Fremdgefährdung reicht nicht für eine fürsorgerische Unterbringung
Der EGMR verurteilte die Schweiz wegen der fürsorgerischen Unterbringung eines psychisch kranken Menschen im Gefängnis Lenzburg. In seinem Urteil hielt er fest, dass eine fürsorgerische Unterbringung alleine aufgrund von Fremdgefährdung von Art. 426 ZGB nicht vorgesehen sei. Der Freiheitsentzug entbehre einer innerstaatlichen gesetzlichen Grundlage und verletze Art. 5 Abs. 1 lit. e der EMRK.
Der Beschwerdeführer hatte am 10. Februar 2008 eine Frau vergewaltigt und stranguliert. Das Jugendgericht verurteilte den zur Tatzeit 17-Jährigen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Man brachte ihn in einer geschlossenen Anstalt unter und therapierte seine psychische Störung. Mit Vollendung des 22. Altersjahres wäre er von Gesetzes wegen entlassen worden, da er die Freiheitsstrafe verbüsst hatte.
Weil der Mann nach Verbüssung der Strafe weiterhin als gefährlich eingestuft wurde, verfügte das Bezirksamt einen fürsorgerischen Freiheitsentzug (FFE) und ordnete die Überweisung in den Sicherheitstrakt des Gefängnisses Lenzburg an. Dagegen erhob der Mann Beschwerde, welche das Bundesgericht 2012 abwies (BGE 138 II 593). Das Bundesgericht hiess den fürsorgerischen Freiheitsentzug allein aufgrund des Merkmals der Fremdgefährdung gut und änderte damit die bisherige Praxis und deren Zweck. Bis anhin war die Fremdgefährdung kein eigenständiger Grund für die FFE, sondern bloss ein Indiz für die Fürsorgebedürftigkeit. Grundvoraussetzung einer FFE war bisher immer, dass der Betroffene krankheits- oder suchtbedingt ausserstande war, für sich zu sorgen.
Die ersten drei Jahre verbrachte der Beschwerdeführer in der Hochsicherheitsabteilung der Strafanstalt. Erst am 18. August 2015 wurde er schliesslich in den Normalvollzug verlegt. Im Rahmen der periodischen Überprüfung beantragte der Beschwerdeführer regelmässig die Entlassung aus der Haft und gelangte dabei mehrfach bis ans Bundesgericht. Dieses wies alle Beschwerden ab.
Vor dem EGMR machte der Betroffene geltend, dass es sich beim Gefängnis Lenzburg nicht um eine geeignete Einrichtung im Sinne einer zivilgesetzlichen, fürsorgerischen Schutzmassnahme handle. Zudem könne das alleinige Kriterium der Fremdgefährdung nicht für eine fürsorgerische Unterbringung herangezogen werden.
Der EGMR verurteilte die Schweiz wegen Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK). Er äusserte sich nicht zur Frage, ob eine Strafvollzugsanstalt eine geeignete Einrichtung im Sinne des Gesetzes war. Diese Frage erübrige sich, da die gesetzliche Grundlage gänzlich fehle. Der Gerichtshof sprach dem Beschwerdeführer für seine Haftzeit von April 2014 bis April 2015 eine Entschädigung von 25 000 Euro für den immateriellen Schaden zu. Das Urteil weist darauf hin, dass die präventive Inhaftierung psychisch kranker Menschen nicht prinzipiell ausgeschlossen sei. Allerdings sei eine ausreichende innerstaatliche Grundlage nötig. Art. 426 ZGB sei keine ausreichende Grundlage für die fürsorgerische Unterbringung. Voraussetzung für eine fürsorgerische Unterbringung nach diesem Artikel ist einerseits ein Schwächezustand, der vorliegend gemäss EGMR durch die diagnostizierte psychische Störung des Beschwerdeführers gegeben sei. Andererseits ist eine Selbstgefährdung und ein damit verbundener Behandlungs- und Betreuungsbedarf vorausgesetzt.
