plädoyer: Die Familienstiftung wird von Kommentatoren als «unbrauchbares Instrument» bezeichnet. Sehen Sie das auch so?
Hans Michael Riemer: Nicht unbedingt. Gegen diese Auffassung spricht die Tatsache, dass nach meinen bald fünfzigjährigen Erfahrungen als Rechtsberater und -gutachter nach wie vor zahlreiche Familienstiftungen aktiv sind – manche übrigens schon seit Jahrhunderten! Je nach Einzelfall entfalten sie eine durchaus nützliche Tätigkeit. Sie besteht erfahrungsgemäss vor allem in Leistungen im Bereich «Bestreitung der Kosten der Erziehung oder zu ähnlichen Zwecken» (Artikel 335 Absatz 1 ZGB), also in der Übernahme von Kosten der Aus- und Weiterbildung jüngerer Familienangehöriger. Daneben spielt auch die «Unterstützung von [bedürftigen] Familienangehörigen» (Artikel 335 Absatz 1 ZGB) nach wie vor eine gewisse Rolle.
Sollte die enge Zweckbegrenzung der Familienstiftung im ZGB gelockert werden?
Nein. Die Zweckumschreibung beziehungsweise -begrenzung gemäss Artikel 335 Absatz 1 ZGB deckt – zumal unter Berücksichtigung der Formulierung «oder zu ähnlichen Zwecken» – nach meinen Beobachtungen praktisch alle konkreten Bedürfnisse der Familienangehörigen ab, die im Rahmen einer Familienstiftung sinnvoll sind. Die Zweckbegrenzung zu lockern, könnte daher nur eine «Freigabe» zugunsten voraussetzungsloser Leistungen an Familienangehörige (einschliesslich den Stifter) bedeuten. Dabei ginge es aber nicht einfach um die Beseitigung eines alten Zopfes oder von Details, vielmehr um die Schaffung von etwas völlig Neuem: Nämlich um die Einführung eines familiären «Selbstbedienungsladens» – beziehungsweise um ein verselbständigtes Treuhandvermögen, worüber familienintern nach Belieben verfügt werden könnte, während man sich extern einschliesslich Fiskus auf die «selbständige» juristische Person berufen beziehungsweise das betreffende «Drittvermögen» gar nicht deklarieren würde.
Ist die Familienstiftung noch zu retten, wenn nicht steuerliche Erleichterungen für Stifter und Begünstigte getroffen werden?
Die Vermögenswidmung anlässlich der Gründung einer Familienstiftung wie auch die späteren Vermögenszuwendungen an sie bedeuten gemäss den kantonalen Erbschafts- und Schenkungssteuerrechten im Allgemeinen unentgeltliche Leistungen an Nichtverwandte und unterliegen daher sehr hohen Steuersätzen, was die Gründung einer Familienstiftung (samt späterer Äufnung ihres Vermögens) sehr unattraktiv erscheinen lässt. Meines Wissens wurde die Frage, ob dies mit der langjährigen bundesgerichtlichen Praxis zu Artikel 6 Absatz 1 ZGB vereinbar ist, noch nie erörtert oder jedenfalls noch nie entschieden: Die Schranken des kantonalen öffentlichen Rechts gegenüber dem Bundesprivatrecht enthalten unter anderem den Grundsatz, dass Ersteres Letzteres weder vereiteln noch erheblich erschweren noch mit dessen Sinn und Geist in Widerspruch stehen darf. Im Übrigen ist, abgesehen von Kantonen, die keine Erbschafts- und Schenkungssteuer kennen, auf die Lösung gemäss Erbschafts- und Schenkungssteuerrecht des Kantons Aargau hin-zuweisen, wonach bezüglich der Steuerberechnung auf den Verwandtschaftsgrad der Begünstigten (Stiftungsdestinatäre) im Verhältnis zum Stifter abgestellt wird. Das wäre auch für andere Kantone prüfenswert.
Christian Brückner fordert in seinem Buch zum Beurkundungsrecht, dass Notare die Stifter auf die fiskalischen Folgen hinweisen sollten, wenn jemand eine Familienstiftung gründen wolle. Denn angesichts der Steuern ergebe die Errichtung gar keinen Sinn mehr. Sind Sie gleicher Meinung?
