1. Notwendige Verteidigung
Der alte und der revidierte Gesetzestext von Artikel 131 StPO unterscheiden sich in ein paar Punkten. Die Änderungen in der neuen Version von Artikel 131 StPO sind durch Unterstreichungen gekennzeichnet. Während Artikel 131 Absatz 1 StPO unverändert bleibt – und die notwendige Verteidigung weiterhin sicherzustellen ist, sobald ein Grund nach Artikel 130 StPO1 erkennbar ist, finden sich Änderungen in den Absätzen 2 und 3.
Im Rahmen der Revision der StPO wurde erkannt, dass der Wortlaut des alten Absatzes 2 widersprüchlich war, da er verlangte, dass die Sicherstellung der notwendigen Verteidigung «nach der ersten Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft, jedenfalls aber vor Eröffnung der Untersuchung» zu erfolgen hat.2
Den Zeitpunkt für die Sicherstellung der notwendigen Verteidigung auf die Eröffnung der Untersuchung zu legen, bringt verständlicherweise Schwierigkeiten mit sich. Vor allem bei Verfahren, in denen geheime Überwachungsmassnahmen angewendet werden, führt dies zu Problemen, weil die Einsetzung einer amtlichen Verteidigung zu diesem Zeitpunkt die Wirksamkeit der geheimen Zwangsmassnahmen beeinträchtigen würde.
Aus diesem Grund wurde im neuen Artikel 131 Absatz 2 StPO der Zeitpunkt für die Sicherstellung der amtlichen Verteidigung zwingend vor die Einvernahme durch die Staatsanwaltschaft oder – im Falle einer delegierten Einvernahme gemäss Artikel 312 Absatz 1 StPO – vor die polizeiliche Einvernahme gelegt. Im polizeilichen Ermittlungsverfahren gibt es nach wie vor kein Recht auf eine notwendige Verteidigung, hingegen ein Recht auf einen Anwalt der ersten Stunde.3
Der neue Artikel 131 Absatz 3 StPO hält sodann ausdrücklich fest, dass in Fällen, in denen vor Bestellung der amtlichen Verteidigung Beweise erhoben wurden, obwohl die Verteidigung erkennbar notwendig gewesen wäre, die Beweise nur dann verwertbar sind, wenn die beschuldigte Person auf eine Wiederholung der Beweiserhebung verzichtet. Es kommt bei der Frage der genannten Erkennbarkeit darauf an, ob im Zeitpunkt der Beweiserhebung bekannt oder mindestens bei pflichtgemässer Sorgfalt erkennbar war, dass ein Fall notwendiger Verteidigung vorlag, wobei an die Erkennbarkeit keine allzu hohen Anforderungen zu stellen sind.4
Sollte die Verteidigung verspätet oder fälschlicherweise gar nicht eingesetzt werden, tritt die Beweisverwertungsbeschränkung ein: Der Beweis ist nur verwertbar, wenn der Beschuldigte auf die Wiederholung der Beweiserhebung verzichtet. Artikel 131 Absatz 3 StPO statuiert gemäss Wortlaut folglich eine absolute Unverwertbarkeit, womit ein Anwendungsfall von Artikel 141 Absatz 1 Satz 2 StPO vorliegt, wonach das Gesetz selbst die Unverwertbarkeit der erhobenen Beweise statuiert.5
2. Definition der Einvernahme
2.1 Vorbemerkung
Der Gesetzgeber knüpft verschiedentlich an den Begriff der Einvernahme an. So etwa in Artikel 131 Absatz 2 StPO in Bezug auf den erforderlichen Zeitpunkt der Bestellung der notwendigen Verteidigung oder in Artikel 158 Absatz 1 StPO in Bezug auf die Rechtsbelehrung vor der ersten Einvernahme. Dennoch wird der Begriff der Einvernahme nicht legaldefiniert. Damit stellt sich die Frage, wann überhaupt eine Einvernahme im Rechtssinne vorliegt.
