Der Caglayan-Justizpalast ragt als grauer, kolossaler Bau aus der Stadtlandschaft Istanbuls hervor. Mit seiner Gesamtfläche von 320 000 Quadratmetern, seinen zwölf Stockwerken, Sicherheitsschleusen und rund 4000 Mitarbeitern ist der Justizpalast das grösste Gerichtsgebäude innerhalb der Mitgliedsstaaten des Europarats. Eine Festung – wie gemacht, um der Regierung als modernes Machtmonument zu dienen und den Charakter der sich darin abspielenden Schauprozesse zu versinnbildlichen.
Auch letztes Jahr fanden hier wieder zahlreiche Strafprozesse gegen Menschenrechtsaktivisten statt. Während die Prozesse und willkürlichen Massnahmen gegen Journalisten teilweise weltweit im Fokus der Öffentlichkeit stehen, bleibt die strafrechtliche Verfolgung der Anwaltschaft, insbesondere der Strafverteidiger, medial weitgehend unbeachtet. Dabei zeichnet sich seit Jahren eine verheerende Tendenz der Strafverfolgungsbehörden unter dem Regime Erdogans ab: Hunderte von Anwälten wurden in den letzten Jahren wegen Aktivitäten, die sie im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit ausgeübt haben, inhaftiert und strafrechtlich verfolgt.
Inhaftiert wegen «falschen» Klienten
Viele der Prozesse wurden auch letztes Jahr wieder von internationalen Beobachtungsdelegationen begleitet – darunter auch Mitglieder der Demokratischen Juristinnen und Juristen Schweiz. Diese Beobachtungsmissionen erfolgen in Koordination mit der europäischen Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt. Die Beobachtungsdelegationen haben den Zweck, eine breitere Öffentlichkeit auf die Verletzungen rechtsstaatlicher Prinzipien in politisch motivierten Prozessen aufmerksam zu machen. Zudem soll der Zustand – oder besser der Zerfall – des Rechtsstaates eines der Gründerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) dokumentiert werden. Eine anhaltende internationale Aufmerksamkeit soll auch einen gewissen Druck auf die türkischen Strafverfolgungsbehörden sowie die Regierung des Landes ausüben.
Anwälte kommen schnell in den Fokus der türkischen Strafverfolgungsbehörden. Es scheint zu genügen, Verteidigungsmandate für die «falschen» Angeklagten zu übernehmen. Anwälte werden unter dem Vorwand, dass sie entweder der Gülen-Bewegung, pro-kurdischen Organisationen oder allgemein der Linken nahestehend, mit Verweis auf Notstands- und Antiterrorgesetze inhaftiert und isoliert. Zudem werden in ihren Kanzleien Dokumente und Datenträger beschlagnahmt. Einige Beispiele:
Seit 2012 wurde im Rahmen der sogenannten «KCK/PKK-Operationen» ein Strafverfahren gegen insgesamt 46 Anwälte eröffnet. Ihr Verschulden: Sie waren an der Verteidigung des PKK-Führers Abdullah Öcalan beteiligt. Ihnen wird vorgeworfen, selber Mitglied der KCK/PKK zu sein.
Im Fall des 2017 eröffneten Verfahrens gegen vier Angehörige des Ezilenlerin Hukuk Bürosu («Anwaltsbüro der Unterdrückten») wiederum liegt der Hauptvorwurf darin, dass Anwälte an Beerdigungen einiger ihrer Klienten – angeblichen Terroristen – teilgenommen hätten. Bei der Beobachtung der Prozesse wird schnell klar: Primärer Zweck der Verfahren ist die Schwächung der kritischen Zivilgesellschaft als Ganzes. Die beobachteten Verfahren sind von systematischen Verletzungen der Rechte der Angeklagten geprägt – ein typisches Kennzeichen politischer Prozesse.
Prozessrecht nicht mehr von Bedeutung
Als Mitglied des Europarats ist die Türkei an die EMRK gebunden. Doch von der Polizei über die Staatsanwaltschaft bis zum Gericht werden ihre Garantien nicht mehr eingehalten. Mehr noch: Auch das türkische Prozessrecht scheint kaum noch Bedeutung zu haben. Einige Beispiele:
Handeln ohne Genehmigung: Im Fall des «Anwaltsbüro der Unterdrückten» lagen vor den Hausdurchsuchungen keine Genehmigungen des Justizministeriums vor. Die notwendigen gerichtlichen Durchsuchungsgenehmigungen wurden teils erst nachträglich eingeholt und es war keine Vertretung der Anwaltskammer anwesend.
Schikanöse U-Haft und Ersatzmassnahmen: Oft verbleiben Angeklagte über Monate oder sogar Jahre in Untersuchungshaft, ohne dass die angeblich bestehenden Haftgründe vor Gericht näher begründet würden. Untersuchungsgefangene werden teilweise in Isolationshaft versetzt und die Besuchsrechte der inhaftierten Anwälte sind massiv eingeschränkt. Wer aus der U-Haft entlassen wird, muss sich in der Regel als Ersatzmassnahme wöchentlich auf dem Polizeiposten melden.
