Freie Meinungsäusserung: Die Grosse Kammer entlastet die Schweiz
Am 29. März 2016 kam die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zum Schluss, dass das Recht auf freie Meinungsäusserung des Westschweizer Journalisten Arnaud Bédat nicht verletzt wurde. Die Kleine Kammer der zweiten Sektion hatte noch am 1. Juli 2014 entschieden, dass das Recht auf freie Meinungsäusserung gemäss Art. 10 EMRK verletzt wurde.
Der Beschwerdeführer war 2004 in der Schweiz wegen Veröffentlichung vertraulicher Dokumente verurteilt worden. Diese Verurteilung wurde am 29. April 2008 durch das Schweizerische Bundesgericht bestätigt. Arnaud Bédat hatte für einen seiner Artikel Dokumente verwendet, welche Gegenstand einer polizeilichen Untersuchung und eines Strafverfahrens und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren.
Die Grosse Kammer nahm eine Abwägung zwischen dem Informationsrecht des Beschwerdeführers und der Öffentlichkeit sowie dem Schutz wichtiger öffentlicher und privater Interessen vor – am geordneten Ablauf eines Strafverfahrens, der Unschuldsvermutung sowie dem Recht auf Achtung des Privatlebens. Ausgangspunkt dieser Interessenabwägung waren Grundsätze, welche das Bundesgericht bereits berücksichtigt hatte.
Dabei wurde die Natur der veröffentlichten Information, der Einfluss der Information auf die öffentliche Debatte sowie deren Auswirkungen auf das laufende Strafverfahren und das Privatleben des Angeklagten berücksichtigt. Die Grosse Kammer des EGMR kam in der Folge zum Schluss, dass der veröffentlichte Artikel Bedürfnisse des Sensationsjournalismus befriedige und keinen wesentlichen Beitrag zur öffentlichen Auseinandersetzung mit dem laufenden Strafverfahren leiste. Darüber hinaus kehrte die Grosse Kammer des EGMR den Beweismassstab der Vorinstanz um und hielt fest, dass die Veröffentlichungen durchaus in der Lage waren, den ordentlichen Verfahrensablauf und die Unschuldsvermutung zu gefährden.
Die Grosse Kammer des EGMR übernahm weitestgehend die Argumentation der Minderheit des vorangehenden Kammerurteils und gelangte zum Ergebnis, dass die Schweizer Behörden eine sorgfältige Interessenabwägung vorgenommen hätten, welche Art. 10 EMRK nicht verletzte.
Urteil der grossen Kammer des EGMR N° 53925/08 «Bédat c. Schweiz» vom 29.3.2016
Rumänien: Gegen Stereotypen in Vergewaltigungsfällen
Am 15. März 2016 musste der EGMR beurteilen, ob Rumänien seiner Verpflichtung nachgekommen war und Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher Behandlung) sowie Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) genügend schützt.
Die Beschwerdeführerin war als 11-jähriges Mädchen von mehreren Personen in ihrer Nachbarschaft vergewaltigt worden. Ihre Eltern zeigten die Täter bei den Behörden an. Während des Verfahrens wurde eine psychologische Untersuchung der Beschwerdeführerin angeordnet. Diese ergab, dass die Beschwerdeführerin M.G.C. an posttraumatischen Stresssymptomen litt und Mühe hatte, die Konsequenzen ihrer Handlungen vorauszusehen. Im Verlauf der Untersuchung kamen die Behörden zum Schluss, dass es nicht auszuschliessen sei, dass M.G.C. ihr Einverständnis zu sexuellen Handlungen gegeben habe.
Die höchste Instanz in Rumänien schloss in der Folge den Verdacht der Vergewaltigung aus, da am Körper von M.G.C. keine Gewaltspuren zu finden waren. Zusätzlich berief sich das Gericht auf die Aussagen der Angeklagten, wonach die Beschwerdeführerin provokative Kleidung trug. Dem Gericht erschien der Umstand ebenfalls nicht nachvollziehbar, dass die Beschwerdeführerin ihre Eltern nicht umgehend nach dem Missbrauch informiert hatte. In der Folge wurden die Täter für Geschlechtsverkehr mit einer Minderjährigen und nicht für die Vergewaltigung einer Minderjährigen verurteilt – Ersteres wird in Rumänien mit einer Gefängnisstrafe von 3 bis 10 Jahren bestraft, Letzteres mit einer Gefängnisstrafe von 10 bis 25 Jahren.
Die Beschwerdeführerin machte vor dem EGMR geltend, dass das rumänische Recht und die rumänischen Gerichte Art. 3 und Art. 8 EMRK nicht genügend berücksichtigt hätten, indem sie Minderjährige nicht effektiv vor Vergewaltigungen schützen würden. In Rumänien ist eines der Elemente der objektiven Tatbestände einer Vergewaltigung das mangelnde Einverständnis des Opfers mit sexuellen Handlungen. Dieses Element konnte von M.C.G. nicht bewiesen werden. Der EGMR rügte Rumänien daher insbesondere dafür, dass das Gericht im Vorfeld aufgrund des Verhaltens und der Kleidung des Opfers von dessen Einverständnis ausging. Ferner rügte der EGMR, dass die rumänischen Gerichte den Umstand, dass Minderjährige im Verfahren besonderen Schutz und Hilfe benötigen, nicht genügend berücksichtigte.
Urteil der 4. EGMR-Kammer N° 61495/11 «M.G.C. c. Rumänien» vom 15.3.2016
Häusliche Gewalt als geschlechtsspezifisches Problem anerkannt
Am 22. März 2016 hat der EGMR darüber entschieden, ob in einem Fall von häuslicher Gewalt die Türkei Art. 3 EMRK (Verbot der unmenschlichen Behandlung) und Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) verletzt hatte. Die Beschwerdeführerin M.G. machte insbesondere geltend, dass die Türkei sie und ihre Kinder nach der Scheidung nicht genügend vor ihrem gewalttätigen Ex-Ehemann schützte. Die Scheidung datiert von 2007, die Verurteilung wegen häuslicher Gewalt von 2012. Das türkische Recht überlässt es den Gerichten, ob sie unverheirateten Opfern von häuslicher Gewalt Schutz bieten wollen.
Der EGMR kommt in seinem Urteil zum Schluss, dass die Beschwerdeführerin infolge der Passivität der Strafbehörden während über fünf Jahren in Angst leben musste. Er bejahte eine Verletzung von Art. 3 EMRK und Art. 14 EMRK, weil die Türkei Frauen als besonders betroffener Gruppe keinen besseren Schutz bietet.
Der Fall zeigt auf, dass das Gericht häusliche Gewalt als geschlechtsspezifisches Phänomen betrachtet. In anderen Urteilen hielt das Gericht fest, dass auch Männer Opfer von häuslicher Gewalt sein können, und verneinte die geschlechtsspezifische Problematik (siehe z.B. Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 55354/11 «Civek c. Türkei» 23.2.2016). Der EGMR hat in diesem Urteil zum ersten Mal und mehrmals das Istanbul-Übereinkommen genannt, welches Frauen vor Gewalt schützen soll und vorsieht, dass Täter entsprechend bestraft werden.
Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 646/10 «M.G. c. Türkei» vom 22.3.2016