Im Folgenden wird zunächst ein neuer Bundesgerichtsentscheid erörtert, der von der plädoyer-Jury zu Recht die Auszeichnung als «Fehlurteil des Jahres 2022» erhielt.6 In jenem Urteil legt das Bundesgericht Ansatzpunkte zur Beantwortung der Frage dar, wann eine Einvernahme vorliegt und wann nicht. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit jenem dogmatisch kaum haltbaren Urteil erfolgt die Abgrenzung der Einvernahme zur informellen Befragung, wobei die Anwendung sämtlicher methodischer Auslegungselemente zum Schluss führen muss, dass der Bereich der informellen Befragung sehr eng zu fassen ist.
2.2 Bundesgerichtliche Rechtsprechung
Im Sachverhalt, der dem Urteil BGer 1B_535/2021 zugrunde lag, hatte die Polizei im Rahmen einer Hausdurchsuchung bei einer bereits notwendigerweise verteidigten Person ein Handy gefunden und den Code für die Entsperrung verlangt.
Dieser Aufforderung kam die beschuldigte Person nach und gab den Handycode an. Im nachfolgenden Entsiegelungsverfahren machte die beschuldigte Person ein Beweisverwertungsverbot geltend (Artikel 158 Absatz 2 StPO) und hielt mit Verweis auf die unterlassene Belehrung über das Mitwirkungs- und Aussageverweigerungsrecht (Artikel 158 Absatz 1 litera b StPO) fest, dass das Passwort nicht verwendet werden dürfe. Kurzum: Die Verwertbarkeit von Daten auf dem Mobiltelefon der beschuldigten Person war umstritten.
Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Polizei bei einer Hausdurchsuchung Fragen stellen dürfe und es sich hierbei nicht um eine Einvernahme handle. Entsprechend müsse die beschuldigte Person in diesem Rahmen auch nicht über ihr Recht, Aussagen und Mitwirkung zu verweigern, aufgeklärt werden.
Das Bundesgericht hielt wörtlich Folgendes fest: «Bei derartigen Fragen, welche die Hausdurchsuchung erleichtern sollen, dürfte es sich um keine Einvernahme handeln. Artikel 157 f. StPO dürften deshalb nicht anwendbar sein. Jedenfalls ist die Anwendung dieser Bestimmungen nicht offensichtlich, und damit ist es auch nicht die Pflicht der Polizeibeamten, den Beschuldigten nach Artikel 158 Absatz 1 litera b StPO darauf hinzuweisen, dass er die Aussage und die Mitwirkung verweigern kann.»7
2.3 Keine endgültige Schlussfolgerung
Die Formulierung des Bundesgerichts im Konjunktiv («dürfte» und «dürften») deutet offensichtlich darauf hin, dass das Bundesgericht keine endgültige Schlussfolgerung zieht und eine gegenteilige Interpretation von Artikel 158 Absatz 1 StPO zumindest nicht endgültig ausgeschlossen wird.
So anerkennt das Bundesgericht auch, dass die Anwendung von Artikel 157 f. StPO und die Pflicht, auf das Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht hinzuweisen, «nicht offensichtlich» ist. Trotz der Anerkennung dieses unstreitig bestehenden Interpretationsspielraums erachtet das Bundesgericht die Aufforderung zur Bekanntgabe des Handycodes während der Hausdurchsuchung ohne vorgängige Rechtsbelehrung als zulässig, ohne den Begriff Einvernahme überhaupt einer methodischen Betrachtung zu unterziehen.
Damit verfolgt das Bundesgericht einen sehr formalistischen Ansatz, indem es die Einvernahme letztlich auf eine Befragung beschränkt, die physisch in den Örtlichkeiten der Untersuchungsbehörden stattfindet und protokolliert wird. Diese sehr eng gefasste Auslegung ist rechtsfehlerhaft, da sie insbesondere die Vielfalt der Situationen, in denen eine Einvernahme stattfinden kann, nicht berücksichtigt.
