Strafsache: Amtsgeheimnis geht Pressefreiheit vor
Am 6. Juni 2017 wies der EGMR die Beschwerde eines Journalisten gegen die Schweiz ab, der von Schweizer Gerichten zu einer Busse von 5000 Franken verurteilt worden war, nachdem er über ein laufendes Strafverfahren berichtet hatte. Der EGMR bestätigte das Urteil der Vorinstanz und gewichtete das öffentliche Interesse als weniger schützenswert als das Geheimnis einer laufenden Strafuntersuchung.
Der Beschwerdeführer ist ein Schweizer Journalist, der in einer Wochenzeitung über einen Immobilienverwalter berichtete, welchem pädophile Straftaten zur Last gelegt wurden. Im Artikel werden Details zu den Vorwürfen im Prozess preisgegeben und Teile der Klageschrift zitiert, welche nicht öffentlich waren. Vor dem EGMR machte der Journalist geltend, die verhängte Busse sei ein unverhältnismässiger Eingriff in sein Recht auf freie Meinungsäusserung gemäss Art. 10 EMRK.
Der EGMR kommt zum einstimmigen Schluss, dass die Meinungsäusserungsfreiheit des Journalisten nicht verletzt wurde. Er stellt fest, dass die Schweizer Gerichte bei der Abwägung zwischen den Interessen des Journalisten und den Individualinteressen der minderjährigen Opfer korrekterweise letzteren Sorge getragen haben. Somit war die Verurteilung des Journalisten verhältnismässig.
Urteil der 3. Kammer des EGMR N° 22998/13 «Y c. Schweiz» vom 6.6.2017
Klage eines Politikers gegen Satiresendung abgewiesen
Der Beschwerdeführer Herbert Haupt war Vorsitzender der österreichischen FPÖ sowie Vizekanzler der Bundesregierung. In der satirischen Fernsehsendung «Das Letzte der Woche» wurde im September 2003 ein Vergleich zwischen dem Politiker und einem Nilpferd gezogen, welche beide unter braunen Ratten sitzen (als Anspielung auf Neonazis). Haupt machte eine Verletzung seines Recht auf Privatsphäre aus Art. 8 EMRK und eine Verletzung aus Art. 6 Abs.1 EMRK geltend, da der Fall nicht in angemessener Frist erledigt worden sei.
Der EGMR stellte fest, dass das Recht auf Privatsphäre durchaus auch den Schutz der Reputation enthalte. Das Recht auf freie Meinungsäusserung nach Art. 10 EMRK sei in diesem Fall aber höher zu gewichten. Der Gerichtshof findet es angemessen, für einen Politiker wie Haupt einen weniger strengen Massstab anzuwenden, wenn es darum geht zu beurteilen, ob eine Äusserung reputationsverletzend ist. Ferner erblickt der EGMR im Ausdruck «braune Ratten» einen Bezug auf die politische Position von Haupt – und nicht als Kritik an seiner Person. Der Ausdruck wäre laut Gerichtshof dann problematisch gewesen, wenn es innerhalb der FPÖ keine Anhaltspunkte für Positionen gäbe, welche sich an der NS-Ideologie orientieren. Im Verfahren vor den Vorinstanzen wurde aber das Gegenteil bewiesen. Art. 8 EMRK sei deshalb nicht verletzt.
Der EGMR verneinte auch eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen Verzögerung des Verfahrens. Der Fall sei vor verschiedenen Instanzen und föderalen Stufen beurteilt worden. Aufgrund der hohen Komplexität des Falles erscheine die Zeit, welche die Beurteilung des Falles in Anspruch genommen habe, als gerechtfertigt.
Urteil der 5. Kammer des EGMR N° 55537/10 «Herbert Haupt c. Österreich» vom 2.5.2017, veröffentlicht am 1.6.2017
Kein faires Wahlprozedere in Russland
Die Beschwerdeführer sind elf russische Staatsbürger, die an den Kommunalwahlen in St. Petersburg und den Wahlen auf Föderationsebene in Russland 2011 aktiv und teilweise passiv für die Opposition teilnahmen. Bei beiden Wahlen ging es um die Zusammensetzung der Legislative.
Die Beschwerdeführer machten insbesondere geltend, dass durch Unregelmässigkeiten bei der Auszählung der abgegeben Stimmen ihr Recht auf freie Wahlen gemäss Art. 1 ZP 1 EMRK verletzt worden sei. Ferner sei ihr Recht auf eine wirksame Beschwerde gemäss Art. 13 EMRK verletzt worden sowie der Anspruch auf eine Individualbeschwerde gemäss Art. 34 EMRK. Die verschiedenen Unregelmässigkeiten wurden durch Wahlbeobachter der OSZE bestätigt.
Der EGMR konnte den Verdacht von Manipulationen nur begrenzt prüfen, wie im Urteil klargestellt wird. Die Richter hielten allerdings den Vorwurf der Kläger für vertretbar, dass die Auszählung unfair abgelaufen sei. Insbesondere das klare Ergebnis für die Regierungspartei könne zusammen mit Berichten von Wahlbeobachtern als solches Indiz gewertet werden. Somit wurde eine Verletzung von Art. 1 ZP 1 EMRK bejaht. Ferner warf der EGMR Russland vor, die Vorwürfe nicht ernsthaft untersucht zu haben. Die russischen Gerichte hätten sich damit begnügt, triviale Formalitäten zu prüfen, und Beweise für ernsthafte Verfahrensverstösse ignoriert, womit der EGMR eine Verletzung von Art. 13 EMRK bejahte. Allerdings verneinte der EGMR eine Verletzung von Art. 34 EMRK. Es gebe keine Hinweise darauf, dass Russland die Beschwerdeführer daran gehindert hätte, eine Individualbeschwerde am EGMR einzureichen. Russland kann verlangen, dass der Fall in zweiter Instanz beurteilt wird.
Urteil der 3. Kammer des EGMR N° 75947/11 «Davydov u.a. c. Russland» vom 30.5.2017