Die Argumentation des Bundesgerichts, bei einem Geisteskranken ergebe sich aus dem Fremdgefährdungspotenzial fast zwangsläufig ein Beistands- und Fürsorgebedürfnis im Sinne des Gesetzes, lehnt der EGMR als zu pauschal ab.
Urteil der 3. Kammer des EGMR 1760/15 «T.B. c. Schweiz» vom 30.4.2019
EGMR bemängelt Rechtsschutz nach Wahlen in Belgien
Der EGMR stellt fest, dass der belgische Staat gegen Art. 3 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur EMRK über das Recht auf freie Wahlen verstossen hatte. Anlass hierfür war, dass der belgische Senat keine ausreichenden verfahrensrechtlichen Garantien gegen Willkür im Rahmen der Überprüfung der Gültigkeit des Austritts eines seiner Mitglieder bot.
Hintergrund ist der Rücktritt der neu gewählten flämischen Senatorin K.G. im September 2010, nachdem sie im Rahmen einer Privatreise nach Thailand angeblich eines Betäubungsmitteldelikts beschuldigt wurde. Nur wenige Tage nach ihrem Rücktritt informierte sie die Präsidentin des Senats, dass sie ihr Mandat doch fortsetzen wolle. Sie rechtfertigte ihre Meinungsänderung damit, dass sie zum Rücktritt gezwungen worden sei. Tatsächlich war ihr Rücktrittsgesuch unter der Aufsicht des Präsidenten und des Fraktionsvorsitzenden ihrer Partei unterzeichnet worden. Der Senat antwortete, die Angelegenheit werde von der Vollversammlung behandelt. Derweil hatte die Klägerin beschlossen, beim Brüsseler Gericht erster Instanz eine Klage auf einstweilige Anordnung zu erheben, sie nicht zu ersetzen. Der Präsident des Gerichts erklärte sich jedoch für unzuständig und stellte fest, es sei allein Sache des Senats, die Mandate seiner Mitglieder und den Rücktritt der Senatorin zu überprüfen. Am 12. Oktober billigte der Senat in einer Plenarsitzung die Entscheidung des Präsidiums, wonach es keinen Grund gebe, die Gültigkeit des früheren Rücktritts der Antragstellerin in Frage zu stellen.
Vor dem EGMR bemängelte die Klägerin, dass keine gerichtliche Instanz für ihren Fall vorgesehen sei, dass es keine Regeln für das Verfahren gebe und dass der Senat seine Entscheidung willkürlich und ohne Verfahrensgarantien abgegeben habe.
Der EGMR folgt in seinem Urteil ihren Argumenten. Er hält fest, das Entscheidungsverfahren im Zusammenhang mit Wahlen müsse zwingend minimale Garantien gegen Willkür vorsehen, um Art. 3 des Protokolls Nr. 1 nachzukommen. Das sei auch dann erforderlich, wenn ein Streit über den Rücktritt eines Mitglieds des Parlaments entsteht. Ausgehend von dieser Feststellung müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Der Ermessensspielraum der zuständigen Behörde ist im nationalen Recht hinreichend genau zu umschreiben und das Verfahren muss es den Betroffenen ermöglichen, sich zu äussern.
Der EGMR kommt zum Schluss, dass diese Garantien im vorliegenden Fall nicht gegeben waren. Es gab keine Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, die das Verfahren im Falle des Widerrufs eines Rücktritts regeln. Das Verfahren vor dem Senat biete auch keine ausreichenden Garantien gegen Willkür. Der Klägerin sei nicht die Möglichkeit gegeben worden, ihre Argumente mündlich oder schriftlich vor der für die Erstellung eines Berichts über den Fall zuständigen Senatsstelle vorzubringen. Der EGMR verurteilte den belgischen Staat zu einer Entschädigung von rund 30000 Euro.
Urteil der 2. Kammer des EGMR 58302/10 «G.K. c. Belgien» vom 21.5.2019