Die Frage, ob eine Einvernahme – mit entsprechender Belehrungspflicht – vorliegt, kann jedenfalls weder anhand des Ortes der Befragung noch des Umstandes einer Protokollierung verbindlich beantwortet werden. Entscheidend muss vielmehr sein, ob die Antworten der befragten Person zu einer Selbstbelastung führen können. Auf all diese Fragen ist nachfolgend detailliert einzugehen.
Angemerkt sei in Bezug auf das Fehlurteil von 2022 bereits an dieser Stelle, dass der Entscheid BGer 1B_535/2021 in Dreierbesetzung erging und nicht publiziert wurde. Eine grundsätzliche Bedeutung wurde dem Fall nicht beigemessen (Artikel 20 Absatz 2 in Verbindung mit 109 BGG e contrario). Vielmehr hat das Bundesgericht sich auf eine Offensichtlichkeitsprüfung beschränkt, was vor Artikel 95 litera a BGG nicht standhält, betrifft die Frage der (korrekten) Auslegung von Artikel 158 StPO doch unstreitig Bundesrecht.
Dass die damals entscheidende Erste öffentlich-rechtliche Abteilung8 sich in Anwendung von Artikel 23 BGG mit der – ebenso betroffenen – Strafrechtlichen Abteilung zwecks Einheitlichkeit der Rechtsprechung koordiniert hätte, ist nicht ersichtlich.9
Die Chancen, dass das Bundesgericht dereinst von jenem Fehlurteil wieder Abstand nimmt, sind damit durchaus intakt. Darauf ist auch zu hoffen, denn es ist eindeutig bundesrechtswidrig, Artikel 158 Absatz 1 StPO dergestalt auszulegen, dass eine Einvernahme nur in einem formalisierten und protokollierten Rahmen erfolgen kann.
2.4 Einvernahme versus informelle Befragung
Die Abgrenzung zwischen Einvernahme und informeller Befragung10 ist von Bedeutung, um Klarheit darüber zu erhalten, wann eine Einvernahme im Rechtssinne vorliegt und wann nicht, und um zu bestimmen, wann die Artikel 131 Absatz 2 StPO respektive Artikel 158 Absatz 1 StPO zur Anwendung gelangen müssen.
Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die Polizei im Rahmen ihrer Vorermittlungen sogenannte formlose Orientierungsfragen stellen darf. Diese informellen Gespräche zielen darauf ab, einen ersten Eindruck zu gewinnen, insbesondere bei der Ankunft an Tatorten oder Unfallstellen. Sie unterliegen den Bestimmungen des kantonalen Polizeirechts, da erst die Antwort auf jene Fragen einen strafprozessualen Anfangsverdacht begründet, der seinerseits zur Anwendbarkeit der StPO führt.11
Solche reinen Orientierungsfragen der Polizei stellen keine offizielle Einvernahme gemäss Strafprozessordnung dar. Sie dürfen allerdings nur so lange erlaubt sein, als dass keine konkreten strafrechtlichen Verdachtsmomente gegenüber der befragten Person vorliegen.
Sobald objektive Gründe für einen konkreten Verdacht gegen eine Person bestehen, ist diese gemäss der Strafprozessordnung als beschuldigte Person zu vernehmen (und zwar unter Einhaltung von Artikel 158 Absatz 1 StPO). Insbesondere, wenn bereits ein Verfahren gegen eine Person eingeleitet wurde, wie es in aller Regel bei einer Hausdurchsuchung der Fall ist, sind informelle Orientierungsfragen ab diesem Zeitpunkt rechtlich per definitionem unmöglich und unzulässig.12
Die Funktion der blossen informellen Befragung und vor allem auch deren Unterstellung unter das (präventive) kantonale Polizeirecht zeigen, dass das Erfragen von Passwörtern (anlässlich einer Hausdurchsuchung oder eines sonstigen formlosen Gesprächs mit den Untersuchungsbehörden) niemals als blosse Orientierungsfrage angesehen werden darf.
