Massenabhörung in Schweden und England unzulässig
In zwei Urteilen gegen das Vereinigte Königreich und Schweden schränkte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den Spielraum von Staaten bei Massenüberwachungen ein. Die von der Grossen Kammer gefällten Urteile wurden öffentlich verlesen, was deren Relevanz unterstreicht. Die beiden Fälle betrafen Klagen, die im Nachgang an die Enthüllungen von Whistleblower Snowden von NGOs und Journalisten gegen die britische und von einer Stiftung gegen die schwedische Regierung eingereicht worden waren.
Der Fall Big Brother Watch gegen das Vereinigte Königreich betraf Beschwerden gegen drei verschiedene Überwachungsregimes: die Massenüberwachung von Kommunikation, die Entgegennahme von Überwachungsmaterial von ausländischen Regierungen und Geheimdiensten sowie die Beschaffung von Kommunikationsdaten von Kommunikationsdienstleistern.
Der EGMR vertrat zunächst die Auffassung, dass aufgrund der Vielzahl von Bedrohungen, denen Staaten in der modernen Gesellschaft ausgesetzt sind, der Betrieb eines Massenüberwachungsregimes nicht per se gegen die EMRK verstosse. Jedoch müssten sogenannte «End-to-End-Sicherheitsvorkehrungen» eingerichtet werden, um Überwachung «à discrétion» zu vermeiden. Namentlich müsse auf innerstaatlicher Ebene in jeder Phase des Abhörvorgangs eine Bewertung der Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit der getroffenen Massnahmen vorgenommen werden. Sodann müssten Grund und Umfang der Massnahmen klar definiert werden und von Beginn weg einer regierungsunabhängigen Genehmigung unterliegen. Schliesslich sollte der jeweilige Überwachungsvorgang einer Aufsicht und einer unabhängigen Ex-post-Überprüfung unterzogen werden.
Im Hinblick auf das zum Zeitpunkt der Beschwerdeerhebungen angewandte Massenüberwachungsregime im Vereinigten Königreich stellte der EGMR folgende Mängel fest: Massenüberwachungen wurden vom Staatssekretär und nicht von einer von der Exekutive unabhängigen Stelle genehmigt; Kategorien von Suchbegriffen («selectors»), die die Arten von Kommunikation definieren, die für eine Überwachung in Frage kommen, waren nicht Teil des Antrags auf Anordnung von Überwachungsmassnahmen und wurden damit nicht von einer unabhängigen Instanz abgesegnet; und Suchbegriffe, die mit einer Person verknüpft sind (das heisst Identifizierungsmerkmale wie zum Beispiel eine E-Mail-Adresse), waren nicht Gegenstand einer vorherigen internen Genehmigung.
Die Grosse Kammer urteilte somit einstimmig, dass die Regelungen zur Massenüberwachung sowie jene zur Beschaffung von Kommunikationsdaten von Kommunikationsdienstleistern gegen Art. 8 (Recht auf Achtung des Privatlebens) sowie gegen Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäusserung) verstiessen. Letzteres, weil sie keinen ausreichenden Schutz für vertrauliches journalistisches Material enthielten.
In der Rechtssache Centrum för rättvisa gegen Schweden brachte die beschwerdeführende Stiftung vor, es bestehe ein Risiko, dass ihre Kommunikation abgefangen und auf dem Wege der Fernmelde- und elektronischen Aufklärung («signals intelligence») untersucht worden sei oder werden würde, da sie täglich mit Einzelpersonen, Organisationen und Unternehmen in Schweden und im Ausland per E-Mail, Telefon und Fax kommunizierte, wobei es häufig um sensible Angelegenheiten ging.
Der EGMR stellte in seinem Urteil fest, dass die schwedische Regelung zur Massenüberwachung zwar in ihren Grundzügen den Anforderungen der EMRK entspreche, aber dennoch drei Mängel aufweise: das Fehlen einer klaren Regelung zur Vernichtung von abgefangenem Material, das keine personenbezogenen Daten enthält, das Fehlen einer gesetzlichen Vorschrift, wonach bei der Entscheidung über die Übermittlung von nachrichtendienstlichem Material an ausländische Partner die Interessen des Einzelnen am Schutz seiner Privatsphäre zu berücksichtigen sind und das Fehlen einer wirksamen Ex-post-Kontrolle. Somit stellte die Grosse Kammer auch in Bezug auf das schwedische Überwachungsregime eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest.
