Beschwerde gegen die Schweiz abgewiesen
Die Grosse Kammer des EGMR stützte in ihrem Urteil die Ansicht des Bundesgerichts, dass die Schweiz für die Beurteilung von Schadenersatzforderungen eines Opfers von Folter gegenüber Tunesien nicht zuständig ist. Die Schweiz hat somit nicht gegen das in Art. 6 Abs. 1 EMRK verbürgte Recht auf Zugang zu einem Gericht verstossen.
Der Kläger, ein in der Schweiz eingebürgerter Tunesier, war vor seiner Flucht in die Schweiz im Jahr 1993 in Tunesien während eines Monats gefoltert worden. 2004 erhob der Kläger in der Schweiz Zivilklage gegen A.K. – zum Zeitpunkt der Folterungen tunesischer Innenminister – und gegen den tunesischen Staat und verlangte Schadenersatz. Die Klage wurde erstinstanzlich abgewiesen mit der Begründung, die Schweiz sei örtlich nicht zuständig. Das aus dem internationalen Privatrecht stammende Prinzip des Gerichtsstands der Notwendigkeit treffe ebenfalls nicht zu, weil die angebliche Folter keinerlei Verbindungen zur Schweiz habe. Zum selben Resultat kamen die Folgeinstanzen, so auch die zweite Kammer des EGMR. Im Urteil von 2016 befanden deren Richter, die Schweizer Justiz habe die Zuständigkeit zu Recht abgelehnt, da die Schwierigkeiten, Beweise zu sammeln, zu gross gewesen wären.
Die grosse Kammer führte in ihrem Urteil aus, dass die universelle Gerichtsbarkeit bei zivilen Schadenersatzforderungen infolge Folter keinen internationalen Konsens darstelle. Ein Gerichtsstand der Notwendigkeit stelle weder völkerrechtliches Gewohnheitsrecht dar, noch könne er aus einem völkerrechtlichen Abkommen abgeleitet werden. Daher geniesse die Schweiz einen Ermessensspielraum, der von den Schweizer Gerichten verhältnismässig angewandt worden sei.
Urteil der Grossen Kammer des EGMR No. 51357/07 «Nait-Liman c. Schweiz» vom 15.3.2018
Türkei wegen Inhaftierung von Journalisten gerügt
Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 verhängte die Türkei den Notstand. Die beiden Kläger – zwei Journalisten – wurden der Mitgliedschaft in der Gülenbewegung verdächtigt und verhaftet. Laut Anklageschrift wollten sie gewaltsam Regierung und Parlament stürzen und begingen Verbrechen im Namen einer Terrororganisation. Diese Vorwürfe stützten sich auf Zeitungsartikel der beiden Journalisten. Die Journalisten erhoben Klage am EGMR, obwohl ihre Beschwerde vor dem türkischen Verfassungsgericht noch hängig war.
In der Zwischenzeit urteilte das türkische Verfassungsgericht, das Recht auf Freiheit und die Meinungsäusserungsfreiheit der Kläger seien verletzt worden. Die Inhaftierung sei unverhältnismässig. Trotzdem weigerten sich erstinstanzliche Gerichte in Istanbul, die Inhaftierten zu entlassen. Der EGMR schloss sich im Wesentlichen den Ausführungen des türkischen Verfassungsgerichts an. Die Meinungsfreiheit der Kläger sei verletzt worden. Die Äusserung von Kritik an der Regierung dürfe nicht zu gravierenden strafrechtlichen Vorwürfen führen. Weiter drückte der EGMR seine Besorgnis darüber aus, dass ein Gericht erster Instanz die Entscheidung des Verfassungsgerichts offen missachte. Das verstosse gegen fundamentale Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit (Art. 5 EMRK).
Urteil der zweiten Kammer des EGMR No. 16538/17 «Sahin Alpay c. Türkei» und No. 13237/17 «Mehmet Hasan Altan c. Türkei» vom 20.3.2018.