Denn: Die Frage nach Passwörtern dient keineswegs dem Zweck der blossen Überblicksverschaffung.
Das Interesse der Polizei an Zugangsdaten zu Handy oder Computer deutet entweder auf einen Anfangsverdacht hin oder darauf, dass sie sich auf eine unzulässige «Fishing-Expedition» begeben möchte.13 Beides schliesst die Anwendung (präventiven) kantonalen Polizeirechts aus.
2.5 Methodische Auslegung 2.5.1 Vorbemerkung
Nachdem die Auslegung nach dem Gesetzeswortlaut – der Ausgangspunkt jeder Normauslegung14 – keinen Ansatzpunkt auf die Frage liefert, wann eine Einvernahme vorliegt, sind die übrigen drei Auslegungsmethoden (historisch, systematisch, teleologisch) beizuziehen. Dabei kann festgehalten werden, dass auch die systematische Auslegung die Frage nach der Definition einer Einvernahme nicht verbindlich beantwortet.
2.5.2 Einvernahme im Lichte der Botschaft
In historischer Hinsicht wird darauf hingewiesen, dass die Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts von 2005 zwar festhält, dass unter einer Einvernahme nur «protokollarisch vorzunehmende Befragungen» zu verstehen sind. Darin wird gleichzeitig ausgeführt, dass dabei keine Fälle einbezogen sind, in denen sich die Polizei zum Beispiel bei Verkehrsunfällen durch erste Fragen ein Bild von der Situation zu verschaffen sucht, da in solchen Situationen die prozessuale Stellung der betreffenden Personen oftmals noch gar nicht geklärt sei. Zudem gelte die Pflicht zur Belehrung über das Aussageverweigerungsrecht nicht nur für delegierte Einvernahmen, sondern für die gesamte selbständige Ermittlungstätigkeit der Polizei.15
Die historische Auslegung legt damit nahe, dass die Definition einer Einvernahme nicht streng formalistisch ist, sondern durchaus ein breiteres Verständnis erlaubt. Die Ausdrucksweise «protokollarisch vorzunehmende Befragungen» bezieht sich nämlich auf die rechtliche Notwendigkeit eines Protokolls bei der Befragung und nicht allein darauf, ob im konkreten Fall ein Protokoll angefertigt wurde. Damit schliesst die Definition der Einvernahme laut Botschaft auch Fälle ein, in denen ein Protokoll hätte erstellt werden müssen (Artikel 76 ff. StPO), aber zu Unrecht keines erstellt worden ist.
Insgesamt ist somit die historische Auslegung einer Einvernahme keineswegs rein formalistisch zu verstehen, respektive die (effektive) Protokollierung ist für sich allein nicht ausschlaggebend. Die Botschaft impliziert vielmehr
eine kontextbasierte Betrachtungsweise, insbesondere in Bezug auf die prozessuale Position der betroffenen Personen und den Kontext, in dem die Befragung stattfindet.
Nachdem (i) Aussagen der Parteien zu protokollieren sind (Artikel 76 Absatz 1 StPO) und (ii) eine Person anlässlich einer Hausdurchsuchung in der Regel bereits als beschuldigte Person identifiziert ist, kann festgehalten werden, dass die Botschaft, die als Beispiel für nicht zu protokollierende Polizeitätigkeiten das Verschaffen eines Überblicks am Verkehrsunfallort nennt, kaum davon ausgegangen ist, dass die Strafbehörden jederzeit extraprotokollarisch nach dem PIN-Code eines Mobiltelefons fragen dürfen.
2.5.3 Der Nemo-tenetur-Grundsatz
Sodann spricht die zweck- und folgengerichtete Auslegung im Lichte des Nemo-tenetur-Grundsatzes (teleologische Auslegung) deutlich dafür, dass eine Einvernahme vorliegen muss, sobald die Gefahr besteht, dass sich die befragte Person selbst belastet oder belasten könnte – losgelöst von einer rein formalen Betrachtungsweise.
