Russland verantwortlich für Vergiftung von Ex-Agenten
In seinem Urteil Carter gegen Russland kommt der EGMR zum Schluss, dass der tödliche Anschlag auf Alexander Litwinenko in einem Londoner Hotel im November 2006 von Agenten des russischen Staates ausgeführt wurde. Die Vergiftung von Litwinenko galt damals als beispielloser radioaktiver Anschlag auf britischem Territorium.
Vor den EGMR gebracht wurde der Fall von der Witwe Litwinenkos. Litwinenko hatte für die russischen Geheimdienste KGB und FSB gearbeitet, bevor er zu England überlief, wo er Asyl erhielt. 2006 wurde er in London mit der radioaktiven Substanz Polonium 210 vergiftet und starb. Eine Untersuchung im Vereinigten Königreich ergab, dass das Attentat von zwei Männern namens Lugowoj und Kowtun verübt worden war. Die Herkunft des Poloniums konnte überdies bis nach Russland zurückverfolgt werden. Lugowoj und Kowtun wurden im Vereinigten Königreich angeklagt, jedoch von Russland nie ausgeliefert.
Der Gerichtshof stellte vorab fest, dass Russland es versäumt hatte, dem EGMR das angeforderte Beweismaterial zur Verfügung zu stellen, das für die Untersuchung des Falles erforderlich gewesen wäre. Dies stelle einen Verstoss gegen Art. 38 EMRK, der Pflicht eines Mitgliedstaats dem Gerichtshof alle zur wirksamen Durchführung der Ermittlungen erforderlichen Erleichterungen zu gewähren, dar. Zudem wies der EGMR den Antrag Russlands gegen die Verwendung des britischen Untersuchungsberichts ab. Die Untersuchung sei unabhängig, fair und transparent erfolgt.
Der EGMR sah einen starken Anscheinsbeweis dafür, dass Lugowoy und Kowtun, zwei frühere KGB-Agenten, im Auftrag des russischen Staates gehandelt hatten. Es gebe keine Hinweise dafür, dass einer der beiden Männer ein persönliches Motiv hatte, Litwinenko zu töten. Beide hätten kaum Zugang zum seltenen radioaktiven Isotop gehabt, hätten sie nicht für den russischen Staat agiert. Eine staatliche Beteiligung bleibe die einzige plausible Erklärung.
Die russische Regierung habe zudem keine andere überzeugende Erklärung für die Ereignisse geliefert oder den Ergebnissen der britischen Untersuchung widersprochen. Zudem hätten die russischen Behörden keine wirksame innerstaatliche Untersuchung durchgeführt, die zur Feststellung des Sachverhalts und zur Identifizierung und Bestrafung der für den Mord Verantwortlichen hätte führen können. Damit habe Russland Art. 2 EMRK, das Recht auf Leben, in materieller wie auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht verletzt.
Urteil Nr. 20914/07 vom 21.9.2021, Carter c. Russland
Recht auf Vergessen in den Medien bestätigt
In der Rechtssache Hurbain gegen Belgien entschied der EGMR, dass keine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf Meinungsfreiheit) vorliegt. Der Fall betraf ein zivilrechtliches Urteil gegen Patrick Hurbain, den Herausgeber der belgischen Tageszeitung «Le Soir», mit dem dieser verpflichtet wurde, einen Artikel im Onlinearchiv der Zeitung zu anonymisieren. Im fraglichen Artikel wurde der vollständige Name eines Fahrers genannt, der für einen tödlichen Verkehrsunfall im Jahr 1994 verantwortlich gewesen war. Der Fahrer hatte den Verlag aufgefordert, den Artikel zu löschen oder zumindest seinen Namen daraus zu entfernen. Der Verlag lehnte dies ab, bat jedoch Google, den fraglichen Artikel nicht mehr über die Suchmaschine zugänglich zu machen. Google reagierte nicht auf die Anfrage. Der Fahrer drang vor den belgischen Gerichten durch und erwirkte die Löschung seines Namens aus dem Archiv. Hurbain trug gegen die Löschungsanordnung beim EGMR vor, dass diese gegen die Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit verstosse.
Der Gerichtshof wies darauf hin, dass die belgischen Gerichte eine Abwägung zwischen dem Recht des Fahrers auf Achtung seines Privatlebens einerseits und dem Recht von Patrick Hurbain auf freie Meinungsäusserung andererseits vorgenommen hatten. Insbesondere sei dabei die Beeinträchtigung des Fahrers durch die Veröffentlichung geprüft worden, und zwar unter Berücksichtigung des Zeitraums seit der ursprünglichen Veröffentlichung des Artikels und der Tatsache, dass seine Anonymisierung auf der Website von «Le Soir» den Inhalt des Artikels nicht beeinträchtige. Die Anonymisierung sei die wirksamste und verhältnismässigste Massnahme. Der Betroffene habe vor dem Unfall nicht bereits im Licht der Öffentlichkeit gestanden.
Der EGMR stellte jedoch klar, dass das Urteil keine Verpflichtung für die Medien enthält, ihre Archive systematisch und ständig zu überprüfen. Im Hinblick auf die Archivierung von Artikeln seien sie nicht generell verpflichtet, eine Abwägung zwischen den auf dem Spiel stehenden Interessen vorzunehmen, es sei denn, sie erhielten eine ausdrückliche Aufforderung dazu.
Urteil Nr. Nr. 57292/16 vom 22.6.2021, Hurbain c. Belgien