die die AHV weiterführen, weil sie für eine Schweizer Firma im Ausland arbeiten. Laut Bundesgericht33 hält sich Art. 7 Abs. 1 FamZV, der die Exportierbarkeit ausschliesst, im Rahmen von Art. 4 Abs. 3 FamZG und verletzt weder Art. 8 Abs. 1 und 2 BV noch Art. 3 Abs. 1 und 26 KRK.
Eine Rückerstattung geleisteter Beiträge ist nicht vorgesehen.
2.10 Arbeitslosenversicherung
Beitragspflicht und Anspruchsberechtigung fallen auseinander. Die Leistungen sind grösstenteils nicht exportierbar.
2.10.1 Beitragspflicht
Die Beitragspflicht knüpft an die Stellung als Arbeitnehmende an. Im Übrigen entspricht sie mit wenigen Ausnahmen (Art. 2 Abs. 2, Art. 2a AVIG) der AHV.
2.10.2 Anspruch
Anspruchsberechtigt für Taggelder sind dagegen nur Beitragspflichtige, die in der Schweiz wohnen (Art. 8 Abs. 1 lit. c AVIG, wobei gemäss Art. 12 AVIG ausdrücklich auch Ausländer ohne Niederlassungsbewilligung zählen). Die Bestimmung führt offenbar ein zusätzliches Element fremdenpolizeilicher Natur ein.34
Entgegen Art. 18 AVIV entspricht der Begriff des Wohnens nicht dem Wohnsitz, sondern dem gewöhnlichen Aufenthalt. Die Person muss sich tatsächlich in der Schweiz aufhalten, die Absicht haben, diesen Aufenthalt während einer gewissen Zeit aufrechtzuerhalten und in dieser Zeit den Schwerpunkt der Lebensbeziehungen hier haben.35
Eine Befreiung von der Beitragszeit ist Personen mit Wohnsitz in der Schweiz vorbehalten (Art. 14 Abs. 1 und 2 AVIG; z.T. während mindestens 10 Jahren, so Art. 14 Abs. 1 lit. a nach Schulbildung u. Ä.), bei Zuzug aus dem aussereuropäischen Ausland Schweizern (Art. 14 Abs. 3 AVIG) und Niedergelassenen (Art. 13 Abs. 3 AVIV). Letzteres entspricht insoweit einer Karenzfrist für Ausländer, die auch eher von den Wohnsitzvorschriften betroffen sind.
Die Kurzarbeitsentschädigung (Art. 31 Abs. 1 lit. a AVIG) und die Schlechtwetterentschädigung (Art. 42 Abs. 1 lit. a AVIG) stehen auch beitragspflichtigen Personen ohne Wohnort in der Schweiz zu. Anknüpfungskriterium ist hier der Standort des Arbeitgebers (vgl. Art. 37 und 46 AVIG), ebenso bei der Insolvenzentschädigung (Art. 51 Abs. 1 AVIG).
2.10.3 Exportierbarkeit
Arbeitslosentaggelder sind nicht exportierbar, bei Auslandaufenthalt entfällt die Vermittlungsfähigkeit (vgl. Art. 25 lit. a AVIV). Bei Arbeitssuche im Ausland ist eine vorübergehende Befreiung von Beratungs- und Kontrollgesprächen möglich (Art. 25 lit. c AVIV). Es ist keine Rückerstattung der Beiträge vorgesehen.
Kurzarbeits-, Schlechtwetter- und Insolvenzentschädigung sind exportierbar, da sie vom Erwerbsort Schweiz und nicht vom Wohnort abhängig sind.
Für arbeitsmarktliche Massnahmen im Ausland (Art. 59 ff. AVIG und 81 ff. AVIV) sind an sich keine Einschränkungen vorgesehen. Pendlerkosten- und Wochenaufenthalterbeiträge sind betraglich limitiert (Art. 68 ff. AVIG und 91 ff. AVIV, insbesondere Art. 85 Abs. 2 und 3 AVIV, auf den Art. 92 und 93 AVIV verweisen; zu arbeitsmarktlichen Massnahmen siehe AVIG-Praxis AMM, gültig ab 1.1.2016, Rz B1 – 23).