Das Recht des Beschuldigten, zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten oder zur eigenen Verurteilung beitragen zu müssen, wird in der Lehre nicht nur als Teilgehalt der Verteidigungsrechte (Artikel 32 Absatz 2 BV), sondern auch der Unschuldsvermutung (Artikel 32 Absatz 1 BV) betrachtet.16
In der StPO ist der Nemo-tenetur-Grundsatz in Artikel 113 StPO manifestiert. Die beschuldigte Person muss sich demgemäss nicht selbst belasten und hat namentlich das Recht, die Aussage und Mitwirkung im Strafverfahren zu verweigern. Es besteht gemäss dem klaren Wortlaut somit keine Pflicht, durch aktives Verhalten das Verfahren zu fördern und so zur eigenen Überführung beizutragen.17
Gemäss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gilt die Freiheit vor Selbstbelastung bereits im Vorfeld eines Verfahrens, insbesondere im Hinblick auf ein wahrscheinliches Strafverfahren.18 Der EGMR unterstreicht damit die Bedeutung, den Beschuldigten rechtzeitig über seine Verteidigungsrechte zu informieren. Die Pflicht zur Aufklärung über die Verteidigungsrechte, insbesondere das Aussageverweigerungsrecht, muss somit bei jeder Situation bestehen, in der eine Person Gefahr läuft, sich selbst zu belasten.
Einigkeit besteht schliesslich darüber, dass der Nemo-tenetur-Grundsatz nicht nur auf einen Zweck reduziert werden kann und es verschiedene Begründungsansätze in der Rechtsprechung und der rechtswissenschaftlichen Lehre gibt, die ein breites Verständnis dieses Prinzips ermöglichen. Mit diesem breiten Verständnis soll sichergestellt werden, dass das Prinzip in verschiedenen Fallkonstellationen angewendet wird.
In der EMRK findet sich zwar keine positivrechtliche Normierung dieses Grundsatzes. Er wird allerdings als «privilege against self-incrimination» ausdrücklich anerkannt und stellt gemäss EGMR einen Kern eines fairen Verfahrens im Sinne von Artikel 6 EMRK dar.19 Ferner hält Artikel 14 Ziff. 3 litera g UNO-Pakt II das Recht der beschuldigten Person, zu schweigen und sich nicht selbst mit Aussagen belasten zu müssen, ausdrücklich fest.
2.5.4 Bundesgerichtliche Rechtsprechung und Kritik
In einem Urteil vom Mai 2023 hielt die Strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts zum Nemo-tenetur-Grundsatz Folgendes fest: «Gemäss Artikel 113 Absatz 1 StPO, der auf Gesetzesstufe das Selbstbelastungsprivileg (Grundsatz ‹nemo tenetur se ipsum accusare›) konkretisiert, muss sich die beschuldigte Person nicht selbst belasten. Obwohl in der Konvention nicht eigens erwähnt, gehört das Recht, zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten, zum allgemein anerkannten internationalen Standard eines fairen Verfahrens im Sinne von Artikel 6 EMRK.
Das Recht soll den Beschuldigten vor Pressionen schützen und hängt mit der Unschuldsvermutung zusammen. Wie das Bundesgericht unlängst erwogen hat, dient das Strafprozessrecht dazu, auf eine faire Weise die Wahrheitsfindung zu ermöglichen.»20 Damit anerkennt das Bundesgericht in deutlichen Worten, dass die beschuldigte Person vor Druck geschützt werden soll und ein Recht auf eine faire Wahrheitsfindung besteht.
Das vorstehend erwähnte Fehlurteil des Jahres 2022 der Ersten öffentlich-rechtlichen Abteilung, welches das Erfragen des Handycodes anlässlich einer Hausdurchsuchung ohne Rechtsbelehrung zulässt, erfüllt diese Anforderungen jedenfalls nicht. Eine Hausdurchsuchung ist eine einschneidende Massnahme, bei welcher die betroffene Person durch die plötzliche Präsenz von Polizeibeamten (und zum Teil der Staatsanwaltschaft) überrascht wird und sich in der Regel überwältigt und eingeschüchtert fühlt.
