plädoyer: Die Strafprozessordnung (StPO) gibt Beschuldigten das Recht, bei Beweiserhebungen durch Staatsanwaltschaft und Gerichte anwesend zu sein. Das gilt auch bei Einvernahmen anderer Personen. Die Staatsanwaltschaften haben mit der Umsetzung dieser Norm Mühe. Weshalb?
Beat Voser: Mit dem Teilnahmerecht von Artikel 147 StPO an sich haben wir kein Problem. Nur mit dem Zeitpunkt, zu dem es eingefordert wird. Wichtig zu wissen: Während des polizeilichen Ermittlungsverfahrens besteht laut Gesetz kein Teilnahmerecht. In dieser Phase des Vorverfahrens sind die Grundlagen für die spätere Untersuchung zu schaffen. Durch Sachverhaltsabklärungen und Befragungen ist ein Tatverdacht hinreichend zu konkretisieren. Es stellt sich somit die Frage, wie lange diese Phase dauert. Das Gesetz bestimmt in Artikel 309 StPO zwar formell, wann die Staatsanwaltschaft die Untersuchung zu eröffnen hat. Allerdings steht diese Bestimmung in Widerspruch etwa zu Artikel 307 Absatz 2 StPO oder Artikel 309 Absatz 2 StPO, wonach die informierte und damit zur Eröffnung verpflichtete Staatsanwaltschaft der Polizei Weisungen erteilen oder den Fall zurückweisen kann – weil faktisch eben noch ungenügende Erkenntnisse zur Durchführung der Untersuchung bestehen. Und bei geheimen Zwangsmassnahmen ist die Teilnahme auch bei Eröffnung der Untersuchung per definitionem nicht möglich.
plädoyer: Hat diese Unterscheidung in Ermittlungs- und Strafverfahren zur Folge, dass die Staatsanwaltschaften den Anspruch auf Teilnahme an Einvernahmen aushebeln, indem die Einvernahme als Teil der Ermittlung deklariert wird?
Thomas Sprenger: Nach meiner Erfahrung entwickelt sich die Praxis zu den Teilnahmerechten generell vom Gesetzeswortlaut weg. Die Trennung zwischen Untersuchung und Ermittlungsverfahren ist ein Aspekt dieser Entwicklung. Nach einem jüngeren Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich etwa kann die Staatsanwaltschaft die Polizei auch nach eröffneter Untersuchung mit ergänzenden Ermittlungen beauftragen (UH130204 vom 20. August 2013). Befragt die Polizei im Rahmen dieser Ermittlungen dann Auskunftspersonen, gelten die Teilnahmerechte nach Auffassung des Obergerichts nicht.
plädoyer: Und das war nach Einführung der neuen Prozessordnung nicht der Fall?
Sprenger: Kurz nach Inkrafttreten der neuen StPO wurden die Teilnahmerechte im Kanton Zürich meiner Erfahrung nach häufiger gewährt als nach alter StPO. Inzwischen ist jedoch eine Tendenz der Strafverfolgungsbehörden feststellbar, wieder an die frühere kantonale Praxis anzuknüpfen und die Teilnahmerechte einzuschränken. Eine erste Etappe auf diesem Weg stellte die Rechtsprechung des Zürcher Obergerichts dar – eingeleitet mit UH110023 vom 11. Mai 2011 –, wonach die Teilnahmerechte über den sogenannten Grundsatz der getrennten Einvernahme gemäss Artikel 146 StPO eingeschränkt werden sollten. Das Bundesgericht hat dieser Auslegung im Oktober 2013 mit BGE 139 IV 25 zwar eine Absage erteilt. Gleichzeitig hat es aber mit demselben Urteil neue Unsicherheiten geschaffen. Die Analogie des Teilnahmerechts zu Artikel 101 Absatz 1 StPO über die Akteneinsicht etwa räumt der Staatsanwaltschaft zusätzliche Möglichkeiten zur Einschränkung der Teilnahmerechte ein.
plädoyer: Hauptproblem ist also die Abgrenzung zwischen Ermittlung und Untersuchung?
Voser: Ja. Immerhin ist aber eine Einschränkung der Teilnahme von Beschuldigten möglich, wenn die Verfahrensleitung sie gemäss Artikel 146 Absatz 4 StPO (Interessenkollision) vorübergehend von der Verhandlung ausschliesst, da das besondere Verhältnis der Personen zueinander das Aussageverhalten womöglich beeinflusst. Ein Grund dafür kann etwa in der emotionalen Betroffenheit, der verwandtschaftlichen oder hierarchischen Verhältnisse liegen.
