Kritik am Bundesverwaltungsgericht in einem Ausschaffungsfall
Die Schweiz stand wegen der beabsichtigten Ausschaffung eines Kosovaren und der fraglichen Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR). Der Kosovare, der seit 1993 in der Schweiz weilte, hatte eine Haftstrafe wegen Vergewaltigung abgesessen. Das Bundesverwaltungsgericht beschloss, die Erneuerung seiner Aufenthaltserlaubnis abzulehnen und ihn auszuschaffen, wogegen sich der Kosovare in Strassburg wehrte.
In seinem Urteil kam der EGMR zum Schluss, eine Ausschaffung sei unverhältnismässig. Diese missachte das Recht des Klägers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens. Das Bundesverwaltungsgericht habe keine zureichende Abwägung zwischen den Interessen des Klägers und dem öffentlichen Interesse an der Ausschaffung vorgenommen und die Lebensumstände des Klägers zu wenig gewürdigt. Dieser sei zu 80 Prozent invalid und finanziell wie sozial von seinen in der Schweiz lebenden Kindern abhängig. Darüber hinaus habe der Mann keine engen Verbindungen zu seiner Heimat mehr. In einer zustimmenden Meinung, die ebenfalls Teil des Urteils ist, präzisierte die Schweizer Richterin Helen Keller einige Aspekte des Urteils. So monierte Keller, dass das Urteil sich nicht dazu äussere, ob der EGMR auch dann eine Verletzung von Art. 8 EMRK gesehen hätte, wenn das Bundesverwaltungsgericht eine sorgfältige Interessenabwägung vorgenommen hätte. Sie selber sah durchaus Gründe für die Ausschaffung des Klägers und dafür, im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips und dem der Schweiz in ausländerrechtlichen Belangen zustehenden Ermessensspielraum einem besser begründeten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zu folgen. Die ausgebliebene Würdigung sämtlicher Umstände führe jedoch zu Recht dazu, dass die noch nicht erfolgte Ausschaffung mit Art. 8 EMRK nicht vereinbar sei.
Urteil der 3. Kammer des EGMR 23887/16 «I.M. c. Schweiz» vom 9.4.2019
Präzisierung zur Zulässigkeit lebenslanger Haftstrafen
Der EGMR hielt fest, dass das Haftregime der Ukraine bei lebenslangen Strafen nicht mit Art. 3 EMRK (Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) vereinbar ist. Die EGMR-Praxis verlangt bei lebenslangen Haftstrafen eine echte Aussicht auf Entlassung. In der Ukraine ermöglicht einzig eine lebensbedrohliche Krankheit oder ein präsidentieller Begnadigungsakt die Entlassung. Gegen dieses Regime erhob ein Betroffener Klage wegen Verletzung der EMRK.
Da die Praxis die Sistierung einer Strafe wegen einer lebensbedrohlichen Krankheit nicht als Einschränkung der lebenslangen Haftstrafe anerkennt, fokussierte der EGMR auf den vom Präsidenten auszusprechenden Begnadigungsakt und ob dieser eine echte Aussicht auf Haftentlassung darstelle. Nachdem das ukrainische Recht nur unzulässige Verfahrensrechte im Rahmen dieses Begnadigungsakts vorsieht, kam der EGMR zum Schluss, dass Art. 3 EMRK verletzt sei. So müsse die Begnadigung oder deren Ablehnung in der Ukraine nicht begründet werden und es stehe gegen den Entscheid kein Rechtsmittel zur Verfügung. In der Praxis würden nur sehr wenige Begnadigungen ausgesprochen, deshalb könne darüber hinaus von einer echten Aussicht auf Entlassung nicht die Rede sein.
Urteil der 4. Kammer des EGMR 41216/13 «Petukhov c. Ukraine» vom 12.3.2019
Türkischer Richter zu Unrecht in Untersuchungshaft
Ein ehemaliger Richter des türkischen Verfassungsgerichts rügte in Strassburg eine Verletzung von Art. 5 Absatz 1 EMRK, weil er willkürlich in Untersuchungshaft gesessen habe. Der Kläger wurde wenige Stunden nach einem angeblich versuchten Staatsstreich wegen vermeintlicher Kontakte zur Organisation von Prediger Fethullah Gülen angeklagt und wenig später in Untersuchungshaft gesetzt. Dies, bevor in der Türkei formell der Notstand ausgerufen wurde, welcher den Sicherheits- und Justizbehörden zusätzliche Kompetenzen verschaffte und im Einklang mit Art. 15 EMRK ein Abweichen von den Konventionsgarantien ermöglicht. Die nationalen Gerichte (darunter jenes Verfassungsgericht) werteten den Verdacht einer Zugehörigkeit zu einer illegalen Organisation als ausreichend und nahmen im Fall des Klägers ein In-flagranti-Delikt an.
Diese Sicht wies der EGMR zurück und verwies darauf, dass die Interpretation des türkischen Verfassungsgerichts, die sich auf eine ungenügende Beweislage stützte, hinsichtlich der Rechtssicherheit problematisch und geradezu unvernünftig sei. Damit habe das Verfassungsgericht Art. 5 Absatz 1 EMRK verletzt.
Urteil der 2. Kammer des EGMR 12778/17 «Alparslan Altan c. Türkei» vom 16.4.2019