Gerade in solchen Momenten ist es entscheidend, dass die fundamentalen strafprozessualen Rechte respektiert und geschützt werden. Die Nichtaufklärung über das Recht, zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten, kann die beschuldigte Person in eine Lage bringen, in der sie Informationen (wie Passwörter) preisgibt, die später gegen sie verwendet werden können.
Indem das Bundesgericht das Erfragen von Handycodes anlässlich von Hausdurchsuchungen ohne explizite Rechtsbelehrung über das Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht als zulässig erachtet, entsteht eine unweigerliche Inkongruenz zum verfassungs- und völkerrechtlich wie auch bundesgesetzlich garantierten «fair trial» und zum Schutz der beschuldigten Person vor Pressionen.
Denn: Während das Bundesgericht diese Prinzipien in BGer 6B_999/2022 ausdrücklich garantiert,21 eröffnet es in BGer 1B_535/2021 die Möglichkeit, dass beschuldigte Personen während kritischer Momente wie einer Hausdurchsuchung nicht über ihr Recht, die Aussagen und Mitwirkung zu verweigern, informiert werden müssen und ohne weiteres nach belastenden Informationen – wie zum Beispiel dem Code des Mobiltelefons – gefragt werden dürfen.22
Im Zusammenhang mit der verbotenen Pression ist darauf hinzuweisen, dass die Belehrung über das Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht die beschuldigte Person insbesondere vor der irrtümlichen Annahme einer Aussage- und Mitwirkungspflicht bewahren soll. Dies ist wichtig, da in einigen Kantonen (etwa im Aargau) die beschuldigten Personen anlässlich von Hausdurchsuchungen sogar mittels eines Formulars dazu aufgefordert werden, Passwörter von Handy und Computer anzugeben.23
Eine solche Aufforderung seitens der Polizei setzt die beschuldigte Person zweifellos unter Druck, wird dadurch doch impliziert, es handle sich um einen gewöhnlichen Standardvorgang. Sinn und Zweck des Strafprozessrechts ist aber – neben dem Ziel der Wahrheitsfindung – nicht zuletzt der Schutz der beschuldigten Person vor einem übergriffigen Staat. Diesbezüglich ist das Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht dermassen zentral, womit eine zweckgerichtete Auslegung sämtlicher Rechtsnormen immer dann zu einer Belehrungspflicht führen muss, wenn das Risiko besteht, dass die beschuldigte Person belastende Details preisgibt.
2.5.5 Zwischenfazit
Die Auslegung des Begriffs der Einvernahme im Kontext des Nemo-tenetur-Grundsatzes hat gezeigt, dass die Frage des Vorliegens einer Einvernahme nicht an rein formalen Kriterien gemessen werden darf. Sobald die Antworten der beschuldigten Person dazu führen könnten, dass sie sich selbst belastet, ist die Situation als Einvernahme zu behandeln – und zwar unabhängig davon, ob sie formell als solche deklariert wurde oder nicht.
Im Zusammenhang mit der Wirksamkeit des Nemo-tenetur-Grundsatzes ist schliesslich festzuhalten, dass nur durch eine rechtzeitige Rechtsbelehrung (Artikel 158 Absatz 1 StPO) sichergestellt wird, dass dieser Grundsatz nicht ins Leere läuft und die beschuldigte Person ihre Rechte in vollem Umfang ausüben kann, bevor sie allfällige belastende Aussagen macht.
Damit kann vom Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, erst dann gesprochen werden, wenn die beschuldigte Person auf dieses Recht aufmerksam gemacht worden ist. Denn erst ab diesem Zeitpunkt lässt sich das Nemo-tenetur-Prinzip auch tatsächlich umsetzen.