Sprenger: Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Staatsanwaltschaften das Argument der Interessenkollision heranziehen würden, um die Teilnahmerechte einzuschränken. Diese Auslegung wird aber weder vom Gesetz noch von den Materialien gestützt.
plädoyer: In den Kantonen sind die Ermittlungs- und Untersuchungsbehörden unterschiedlich organisiert. In Basel ist die Kripo eine Abteilung der Staatsanwaltschaft, in Zürich delegiert die Staatsanwaltschaft Verfahrenshandlungen an die externe Kripo. Wird diese Zweispurigkeit in der Praxis als Mittel genutzt, um von den gesetzlichen Unklarheiten zu profitieren und die Teilnahmerechte auszuhebeln?
Sprenger: In diesem Punkt ist das Gesetz eigentlich klar. Artikel 312 StPO soll eine Aushebelung verhindern: Werden in einer Strafuntersuchung Befragungen an die Polizei delegiert, gelten die Teilnahmerechte auch. Weil die Strafverfolger aber ein Bedürfnis haben, Abklärungen machen zu können, ohne jedes Mal ein Heer von Parteien und Rechtsvertretern aufzubieten, wird stets nach neuen Möglichkeiten gesucht, die Teilnahmerechte einzuschränken. Ein Beispiel dafür ist der erwähnte Entscheid des Zürcher Obergerichts, wonach die Teilnahmerechte bei ergänzenden Ermittlungen durch die Polizei nicht gelten sollen.
plädoyer: Wie gross ist die Diskrepanz zwischen dem Willen des Gesetzgebers und der Praxis?
Sprenger: Die Einschränkung der Teilnahmerechte liegt zurzeit im Trend. Ich stelle fest, dass viele Strafverfolger an oder über die Grenzen dessen gehen, was zulässig ist. Ich kann das als Verteidiger nicht immer gutheissen.
plädoyer: Staatsanwälte befürchten generell, dass ein Beschuldigter bei Anwesenheit eines Mitbeschuldigten nicht gleich aussagt, wie wenn er allein wäre. Ist diese Annahme berechtigt?
Voser: Es ist aussagepsychologisch klar, dass Aussagen auch vom Setting abhängen. Hat eine Person vor einer anderen Angst, wird sie sich nicht gleich verhalten, wie wenn sie sich unbefangen äussern kann. Muss jemand damit rechnen, mit der beschuldigten Person später wieder zusammenleben zu müssen, wie etwa ein zu befragendes Kind im Verfahren gegen den Vater, wird es sich zurückhalten oder schweigen. Das gleiche gilt bei Subordinationsverhältnissen, wie sie etwa in Banden oder anderen Organisationen herrschen.
plädoyer: Haben Sie konkrete Verbesserungsvorschläge für eine klarere Ausgestaltung des Teilnahmerechts des Beschuldigten im Gesetz?
Voser: Eine Arbeitsgruppe der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz hat folgenden Revisionsvorschlag zum Artikel 147 Absatz 1 StPO gemacht: «Die Verfahrensleitung kann eine beschuldigte Person und deren Anwalt von der Teilnahme an der Einvernahme von Mitbeschuldigten ausschliessen, wenn dies aufgrund des Ermittlungsstandes zur Feststellung der Wahrheit erforderlich ist. Die Teilnahme- und Konfrontationsrechte zu einem späteren Zeitpunkt im Ermittlungs- und Untersuchungsverfahren sind gewährleistet.»
plädoyer: Wäre diese Formulierung nicht ein Steilpass für die Staatsanwaltschaft, frei zu bestimmen, wann ein Mitbeschuldigter teilnehmen darf?
Sprenger: Meines Erachtens hat die Staatsanwaltschaft diese Freiheit inzwischen bereits wieder. Die jetzige Praxis ist unbefriedigend, weil sie durch grosse Unsicherheiten auf beiden Seiten geprägt ist. Klare Spielregeln wären für alle hilfreich.
plädoyer: Würden Sie die Teilnahmerechte auch auf das Ermittlungsverfahren ausdehnen?