3. Fazit
Die Beitragspflicht im autonomen schweizerischen Sozialversicherungssystem ist grundsätzlich unabhängig von Staatsangehörigkeit und ausländerrechtlichem Statut. Elemente der Anknüpfung sind Wohnsitz oder Erwerbstätigkeit in der Schweiz, der Sitz des Arbeitgebers oder eine Dienstleistung im Interesse des Bundes. Auf die Staatsangehörigkeit abgestellt wird einzig bei Arbeit im Ausland im Dienste der Eidgenossenschaft oder dieser nahestehenden Organisationen und bei der freiwilligen Versicherung (AHV/IV).
Auch die Anspruchsberechtigung36 unterscheidet nicht nach Staatsangehörigkeit und ausländerrechtlichem Statut, solange eine Person in der Schweiz Wohnsitz und/oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Ausnahme ist die ALV, die zusätzlich einen gültigen Aufenthaltstitel verlangt.
Kriterien der Anknüpfung sind nebst Wohnsitz und/oder gewöhnlichem Aufenthalt die Erwerbstätigkeit oder Dienstpflicht bzw. -leistung. Einzelne Versicherungen (insbesondere IV, ELG, AVIG) sehen Karenzfristen für Ausländer vor, z.T. in Analogie zu den Fristen im Ausländergesetz.37 Massgebend ist die Aufenthaltsdauer, nicht der Aufenthaltstitel.
Eine gewichtige Unterscheidung bei der Exportierbarkeit kennen AHVG und IVG. Bei Wohnsitz im Ausland werden Renten nur an Schweizer oder staatsvertraglich gleichgestellte Personen ausbezahlt. Bei den übrigen Versicherungen ist die Exportierbarkeit entweder prinzipiell ausgeschlossen (z.B. AVIG, KVG und gewisse Sachleistungen, z.T. Familienzulagen) oder prinzipiell möglich (BVG, UVG, MVG, EO).
Die Beschränkung der Exportierbarkeit von Leistungen ist unabhängig von der Finanzierung des Versicherungszweigs.38 Sozialversicherungsleistungen sind offenbar grundsätzlich nicht exportierbar, ausser es bestehe ein besonderer Grund dazu. Beim BVG dürfte dieser darin bestehen, dass es bei den Altersleistungen an sich um eine Rückerstattung des individuell angesparten Alterskapitals geht. Bei der UVG geht es auch um die Haftung des Arbeitgebers für Berufsunfälle, die unabhängig vom Wohnsitz des Arbeitnehmers besteht. MVG und EO knüpfen an den Dienst im Interesse des Bundes an und können aus diesem Grund Personen mit Wohnsitz im Ausland nicht ungedeckt lassen. Die Mutterschaftsversicherung folgt dem Konzept der EO. Einzig bei der Arbeitslosenversicherung wird die fehlende Exportierbarkeit begründet: Bei Wohnsitz im Ausland falle die Kontrolle schwer.39
Knüpft nur die Anspruchsberechtigung, nicht aber die Beitragspflicht an den Wohnsitz an, sind Personen beitragspflichtig, obschon sie nicht versichert sind. Sind Leistungen nicht exportierbar, trifft dies vor allem ausländische Staatsangehörige.40
In Anbetracht der heutigen internationalen Mobilität nicht nur innerhalb der EU/Efta scheinen diese Regelungen kaum mehr zeitgerecht. Es wäre daher grundsätzlich von einer unterschiedlichen Anknüpfung von Beitragspflicht und Anspruchsberechtigung abzusehen, die Exportierbarkeit der Leistungen zuzulassen41 und insoweit vom Prinzip des Sozialstaats zum Prinzip der Versichertengemeinschaft im Sinne der Gegenseitigkeit gemäss Art. 61 Abs. 2 UVG überzugehen.42
Sollen Leistungen trotz Beitragszahlung verweigert werden, wären wenigstens die geleisteten Beiträge zurückzuerstatten, wie Art. 27 ICRMW dies vorsieht und auch vom Uno-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte empfohlen wird.43