Ja, eine derartige Informationspflicht halte ich ebenfalls für sinnvoll.
Im Gegensatz zur Schweiz fördern Deutschland, Österreich und das Fürstentum Liechtenstein Familienstiftungen. Ist der Schweizer Alleingang sinnvoll?
Ich kenne die genaue gegenwärtige Stiftungspolitik dieser Länder nicht. Es ist eine politische Frage, ob man problematische rechtliche Ausgestaltungen deshalb im eigenen Recht schafft (oder belässt), weil andere Staaten dies allenfalls auch tun.
Für welche Zwecke eignen sich schweizerische Stiftungen am besten?
Stiftungen eignen sich, wie die Praxis zeigt, für alle nur denkbaren idealen menschlichen Interessen und Bestrebungen. Und zwar im Unterschied zu Vereinen namentlich dann, wenn nicht eine grössere Zahl von Personen aktiv und mitentscheidend an der Verwirklichung des Zwecks teilnehmen soll.
In Deutschland gibt es viele Unternehmensstiftungen – also Stiftungen, die von Unternehmern errichtet wurden und das Unternehmen weiterbetreiben. In der Schweiz findet man nur relativ wenige davon. Weshalb?
Letzteres ist nicht zutreffend – nur ist eben Deutschland bevölkerungsmässig und wirtschaftlich sehr viel grösser als die Schweiz. Abgesehen von den zahlreichen – zum Teil sehr bedeutenden – Direktträgerstiftungen (Heime aller Art, Spitäler, Schulen, Museen usw.) – also Stiftungen, die das Unternehmen unmittelbar selbst betreiben – gibt es in der Schweiz sicher eine dreistellige Zahl von Holdingstiftungen. Das sind Stiftungen, die das Unternehmen über eine andere juristische Person (meist eine Aktiengesellschaft) betreiben beziehungsweise beherrschen. Bei solchen Unternehmensstiftungen kann die genaue Anzahl nicht ohne Weiteres ermittelt werden, da Abgrenzungsfragen zur gewöhnlichen Vermögensanlage in Aktien bestehen. Ganz sicher eine Unternehmensstiftung liegt nur dann vor, wenn die Stiftung wenigstens stimmenmässig Mehrheitsaktionärin ist. Aber auch unter dieser Grenze kann der Einfluss der Stiftung so erheblich sein, dass von einer Unternehmensstiftung gesprochen werden muss. Zudem gibt es Unternehmensstiftungen dieser Art, die gar keinen besonderen Wert darauf legen, als solche in Erscheinung zu treten, damit nicht der Eindruck entsteht, das gehaltene Unternehmen sei wegen des gemeinnützigen Zwecks seiner Trägerstiftung seinerseits gemeinnützig beziehungsweise nicht «normal gewinnstrebig».
Wo liegt das Problem von testamentarischen Stiftungen? Empfehlen Sie eher, Stiftungen zu Lebzeiten zu gründen?
Während längerer Zeit war – aufgrund von Artikel 493 ZGB und seiner Entstehungsgeschichte ganz zu Unrecht – teilweise umstritten, ob eine als Erbin des Stifters eingesetzte Stiftung seine unmittelbare Rechtsnachfolgerin sein könne. Heute wird diese Frage allgemein bejaht. Dennoch bleibt eine Interimsphase mit einer gewissen Rechtsunsicherheit, denn auch eine solche Stiftung bedarf nach Artikel 52 Absatz 1 und Artikel 81 Absatz 2 und 3 ZGB des Handelsregistereintrags, um voll handlungsfähig zu werden – Ausnahmen sind Familien- und kirchliche Stiftungen laut Artikel 52 Absatz 2 ZGB. Der Handelsregistereintrag hat aber keine Konstitutivwirkung beim Erwerb der Rechtsfähigkeit. Wer diese Unsicherheit vermeiden will, sollte daher eher eine Stiftung «eines Lebenden» gründen und sie nötigenfalls nur mit einem kleinen Anfangsvermögen ausstatten, während alles Übrige mittels normaler Erbeinsetzung (oder auch einem Vermächtnis) zugunsten der Stiftung zugewendet wird.