Das Erfragen des Handycodes durch die Polizei oder Staatsanwaltschaft während einer Hausdurchsuchung muss somit – entgegen dem vorstehend zitierten Fehlurteil des Bundesgerichts – als eine Situation betrachtet werden, in der die (bereits als solche identifizierte) beschuldigte Person potenziell belastende Informationen preisgibt. Die Kenntnis über das Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht ist damit ausschlaggebend für die Erfüllung des bundesrechtlich garantierten Nemo-tenetur-Grundsatzes.
2.5.6 Verfassungskonforme Auslegung im Besonderen
Bereits die historische und erst recht die teleologische Auslegung führen zu einem klaren Resultat: Von einer Einvernahme im strafprozessualen Sinne ist immer dann auszugehen, wenn das Risiko oder die Möglichkeit besteht, dass eine beschuldigte Person sich in der konkreten Situation selbst belastet beziehungsweise belasten könnte. Damit verbietet sich die unhaltbare Annahme, es sei der Strafbehörde erlaubt, anlässlich einer Hausdurchsuchung im Rahmen eines formlosen Gesprächs nach dem PIN-Code eines Handys zu fragen. Sollte man dieser Auffassung dennoch kritisch gegenüberstehen, so bestätigt spätestens die verfassungskonforme Auslegung die Richtigkeit der vorliegend vertretenen Ansicht.
Soweit die verschiedenen Auslegungselemente zu keinem eindeutigen Ergebnis führen, ist gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung jeweils die höchste Rechtsquelle unseres Landes hinzuzuziehen und dabei jene Auslegung zu wählen, «die den verfassungsrechtlichen Vorgaben am besten entspricht», wobei die verfassungskonforme Auslegung ihre Grenzen erst beim «klaren Wortlaut und Sinn einer Gesetzesbestimmung» findet.24
Dies deckt sich auch mit der einhelligen Lehre zu Artikel 190 BV, die festhält, dass das Anwendungsgebot von Bundesgesetzen geradezu eine verfassungskonforme Auslegung gebietet, um der Normenhierarchie zum Durchbruch zu verhelfen.25
Gemäss Artikel 32 Absatz 2 BV hat «jede angeklagte Person Anspruch darauf, möglichst rasch und umfassend über die gegen sie erhobenen Beschuldigungen unterrichtet zu werden», wobei sie «die Möglichkeit haben muss, die ihr zustehenden Verteidigungsrechte geltend zu machen». Dabei muss die beschuldigte Person ihre Verteidigungsrechte tatsächlich, also konkret und wirksam, wahrnehmen können.26
Das Bundesgericht hält in diesem Zusammenhang fest, dass die mit der Strafverfolgung betrauten Behörden aufgrund ihrer Fürsorge- und Aufklärungspflicht nach Artikel 32 Absatz 2 und Artikel 31 Absatz 2 BV für die Voraussetzungen eines fairen Strafverfahrens zu sorgen haben.27 Der Verfassungsgeber definiert die «zustehenden Verteidigungsrechte» zwar nicht im Detail. Klar ist aber, dass damit nicht nur verfassungsmässige oder menschenrechtliche Verteidigungsrechte gemeint sind, sondern auch andere beziehungsweise weiter-
gehende gesetzliche Verteidigungsrechte.
Zu betonen ist erneut, dass der Nemo-tenetur-Grundsatz Verfassungsrang hat. Selbst wenn man die Auffassung vertreten sollte, eine teleologische Auslegung führe für sich allein stehend noch nicht zur Richtigkeit der hier vertretenen Ansicht, so bewirkt spätestens die verfassungskonforme Auslegung, dass ein zu enges Verständnis des Einvernahmebegriffs nicht dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Der Begriff «Einvernahme» ist als solcher nämlich nicht derart klar, dass er keinen Raum für eine verfassungskonforme Auslegung liesse.
Mithin lässt sich nicht behaupten, eine Einvernahme müsse zwingend immer auf polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche Räumlichkeiten beschränkt sein und protokolliert werden.
