EGMR für Interpretation einer Norm angerufen
Am 1. August 2018 trat Protokoll Nr. 16 zur EMRK in Kraft. Nachdem Frankreich als zehntes Land das Protokoll ratifiziert hat, können Mitgliedsstaaten nun den EGMR als Gutachteninstanz anrufen. Die Verfassungsgerichte und die höchsten Gerichte eines Landes haben somit die Möglichkeit, den EGMR um eine Interpretation von Normen aus der EMRK zu bitten.
Das Verfahren orientiert sich am Vorabentscheidungsverfahren des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), allerdings sind Gutachten des EGMR für die Parteien nicht bindend. Gutachtenentscheide werden von einem Panel von fünf Richtern gefällt, das die Annahme auch verweigern kann. Ein Gutachten kann sich nur auf ein hängiges Verfahren beziehen.
Am 16. Oktober 2018 wandte sich der französische Kassationshof an den EGMR mit einer entsprechenden Gutachtenanfrage. Konkret wollte dieser wissen, ob die Ablehnung einer ausländischen Geburtsurkunde eines Kindes, welches von einer Leihmutter geboren wurde und die «leihauftragserteilende» Person als rechtliche Mutter bezeichnet, einer Verletzung von Art. 8 EMRK gleichkommt. Als zweite Frage möchte das französische Gericht vom EGMR wissen, ob es eine solche Verletzung entschärfen kann, wenn für die «leihauftragserteilende» Person die Möglichkeit einer Adoption offensteht. Das französische Kassationsgericht sistierte in der Zwischenzeit das in Frankreich hängige Verfahren.
Richter am Sportgerichtshof unabhängig
Am 2. Oktober 2018 musste sich der Gerichtshof zur Unabhängigkeit des Internationalen Sportgerichtshofs (TAS) äussern. Die Beschwerde wurde von zwei Berufssportlern angestrengt. Der erste Beschwerdeführer war ein Profifussballer, gegen den ein Fussballclub eine Schadenersatzforderung geltend machte, die er als existenzbedrohend einstufte. Die zweite Beschwerdeführerin war eine Eisschnellläuferin, die von einem Sportverband für eine bestimmte Zeit gesperrt worden war. Sie lebte von ihren Einkünften als Sportlerin, ihre wirtschaftliche Existenz war somit ebenfalls bedroht. Insbesondere machten die Beschwerdeführer geltend, dass die Zusammensetzung des TAS nicht den Anforderungen eines unabhängigen Gerichts nachkomme.
Da das TAS Sitz in der Schweiz hat, hatte zunächst das Bundesgericht als letzte gerichtliche Instanz in der Schweiz zu entscheiden. Es wies die Beschwerde ab. Das Bundesgericht wies auch ein Revisionsgesuch der Beschwerdeführerin gegen den TAS-Entscheid ab.
In beiden Fällen wurde vor dem EGMR geltend gemacht, dass das TAS das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt habe, da es nicht unabhängig und unparteiisch sei. Der Spruchkörper setzt sich jeweils aus Schiedsrichtern zusammen, die auf einer Liste aufgeführt sind. Der EGMR stellte keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren fest. Er folgte in seinem Urteil der Meinung des Bundesgerichts, wonach die Beschwerdeführer nicht glaubhaft machen konnten, dass die Schiedsrichter am TAS nicht unabhängig seien.
Urteil der 3. Kammer des EGMR N° 40575/10 und 67474/10
«Mutu und Pechstein c. Schweiz» vom 2.10.2018
Keine Meinungsfreiheit für Beleidigung des Propheten
Anlass für das Urteil zum Verhältnis zwischen der Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK und der Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK waren zwei Seminare von 2009 zu den «Grundlagen des Islams» am Bildungsinstitut der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Die Seminare waren öffentlich zugänglich. Vor rund 30 Personen äusserte sich die Seminarleiterin zur Verehelichung des Propheten Mohammed mit der sechsjährigen Aisha und stellte einen Zusammenhang zu pädophilen Neigungen bzw. Handlungen des Propheten her. Aufgrund einer Anzeige verurteilten die österreichischen Gerichte die Seminarleiterin wegen «Herabwürdigung religiöser Lehren» zu einer Geldstrafe.
In ihrer Beschwerde berief sich die Seminarleiterin auf ihre gemäss Art. 10 EMRK gewährleistete Meinungsfreiheit. Die siebenköpfige Kammer konnte jedoch keine Verletzung der Meinungsfreiheit erkennen. Verurteilung und Bestrafung der Beschwerdeführerin sind aus Sicht des EGMR verhältnismässig. An frühere Urteile anknüpfend, bekräftigte der Gerichtshof, religiöse Menschen und Gruppen müssten die Ablehnung ihrer Glaubensüberzeugung durch andere tolerieren. Grundlose Beleidigungen oder Herabsetzungen von Personen oder Objekten, die religiöse Verehrung geniessen, seien dagegen nicht geschützt, erst recht nicht Äusserungen, die religiösen Hass und Intoleranz anstacheln, verbreiten oder rechtfertigen. Zudem hielt der Gerichtshof fest, die Geldstrafe liege am unteren Ende der Skala möglicher Geldstrafen in Österreich. Die Kammer wies die Beschwerde einstimmig ab.
Urteil der 5. Kammer des EGMR N° 38450/12 «E.S. c. Österreich» vom 25.10.2018