Russland: Zahlreiche EMRK-Verletzungen gegen Pussy Riot
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) hat zahlreiche EMRK-widrige Verstösse Russlands gegen drei Mitglieder der Punkrock-Band Pussy Riot festgestellt. Nebst der Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung), Art. 5 Abs. 3 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und Art. 6 Abs. 3c EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) rügten die Richter die Verletzung von Art. 10 (Meinungsäusserungsfreiheit).
Nach einer «Guerilla-Darbietung» der Band in einer orthodoxen Kirche in Moskau wurden die drei Mitglieder zu Gefängnisstrafen verurteilt. Mit der Darbietung protestierten die Mitglieder gegen die politische Situation in Russland und gegen die Rolle der orthodoxen Kirche. In der Folge wurden die drei Mitglieder der Band verhaftet. Weiter wurde der Zugang zum Video der Darbietung gesperrt, da letztere als extremistisch und als Provokation gewertet wurde.
Die Strassburger Richter kamen zum Schluss, dass die Umstände ihrer Anhörung im Gerichtssaal, in welchem die drei Mitglieder in einem von schwer bewaffneten Polizeibeamten sowie einem Wachhund umstellten Glaskasten exponiert waren, einer erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK gleichkamen. Weiter stellte das Gericht fest, dass die Inhaftierung während des fünf Monate dauernden Prozesses auf ungenügend spezifizierten Gründen des Gerichts basierte und damit Art. 5 Abs. 3 EMRK verletzte. Die Umstände im Gerichtssaal hätten darüber hinaus die Kommunikation mit den Anwälten der Angeklagten erschwert und damit gegen Art. 6 Abs. 3c EMRK verstossen.
Zuletzt wertete der EGMR die Gefängnisstrafe als Verletzung von Art. 10 EMRK. Zwar möge der Bruch der verbreiteten und anerkannten Verhaltensregeln in einer Kirche geahndet werden, doch sei eine Gefängnisstrafe in einer gemäss Gericht «demokratischen Gesellschaft» nicht nötig. Vielmehr stelle diese Strafe eine Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit dar. Zum selben Schluss kam das Gericht hinsichtlich der Bannung des Videos vom Auftritt im Internet.
Das nationale Gericht hatte sich nur unzureichend mit den Einzelheiten des Videos auseinandergesetzt und sich unzulässigerweise auf ein rechtliches Gutachten einer Expertengruppe abgestützt, ehe es das Verbot aussprach.
Urteil der dritten Kammer vom 17.7.2018, N° 38004/12
Maria Alekhina u.a. c. Russland.
Schweden: Massenüberwachung zulässig
Die Richter des EGMR sehen in der gesetzlich erlaubten massenweisen Überwachung elektronischer Signale in Schweden für auslandsnachrichtendienstliche Zwecke keine Verletzung der Privatsphäre. In seinem Urteil konstatierte das Gericht, dass die in Frage stehende Gesetzgebung potenziell alle Nutzer von Mobiltelefonen und des Internets betreffe, ohne dass sie darüber informiert würden. Weiter sei der Rechtsschutz für jene, die vermuteten, von der massenweisen Überwachung betroffen zu sein, mangelhaft. So würden auf Beschwerden hin keine detaillierten Antworten darüber eröffnet, ob die Kommunikation des Beschwerdeführers abgefangen worden sei. Das Gericht erachtete es daher als gerechtfertigt, das Gesetz abstrakt zu begutachten. Die Klägerin, eine schwedische NGO, vermutete, dass ihre Kommunikation abgehört wurde, weil die NGO im Bereich der Menschenrechte aktiv ist und unter anderem Rechtsprozesse gegen den Staat führt. Aus diesen Gründen erhob sie vor dem EGMR Klage, ohne den nationalen Instanzenzug zu durchlaufen. Die NGO begründete dies damit, dass nach Art. 13 EMRK kein effektiver Rechtsschutz existiere. Gemäss der NGO begründe die blosse Existenz der fraglichen Gesetzgebung eine Verletzung der Privatsphäre nach Art. 8 EMRK.
Der EGMR kam in seinem Urteil zum Schluss, das schwedische System zur massenweisen Überwachung stelle genügend Garantien gegen die willkürliche Anwendung des Gesetzes oder gegen dessen Missbrauch bereit. So sei die Behandlung der abgefangenen Daten klar gesetzlich geregelt. Weiter bedürfe es für die Überwachung einer detaillierte Prüfung hinsichtlich des Zwecks sowie einer gerichtlichen Erlaubnis. Eine massenweise Überwachung sei demnach nur zulässig, wenn die Kommunikation grenzüberschreitend erfolge und die Dauer von sechs Monaten nicht übersteige, ausser, wenn die Überwachung erneut beantragt würde. Weiter werde das Überwachungsregime von einer unabhängigen Behörde kontrolliert. Der fehlende individuelle Rechtsschutz werde durch Instrumente der unabhängigen Behörde sowie durch den parlamentarischen Ombudsmann und den Justizkanzler kompensiert. Letztere zwei Institutionen geniessen in Schweden weitgehende administrative Kontrollbefugnisse. Letztlich tangiere das Gesetz sehr wohl das Recht auf Privatsphäre. Doch das Ziel, die nationale Sicherheit zu gewährleisten, legitimiere das gewählte Mittel.
Urteil der dritten Kammer vom 19.6.2018, N° 35252/08
Centrum för Rättvisa c. Schweden
Grossbritannien: Überwachung teilweise EMRK-widrig
Nebst dem schwedischen nachrichtendienstlichen Überwachungsregime mussten sich die EGMR-Richter auch über britische Überwachungsmassnahmen beugen. Auch hier klagten NGOs sowie Journalisten gegen Überwachungsmassnahmen, wobei sowohl gegen das massenweise Abfangen von Kommunikationssignalen als auch gegen das Teilen von Informationen mit ausländischen Staaten und den Bezug von Kommunikationsdaten von Kommunikationsdienstleistern geklagt wurde.
Hinsichtlich der massenweisen Überwachung monierte der EGMR, dass Art. 8 EMRK verletzt sei, da unter anderem die Suche und Auswahl von abgefangener Kommunikation für die nachrichtendienstliche Auswertung nicht ausreichend überwacht würde. So sei das nationale Gesetz in diesem Punkt nicht mit der EGMR-Rechtsprechung im Einklang. Darüber hinaus befand der EGMR, dass die massenweise Überwachung Art. 10 EMRK verletze. So sei die Kommunikation von Journalisten nicht ausreichend geschützt, was den Quellenschutz und damit die Pressefreiheit beeinträchtigen könnte. Auch das System zum Bezug von Daten von Kommunikationsdienstleistern verstosse gegen die EMRK und insbesondere Art. 8 EMRK. Das nationale Recht erlaube den Bezug von solchen Kommunikationsdaten, ohne dass dieser sich auf die Bekämpfung von schwerer Kriminalität beschränke und von einer unabhängigen Behörde oder einem Gericht bewilligt sei. Dies sei mit dem Recht auf Privatsphäre nicht vereinbar.
Urteil der ersten Kammer vom 13.9.2018, N° 58170/13, 62322/14 und 24960/15, Big Brother Watch u.a. c. Vereinigtes Königreich.