Urteile Nr. 58170/13, 62322/14 und 24969/15 vom 25.5.2021, Big Brother Watch and Others c. Vereinigtes Königreich;Urteil Nr. 35252/08 vom 25.5.2021, Centrum för rättvisa
c. Schweden
Polens Verfassungsgericht ist kein auf Gesetz beruhendes Gericht
Der EGMR stellte einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Ziffer 1 EMRK in Bezug auf das Recht auf ein faires Verfahren sowie in Bezug auf das Recht auf ein ordentliches Gericht fest. Mit seinem Urteil mischt sich der EGMR deutlich in die von der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) vorangetriebene und international heftig kritisierte Justizreform ein. Der polnische Präsident hatte sich im Oktober 2015 geweigert, drei rechtmässig ernannte Verfassungsrichter zu vereidigen, woraufhin das von der PiS dominierte polnische Parlament (Sejm) drei neue Richter auf die bereits besetzten Sitze wählte. Dieser Akt wurde vom Verfassungsgericht selbst als verfassungswidrig qualifiziert. Das entsprechende Urteil wurde indes von der Regierung bislang ignoriert und nicht veröffentlicht.
Der Fall vor dem EGMR betraf Versuche eines Unternehmens, vom polnischen Staat Schadenersatz für Wildschäden an einem seiner Produkte (Rollrasen) zu erhalten. Nachdem das Unternehmen im Jahr 2012 gegen den Staat geklagt, jedoch nur 60 Prozent des geforderten Schadenersatzes zugesprochen erhalten hatte und vor den unteren Instanzen gescheitert war, gelangte es an das Verfassungsgericht, welches die Beschwerde für unzulässig erklärte. Im Richtergremium sass unter anderem Richter M.M., der im Dezember 2015 vom Sejm ernannt worden war.
Der Gerichtshof stellte fest, dass die polnischen Gerichte nicht auf die Argumentation des Unternehmens, das im Haftpflichtfall relevante Gesetz sei verfassungswidrig, eingegangen seien, obwohl diese wiederholt vorgebracht worden war, und die Gerichte folglich ihrer Pflicht, Gerichtsentscheide hinreichend zu begründen, nicht nachgekommen seien. Dadurch sei dem Unternehmen ein faires Verfahren verweigert worden. Darüber hinaus urteilte der EGMR, dass die Handlungen der Behörden bei der Ernennung des Richters M.M. sowie das Ignorieren des diesbezüglichen Urteils des polnischen Verfassungsgerichts dazu geführt hätten, dass das Gremium, das den Fall verhandelt hatte, kein «auf Gesetz beruhendes Gericht» gewesen sei. Dabei verwies er auf sein Urteil in Guðmundur Andri Ástráðsson gegen Island und stellte einen dreistufigen Test auf, um festzustellen, ob bestimmte Ernennungen eine Verletzung der Konvention darstellen: Gibt es einen offensichtlichen Verstoss gegen das innerstaatliche Recht? Erlaubt die Ernennung dem Gericht, unter Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung zu arbeiten? Wie wurde die Ernennung von den nationalen Gerichten beurteilt? Im Lichte dieses Dreistufentests stellte der EGMR fest, dass die Ernennung der drei Richter einen Verstoss gegen das innerstaatliche Recht darstelle und dass die Nichteinhaltung des Urteils des Verfassungsgerichts zeige, dass die Rolle des Verfassungsgerichts in Frage gestellt sei.
Auf der Grundlage dieses bedeutenden Urteils gelten nun alle unter Mitwirkung eines der drei im Dezember 2015 eingesetzten Richter gefällten Urteile als EMRK-widrig.
Urteil Nr. 4907/18 vom 7.5.2021, Xero Flor w Polsce sp. z o.o. c. Polen cr