Gibt es gestützt auf die Praxis der Behörden ein Mindest-Dotationskapital?
Das EDI verlangt offenbar ein Minimum von 50 000 Franken. Das scheint mir im Hinblick auf die Vielfalt möglicher Stiftungskonzepte zu apodiktisch.
Im Schweizer Handelsregister sind knapp 20 000 Stiftungen eingetragen. Sie sollten laut Gesetz durch die Kantone und den Bund beaufsichtigt werden. Ist angesichts dieser Zahl eine seriöse Aufsicht überhaupt möglich?
Nach meinen Beobachtungen erfolgt die Aufsicht durchaus seriös. Auch das Rügeprinzip spielt eine Rolle: Die Aufsicht wird auch dann tätig, wenn von irgendeiner Seite – zum Beispiel durch stiftungsinterne und -externe Opponenten oder Medien – interveniert wurde. Das Fehlverhalten einzelner Stiftungen beziehungsweise ihrer Organe darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die überwiegende Mehrheit keinen Anlass zur Klage gibt und eine allgemeine Intensivierung der Aufsichtstätigkeit nicht rechtfertigt. Auch ist auf jeden Fall zu berücksichtigen, dass die Stiftung ein selbständiges Rechtssubjekt des Privatrechts ist, in deren Ermessen eine Aufsichtsbehörde nicht eingreifen darf – im Unterschied zu einer in die Verwaltungshierarchie eingebundenen Verwaltungseinheit.
In der Schweiz gibt es Tausende von Personalfürsorgeeinrichtungen und Freizügigkeitsstiftungen der 2. Säule sowie Bankstiftungen mit 3a-Konten. Sind die Behörden mit der Aufsicht und Beurteilung der Sicherheit solcher Stiftungen mit Vermögen von mehreren hundert Milliarden Franken nicht überfordert?
Dazu gilt das vorhin Gesagte. Im Übrigen wurde diese Aufsicht jüngst reorganisiert: durch die Schaffung einer Oberaufsichtsbehörde. Jetzt müssen wir die diesbezüglichen Erfahrungen abwarten.
Sie sehen also keine Notwendigkeit, das schweizerische Stiftungsrecht durch eine Revision zu aktualisieren?
Nein, ich sehe zurzeit grundsätzlich keinen weiteren Handlungsbedarf, zumal das Schweizer Stiftungsrecht abgesehen vom BVG-Bereich innert weniger Jahre zahlreiche Änderungen und Ergänzungen erfuhr. Wünschenswert wäre noch eine Kodifikation der Stiftungsaufsichtsmittel (einschliesslich Anlagevorschriften) in einer eidgenössischen Stiftungsaufsichtsverordnung. Es ist nicht einzusehen, warum solche Vorschriften für Personalvorsorgestiftungen und andere Einrichtungen der beruflichen Vorsorge bestehen, nicht aber für die gewöhnlichen Stiftungen. Andere Postulate gehören mehr in den Bereich «nice to have», so etwa eine Regelung über die unselbständigen Stiftungen, die gesetzlich weitgehend ungeregelt sind, in der Praxis aber nach meinen Beobachtungen immer wieder zu Fragen führen, über die Widerruflichkeit des Stiftungsgeschäftes «eines Lebenden» oder die Zulassung der Umwandlung eines Vereins in eine Stiftung (in Artikel 53 ff. des Fusionsgesetzes nicht vorgesehen, aber einem erheblichen Bedürfnis entsprechend, da viele Vereine faktisch wie Stiftungen funktionieren).
(Das Interview wurde schriftlich geführt)
Hans Michael Riemer, 72, Dr. iur., lehrte bis 2007 an der Universität Zürich als Professor für Privatrecht. 1991 bis 2010 war er nebenamtlicher Richter der II. Zivilabteilung des Bundesgerichts. Diverse Publikationen zum Stiftungsrecht, neuestens «Vereins- und Stiftungsrecht (Art. 60–89bis ZGB)», Stämpflis Handkommentar, Bern 2012