Hinzu kommt schliesslich, dass zum Zeitpunkt der Verabschiedung der StPO-Botschaft im Jahr 2006 Smartphones noch nicht stark verbreitet waren. Damals waren Mobiltelefone auch funktional viel eingeschränkter, als sie es heute sind.
Das Zeitalters der Smartphones hat das Interesse der Strafverfolgungsbehörden an PIN-Codes und anderen Daten von beschuldigten Personen deutlich gesteigert. Vor allem denken wir dabei an die Internet-Suchverläufe – ein Aspekt, der 2006 aufgrund des damals geringen Internetzugangs auf Mobilgeräten kaum relevant war.
Das Bundesgericht entschied – nicht zuletzt aufgrund der raschen technischen Entwicklung – im Zusammenhang der Löschung von User-Kommentaren durch die SRF-Internetredaktion, dass der Gesetzgeber wohl kaum die Rechtsweggarantie bewusst habe ausschliessen wollen.28
Dieselbe Überlegung hat im Grundsatz auch hier zu gelten. Entsprechend muss angenommen werden, dass die Gesetzgebung im Kontext der Nutzung von Mobiltelefonen und neuen Technologien, die damals noch nicht vorhanden waren, nicht (vollständig) berücksichtigt wurde. Daraus folgt, dass gemäss verfassungskonformer Auslegung stets dann von einer Einvernahme auszugehen ist, wenn im konkreten Fall die Möglichkeit selbstbelastender Aussagen besteht.
3. Erkenntnis und Folgen für die Praxis
Zusammenfassend ist auf die Relevanz der Definition einer Einvernahme hinzuweisen, die vor allem in Bezug auf den Zeitpunkt der Bestellung der notwendigen Verteidigung gemäss Artikel 131 Absatz 2 StPO sowie auf die Pflicht zur Rechtsbelehrung gemäss Artikel 158 Absatz 1 StPO eine entscheidende Rolle spielt.
Das Bundesgericht hat in einem Entscheid aus dem Jahr 2022 (zurückhaltend) festgehalten, dass die Aufforderung zur Preisgabe eines Handycodes während einer Hausdurchsuchung zulässig und dies nicht als Einvernahme (mit entsprechender Belehrungspflicht) zu betrachten sei. Zugleich hat es in einem Entscheid aus dem Jahr 2023 die Bedeutung des Nemo-tenetur-Grundsatzes unterstrichen und das Verbot von Pression auf die beschuldigte Person sowie die Notwendigkeit von Fairness im Strafverfahren betont.
Bei dieser Ausgangslage ist es in der Praxis ratsam, wenn die Verteidigung die Unverwertbarkeit selbstbelastender Aussagen der beschuldigten Person – zum Beispiel während der Hausdurchsuchung oder anderer Gespräche mit der Polizei oder Staatsanwaltschaft – unter Berufung auf die Belehrungspflicht bei Einvernahmen gemäss Artikel 158 Absatz 1 StPO (weiterhin) geltend macht.
Festzuhalten ist, dass es den Strafbehörden – selbst wenn eine gültige Rechtsbelehrung gemäss Artikel 158 Absatz 1 StPO vorliegen sollte – in den Fällen einer zwar notwendigen, aber nicht anwesenden Verteidigung ausnahmslos verboten ist und auch sein muss, die beschuldigte Person anlässlich einer Hausdurchsuchung zu PIN-Codes oder Passwörtern zu befragen.
Schliesslich erfordert die Frage nach der rechtzeitigen Bestellung der notwendigen Verteidigung gemäss Artikel 131 Absatz 2 StPO und damit nach der Verwertbarkeit der erhobenen Beweise gemäss Artikel 131 Absatz 3 StPO besondere Aufmerksamkeit. Sollte die notwendige Verteidigung verspätet oder gar nicht eingesetzt worden sein, so ist die sorgfältige Verteidigung angehalten, eine Wiederholung der Beweiserhebung gemäss Artikel 131 Absatz 3 StPO zu prüfen.29
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