Oliver Diggelmann ist Staatsrechtler und zugleich Schriftsteller. Bereits als Schüler habe er «eine starke Neigung zum Schreiben verspürt». Und es ist bis heute eine Konstante in seinem Leben geblieben. Das Schreibhandwerk erlernte der heute 50-Jährige in den Neunzigerjahren, als er zwei Jahre als freier Gerichtsreporter für die NZZ arbeitete. Noch heute bereichert Diggelmann die Tagesmedien mit scharfen juristischen Analysen zu aktuellen Ereignissen aus dem Weltgeschehen. «Ich empfinde es als grosses Glück, mir die Themen meiner täglichen Arbeit selbst wählen und auch auf aktuelles Geschehen reagieren zu können», sagt Diggelmann.
Der Professor wird von seinen Studenten und Uni-Kollegen als «kritischer Geist» wahrgenommen. Als einer, der «differenziert» komplexe Ereignisse kommentiert. So sagt sein früherer Mentor Daniel Thürer über ihn: «Es ist schön, dass Oliver Diggelmann genaue wissenschaftliche Forschung mit literarischer Schriftstellerei zu verbinden und den Studenten zu vermitteln weiss.» Denn die Rechtswissenschaft und -ausbildung an den Universitäten drohe in Schematismus zu erstarren. Das widerspräche der geisteswissenschaftlichen Basis des Rechts.
Stationen von Cambridge bis Berkeley
Sein Wissen eignete sich Diggelmann über mehrere Jahre an verschiedenen Universitäten an: Er hatte Gastprofessuren in Cambridge, Jerusalem und St. Gallen. An der Yale-University und in Berkeley war er Gastforscher. Ab Februar 2018 wird er ein halbes Jahr als eingeladener Fellow am Forschungskolleg «International Rule of Law» der Humboldt-Universität Berlin verbringen.
Diggelmann übernahm 2010 in Zürich den Lehrstuhl für Völkerrecht, Europarecht, Öffentliches Recht und Staatsphilosophie von Daniel Thürer. Davor lehrte er als junger Professor an der Andrássy-Universität in Budapest. Diggelmann erinnert sich: «Ich fand Budapest geheimnisvoll, düster, anziehend und ich fühlte mich schon bald zu Hause.» Heute vermisse er die Stimmung der Stadt manchmal. Die Jahre in Ungarn seien eine Zeit mit Höhen und Tiefen gewesen: «Die Ausschläge nach oben wie nach unten waren intensiver, als sie es bei einem Leben in der Schweiz gewesen wären.» In Ungarn habe man nie richtig gewusst, ob morgen nicht alles zusammenkracht. «Das prägte das Lebensgefühl und gab der Gegenwart besonderes Gewicht.» Das Essen am Abend und der ungarische Wein hätten vorzüglich geschmeckt. Diggelmann: «Vor allem aber waren immer Leute da, mit denen man die Abende verbringen konnte.» Er ging auch mit Studenten aus, man kannte sich an der kleinen Uni gut. In Zürich käme ihm das nicht in den Sinn. «Wenn Sie in der Schweiz als Professor so leben, stehen Sie rasch im Ruf einer Skandalfigur.»
Diggelmann hat diese Jahre als prägende Zeit in Erinnerung. Er war Mittdreissiger, viele seiner Freunde in der Schweiz hatten bereits eine Familie oder eine eigene Kanzlei. Er aber entschied sich für einen anderen Weg und gründete erst spät eine Familie. Heute hat er einen siebenjährigen Sohn und eine zweijährige Tochter. «Bis Anfang 40 war bei mir ziemlich alles unklar. Ich hatte keine Ahnung, wo ich künftig leben würde. Auf eine Professur in der Schweiz konnte ich zwar hoffen, realistischerweise bei den wenigen Stellen für Völkerrechtler aber nicht damit rechnen.»
In bester Erinnerung hat der Jurist auch sein sechsmonatiges Wirken 2006 als persönlicher Mitarbeiter des damaligen Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg, Luzius Wildhaber. «Ich wirkte an Entscheidanträgen mit, schrieb für den Präsidenten Reden und arbeitete an Publikationen mit.» Wildhaber habe dafür gesorgt, dass er tiefe Einblicke in den «Maschinenraum» des Gerichtshofs bekomme habe. Er sei von den vielen klugen jungen Leuten dort beeindruckt gewesen, die hochmotiviert an einer grossen Sache mitwirkten – viele für wenig Geld.
“Vertrauen in die Institutionen schaffen”
Ein Bonmot unter Juristen besagt, jemand lande nur im Völkerrecht, wenn er auch eine Leidenschaft für Politik und Geschichte mitbringe. Auf Diggelmann trifft es perfekt zu: «Wenn wir in der Schweiz über Krieg oder Hunger reden, sprechen wir im Grunde über Dinge, von denen wir wenig verstehen. Sie liegen im Normalfall jenseits unseres Erfahrungshorizonts.» Das sei natürlich ein Glück, mache die Auseinandersetzung mit diesen Themen aber nicht immer leicht. Wir könnten allerdings über Filme, Literatur und persönliche Begegnungen etwas von dem erahnen, wozu wir selbst keinen Zugang hätten.
«Wir sind im Wohlstand aufgewachsen. Die Hörsäle an den Unis sind mit immens teuren elektronischen Geräten ausgerüstet, von denen viele verzichtbar sind. Diese Luxuswelt ist sehr weit weg von den Abgründen von Gewalt, Hunger, Krieg», stellt Diggelmann fest. Es fehle bei uns deshalb wohl das Gespür, dass auch «das Beständige und Festgefügte über die Zeit hinweg fragil werden kann und dass Stabilität nicht vom Himmel fällt». Viele könnten sich die Schweiz nur stabil vorstellen. «Sie sehen deshalb auch kein Problem, wenn sie das Vertrauen in Institutionen beschädigen und schweizerische Eliten als abgehobene politische Klasse diffamieren. «Jede Generation muss das Vertrauen in die Institutionen wieder neu schaffen.»
Die Suche der Generationen nach eigener Identität in Abgrenzung zur vorhergehenden Generation inspirierte Diggelmann zu einer literarischen Erzählung. In seinem Roman «Maiwald» beschäftigt er sich mit dem revolutionären Geist der Achtundsechziger und der aufmüpfigen Jugend der Achtzigerjahre (siehe Besprechung in plädoyer 4/17).
Diggelmann selbst stammt aus einem liberalen Elternhaus mit drei Kindern, in dem viel über Politik diskutiert und gestritten wurde. Seine Mutter war Romanistin, der Vater Ökonom. Aufgewachsen ist Diggelmann im Zürcher Quartier Hottingen. Als Jugendlicher rebellierte er laut eigener Aussage nicht an vorderster Front. «Ich hatte allerdings auch keine besondere Anschmiegsamkeit gegenüber Autoritäten. Auf Fremdbestimmung reagierte ich allergisch.» In Protestmilieus fühlte sich Diggelmann selbst stets in der Rolle eines Zaungasts. «Ich kenne diese Kreise, weil ich immer wieder von Freunden und Freundinnen mitgenommen wurde, die wohl fanden, dass ich da gut hineinpasse.» Er habe sich wohl gefühlt, wegen seines bürgerlichen Hintergrunds aber auch immer eine innere Distanz empfunden. Diese Distanz ist auch beim Erzähler in «Maiwald» spürbar.