Sprenger: Die Abgrenzung zwischen der Ermittlung und der Untersuchung ist sehr schwierig. Wenn man eine klare Trennung machen könnte, wäre es aus meiner Sicht nicht zwingend notwendig, dass bereits während der Ermittlung die Teilnahmerechte gelten. Fakt ist aber, dass es keine klare Trennung gibt. Ob eine Ausdehnung der Teilnahmerechte auf das Ermittlungsverfahren wünschbar ist, hängt letztlich von meiner Parteirolle im Verfahren ab. Als Verteidiger bin ich natürlich daran interessiert, möglichst früh bei Einvernahmen dabei zu sein. Denn werden Aussagen gemacht, die meinen Mandanten belasten, möchte ich wissen, unter welchen Umständen sie entstanden sind. Als Geschädigtenvertreter hingegen, der eine ähnliche Sichtweise und Interessenlage hat wie die Staatsanwaltschaft, ist mir dies nicht wichtig.
Voser: In der Praxis weiss man oft nicht, wie sich eine Aussage entwickelt, ob sie sich auf bestimmte Sachverhalte und Personen beschränkt oder ausweitet. Es ist absurd zu glauben, dass sich Artikel 147 StPO auf die Ermittlungen ausweiten lässt. Je nachdem, was die Erkenntnisse aus den Ermittlungen ergeben, würde sich im Nachhinein ständig herausstellen, dass Teilnahmerechte verletzt wurden oder Nichtbetroffene teilgenommen haben. Und das ist genau der schwache Punkt der StPO: Sie geht davon aus, dass Ermittlung und Untersuchung immer völlig klar voneinander getrennt werden können. In der Praxis gibt es aber eine Parallelität.
Sprenger: Ich halte es für möglich, dass Auskunftspersonen in Abwesenheit anderer Verfahrensbeteiligter befragt werden, solange es sich nicht um eine formalisierte Befragung im Büro des Polizisten, das heisst um eine Einvernahme mit Protokoll und Unterschrift des Befragten handelt. Sobald die Auskunftsperson ihre Aussagen unterschriftlich bestätigen muss, steht sie später unter einem gewissen Erwartungsdruck, das Gesagte zu bestätigen. Erfahrungsgemäss werden einmal protokollierte Aussagen kaum mehr geändert.
Voser: Das widerspricht der Realität. Vor Gericht werden Aussagen oft relativiert oder zurückgezogen.
plädoyer: Die enge Auslegung von Teilnahmerechten wird in der Regel mit dem Ziel der Strafuntersuchung begründet: der Feststellung der materiellen Wahrheit. Ist ein Strafverfahren überhaupt geeignet, die materielle Wahrheit zu ergründen? Oder müssen sich die Beteiligten nicht in jedem Fall mit einer formellen Wahrheit zufriedengeben?
Voser: Der Gesetzgeber sagt klar, dass das primäre Ziel des Strafverfahrens die Wahrheitsfindung ist. Dabei geht es um die historische Wahrheit. Ausser dem beschuldigten Täter muss wohl jeder an der so verstandenen materiellen Wahrheit interessiert sein, auch der zu Unrecht Beschuldigte.
Sprenger: In einem Strafverfahren gibt es immer verschiedene Sichtweisen – in der Regel jene der Staatsanwaltschaft und jene des Beschuldigten. Was am Schluss in den Akten liegt, ist fast immer nur ein Teil der materiellen Wahrheit, also eine formelle Wahrheit.
plädoyer: Dient die Parteiöffentlichkeit der Suche nach der materiellen Wahrheit nicht besser als Heimlichtuerei im Verfahren?
Voser: Die maximale Parteiöffentlichkeit ist der Wahrheitsfindung nur dienlich, wenn alle das gleiche Interesse verfolgen. Das ist nicht der Fall. Die Täterschaft hat in der Regel kein Interesse an der Wahrheit, sondern an einer tiefen Strafe. Sie wird versuchen, den Prozess mit allen Mitteln bis hin zur Einschüchterung von Zeugen zu behindern. Das muss nicht einmal verbal sein, Mimik und Gestik reichen. Dessen muss man sich bewusst sein, wenn ein umfassendes Teilnahmerecht gefordert wird.