Kein Zugang zum Gerichtssaal: In einem im Mai 2018 eröffneten Verfahren wurden 18 Anwälte wegen Teilnahme an einer Demonstration anlässlich der Veröffentlichung des sogenannten «Cizre-Berichts» der Propaganda für eine terroristische Organisation angeklagt und vor Gericht gestellt. Einigen Angeklagten, die sich in Haft befanden, wurde die persönliche Teilnahme an der Verfahrenseröffnung verweigert. Stattdessen mussten sie per Videokonferenz am Prozess «teilnehmen». Die Übertragung war von derart schlechter Qualität, dass man die Angeklagten im Gerichtssaal oft nicht hörte.
Vorführung nur in Gefängniskleidern: Im Februar 2018 verwehrte man vier Angeklagten in einem weiteren «Propagandaverfahren» ebenfalls die Teilnahme im Gerichtssaal. Dies einzig, weil die Angeklagten sich geweigert hatten, in Gefängniskleidern statt in ziviler Kleidung vor Gericht zu treten. Werden Angeklagte verpflichtet, in Häftlingskleidern am eigenen Strafverfahren teilzunehmen, ist das eine Verletzung der Unschuldsvermutung.
Anonyme Zeugenaussagen: In einem weiteren Verfahren, an dem letztes Jahr Beobachter der Demokratischen Juristen anwesend waren, wurde vollständig auf die anonymen Aussagen von Polizisten abgestützt. Damit wurde den angeklagten Anwälten das Teilnahmerecht an der Beweiserhebung entzogen. Gleichzeitig wurden sie der Möglichkeit beraubt, die Glaubwürdigkeit der Aussagen in Frage zu stellen. Das Gericht und die Staatsanwaltschaft entgegneten den Einwänden gegen die Verwendung anonymer Aussagen, dass sowohl Notstands- als auch die Antiterrorgesetze dies erlauben würden.
Verschleppung der Verfahren: Auffällig ist, dass die Verfahren extrem lange dauern. Das im Rahmen der «KCK-Operationen» eröffnete Verfahren gegen 46 Anwälte ist seit über sechs Jahren erstinstanzlich hängig. In der Regel finden zwei oder drei Verhandlungstage pro Jahr statt, die manchmal nach wenigen Minuten und ohne wesentlichen Verfahrensfortschritt beendet und vertagt werden. Dieses Vorgehen stellt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots dar.
Strafverteidiger werden eingeschüchtert
Trotz all dieser Widerwärtigkeiten ist zu beobachten, dass die angeklagten Anwälte beziehungsweise ihre Verteidigung die Prozesse als Plattform zu nutzen versuchen, um die Politik der Regierung und die Rolle der Justiz anzuprangern. Ihre Berufstätigkeit erachten sie als eine sozialgesellschaftliche Aufgabe und als einen Beitrag für den politischen Gegendruck auf das Justizsystem. Es ist beeindruckend zu sehen, wie motiviert die Anwälte und ihre zahlreichen Unterstützer für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kämpfen. Und dies, obwohl viele während Monaten in Untersuchungshaft auf ihre Anklage warteten und mit mehrjährigen Freiheitsstrafen und Berufsverboten rechnen müssen.
Inhaftierungen und Anklagen gegen Strafverteidiger sind ein bewährtes Mittel im Repressionsrepertoire der Türkei: Anwälte, die es wagen, Oppositionelle sowie Regimekritiker zu verteidigen, sollen eingeschüchtert und sanktioniert werden. Von dem am 12. Mai 2005 ergangenen Urteil (Öcalan vs. Turkey – No 46221/99) der Grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofs, das den Schutz der Kommunikation zwischen dem Mandanten und der Rechtsvertretung Öcalans betonte (Rn. 133), liess sich die Türkei offensichtlich nicht abschrecken. Vielmehr genügt es heute, in Öcalans Verteidigung involviert zu sein, um der Unterstützung oder der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verdächtigt zu werden.
Damit tut die Türkei, was nach Ziffer 18 der «Basic Principles on the Role of Lawyers» der Vereinten Nationen völkerrechtlich geächtet wird: «Law-yers shall not be identified with their clients or their clients’ causes as a result of discharging their functions.»
Die politisch motivierten Strafprozesse gegen die Strafverteidiger richten sich nicht nur gegen diese selbst, sondern missachten auch das Recht ihrer Klienten auf eine wirksame Verteidigung. Das Ziel scheint offensichtlich: Strafverteidiger sollen es nicht mehr wagen, Verteidigungsmandate für Terrorangeklagte zu übernehmen oder legitime Verteidigungshandlungen zu ergreifen.
Exakt dies geschah etwa im September 2018 beim Hauptverfahren gegen 18 Anwälte der kritischen Anwaltsorganisation CHD. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglieder einer terroristischen Vereinigung zu sein. Als Beweis für diesen Tatvorwurf wurde aufgeführt, dass ein Anwalt seinen Mandanten – dem ebenfalls Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wird – über sein Aussageverweigerungsrecht informiert habe. Diese zur Pflicht jeder Strafverteidigung gehörende Handlung wird dem Anwalt nun zum Vorwurf gemacht.