Sprenger: Führt man ein Strafverfahren gegen einen tatsächlich Schuldigen, dann dürfte es der materiellen Wahrheit wohl in den seltensten Fällen zuträglich sein, wenn der Schuldige von Anfang an bei allen Einvernahmen dabei sein darf. Läuft das Verfahren aber gegen einen unschuldigen Beschuldigten, wird die Gewährung der Teilnahmerechte der materiellen Wahrheit in aller Regel dienen. Da in der Schweiz die Strafverfahren per definitionem gegen Unschuldige geführt werden – um den Freiburger Professor Marcel Alexander Niggli zu zitieren –, müssten konsequenterweise auch die Teilnahmerechte grosszügig gewährt werden.
plädoyer: Reichen die Sanktionsmöglichkeiten der StPO bei einer Verletzung der Teilnahmerechte aus? Es hängt ja immer das Damoklesschwert des Verwertungsverbots über solchen Verfahren.
Sprenger: Würden die Sanktionsmöglichkeiten konsequent angewandt, wären sie ein geeignetes Mittel, um die Strafverfolgungsbehörden zu zwingen, die Regeln einzuhalten. Allerdings existiert zur Frage des Verwertungsverbots noch keine Praxis. Ich wage die Prognose, dass die Folgen nicht so gravierend sein werden, wie es der Wortlaut der StPO vorsieht. Man beobachtet dies auch in anderen Bereichen des Strafprozesses.
Voser: Das Gericht hat die Aufgabe, die Wahrheit zu ermitteln. Stellt es fest, dass ein Beweis unter einem Rechtsbruch erhoben wurde, muss es im Rahmen von Artikel 141 StPO ein Beweisverwertungsverbot verhängen. Bei der Verletzung von Teilnahmerechten besteht jedoch gemäss Artikel 147 Absatz 4 StPO nur ein beschränktes Verwertungsverbot. Es ist daher unnötig und kann gar unsinnig sein, ganze Protokolle aus den Akten zu entfernen, wie es in solchen Fällen oft gefordert wird. Dann verschwänden auch entlastende Aussagen. Das Protokoll kann zudem neutrale Angaben enthalten, die für das Verständnis des Sachverhalts wichtig sind. Eine Entfernung dürfte nicht im Interesse der Beschuldigten liegen.
Sprenger: In vielen Fällen wird das Gericht einen Weg suchen, damit Einvernahmen, die nach dem Wortlaut der StPO eigentlich unverwertbar wären, trotzdem verwertbar bleiben. Dies hat auch mit den alarmierenden Pendenzenzahlen der Gerichte und der Belastung der Strafverfolgungsbehörden zu tun. Die Rückweisung eines Strafverfahrens oder die erneute Erhebung eines nicht formgerecht erhobenen Beweismittels vor Gericht sind mit Aufwand verbunden. Bei hoher Belastung entstehen automatisch Mechanismen, um derartigen Zusatzaufwand zu vermeiden. Ein solcher Mechanismus kann sein, dass die Formvorschriften etwas grosszügiger ausgelegt werden.
Voser: Dazu besteht keine Notwendigkeit. Im Kanton Basel-Stadt sind die personellen Ressourcen bei den Gerichten mit der neuen StPO nicht abgebaut worden. Wenn man bedenkt, dass nun 80 Prozent der Strafverfahren mit einem Strafbefehl enden, sind die Gerichte entlastet. Es müsste den Gerichten deshalb möglich sein, mangelhafte Strafverfahren zurückzuweisen. Zudem wäre zu wünschen, dass sie vermehrt Opfer oder wichtige Zeugen vorladen und selber befragen. Früher wurde immer betont, wie wichtig es sei, sich ein eigenes Bild machen zu können. Warum das heute anders sein soll, ist nicht erkennbar.
plädoyer: Gilt dasselbe auch in Zürich?
Sprenger: Bereits unter der Zürcher StPO war die Abnahme von Beweisen vor den Schranken bei den Gerichten nicht beliebt. Als Mitarbeiter des Gerichts habe ich das vor rund zehn Jahren selbst so erlebt. Daran hat sich im Kanton Zürich meiner Erfahrung nach nicht viel geändert. Als Anwalt stelle ich einen Beweisantrag heute oft schon im Wissen, dass er vom Gericht mit hoher Wahrscheinlichkeit abgelehnt wird.
Thomas Sprenger, 42, Rechtsanwalt, Partner der Zürcher Kanzlei Baumgartner Mächler Rechtsanwälte. Er ist als Verteidiger und Geschädigtenvertreter im Strafrecht tätig.
Beat Voser, 58, Leitender Staatsanwalt und Chef der Kriminalpolizei des Kantons Basel-Stadt. Er arbeitet seit 1982 bei der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt.