Arbeitspflicht für Gefangene im Pensionsalter ist EMRK-konform
Am 9. Februar 2016 hat die dritte Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) die Klage eines Straftäters im Pensionsalter gegen die Schweiz abgewiesen. Der sicherheitsverwahrte Beschwerdeführer hatte geltend gemacht, dass die Arbeitspflicht für Gefangene im Pensionsalter gegen das in Art. 4 Abs. 2 EMRK enthaltene Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit verstosse. Dabei richtete sich die Beschwerde gegen die Arbeitspflicht von Gefangenen im Pensionsalter als solche und nicht gegen die konkreten Umstände des Beschwerdeführers. Weiter rügte der Beschwerdeführer vor dem EGMR die Verletzung des in Art. 14 EMRK verbrieften Diskriminierungsverbots, da er im Gegensatz zu ebenfalls im Pensionsalter befindlichen Personen ausserhalb des Straf- und Massnahmenvollzugs noch zu Arbeit gezwungen werde.
Der Straftäter hatte nach Erreichen des 65. Altersjahrs beim Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich beantragt, von seiner Arbeitspflicht befreit zu werden. Der Antrag wurde vom besagten Amt jedoch abgelehnt und dieser Entscheid von den Folgeinstanzen – kantonale Justizdirektion, kantonales Verwaltungsgericht und Bundesgericht – bestätigt. Letzteres verwies auf das StGB, welches eine den Fähigkeiten, der Ausbildung und den Neigungen entsprechende Arbeitspflicht von Gefangenen statuiert, wobei auf das Alter nicht explizit Bezug genommen wird. Die Arbeit im Straf- und Massnahmenvollzug erfülle denn auch nicht denselben Zweck wie bei in Freiheit lebenden Menschen, sondern sei u. a. darauf ausgerichtet, Haftschäden zu vermeiden, die beispielsweise durch Vereinsamung entstehen könnten.
Das Gericht stützte die Argumentation des Bundesgerichts und sah in der Arbeitspflicht keine Verletzung des Verbots der Zwangsarbeit. Vielmehr sei eine regelmässige, angepasste und vernünftige Beschäftigung ein geeignetes Instrument, um einen geregelten Tagesablauf zu ermöglichen und damit Haftschäden zu vermeiden. Im konkreten Fall war der Beschwerdeführer verpflichtet, während dreier Stunden täglich einer Beschäftigung nachzugehen, die er zusammen mit gleichaltrigen Insassen erledigen konnte. Für die Arbeit wurde er entschädigt. Auf die ebenfalls geltend gemachte Verletzung des Diskriminierungsverbots ging das Strassburger Gericht nicht ein, da die entsprechende Rüge vor dem Bundesgericht nicht geltend gemacht worden war und die innerstaatlichen Rechtsmittel damit nicht erschöpft waren.
Weiter führte das Gericht aus, dass der Schweiz bei der Beurteilung von Arbeitspflichten von Gefangenen im Pensionsalter ein grosser Spielraum zukomme. Dies, weil unter den Mitgliedstaaten des Europarats bezüglich Gefangene im Pensionsalter und allfälliger Arbeitspflichten kein Konsens herrsche und die entsprechenden Regeln von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat erheblich variierten.
Urteil der 3. EGMR-Kammer N° 10109 / 14 «Meier c. Schweiz» vom 9.2.2016
Gemischte Berechnung der Invalidenversicherung ist eine Diskriminierung
Die dritte Kammer ist mit Entscheid vom 2. Februar 2016 zum Schluss gekommen, dass die in der Schweiz praktizierte gemischte Methode zur Berechnung einer IV-Rente diskriminierend ist. So habe die Berechnung, die im Resultat dazu führt, dass bei Teilzeit arbeitenden Personen oftmals ein tieferer Invaliditätsgrad resultiert als bei Vollzeiterwerbstätigen, Auswirkungen auf die Aufgabenverteilung innerhalb einer Familie, da sie im Grossteil der Fälle Frauen mit Neugeborenen betrifft.
Im konkreten Fall bezog die Beschwerdeführerin eine halbe Invalidenrente, ehe sie Zwillinge zur Welt brachte. In der Folge wurde in Anwendung der gemischten Bemessungsmethode ein Invaliditätsgrad von 27 Prozent errechnet. Da für eine IV-Rente ein Invaliditätsgrad von mindestens 40 Prozent nötig ist, erlosch ihr Recht auf eine Rente. Die Frau machte hiergegen eine Verletzung ihres Rechts auf Familienleben (Art. 8 EMRK) in Verbindung mit einer Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 14 EMRK) geltend und erhob eine Beschwerde, welche von der kantonalen Instanz gutgeheissen wurde. Das Bundesgericht, das von der IV angerufen worden war, stützte jedoch die Argumentation der IV und hielt fest, dass eine Person freiwillig auf Lohn verzichte, wenn sie Teilzeit arbeite, und dass es nicht Aufgabe der IV sei, einen Ausgleich zu schaffen. Die Berechnung entspreche damit den gesellschaftlichen Realitäten, womit auch keine Diskriminierung vorliege.
Anders als das Bundesgericht kam der EGMR in seinem Urteil zum Schluss, dass die Bemessung des Invaliditätsgrades eine Diskriminierung darstelle, die das Recht auf Familienleben verletze. So erweise sich die gemischte Methode der Rentenbemessung als Benachteiligung und beeinflusse Frauen negativ in der Gestaltung ihres Familienlebens. In ihrer Minderheitsmeinung äusserten die drei unterlegenen Richter die Ansicht, dass der Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK nicht eröffnet und die Beschwerde damit abzuweisen sei. So handle es sich primär um eine vermögensrechtliche Angelegenheit, welche einen unzureichenden Zusammenhang mit dem Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin habe.
Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 7186 / 09 «Di Trizio c. Schweiz» vom 2. Februar 2016
Familienzusammenführung auch für nicht eingetragene homosexuelle Paare
In einem eine Bosnierin betreffenden Urteil entschied der EGMR am 23. Februar 2016, dass die kroatische Rechtsordnung, die gleichgeschlechtlichen Paaren die Möglichkeit zur Familienzusammenführung verwehrt, mit den EMRK-Standards nicht vereinbar sei. Die Beschwerdeführerin hatte die kroatischen Behörden um eine Aufenthaltsbewilligung ersucht, um mit ihrer kroatischen Lebenspartnerin zusammenleben zu können. Die Behörden verweigerten ihr die Aufenthaltsbewilligung, weil gleichgeschlechtliche Paare kein Anrecht auf Familienzusammenführung hätten. Diese Ansicht wurde von den nachfolgenden Instanzen gestützt, weshalb die Bosnierin Beschwerde vor dem EGMR erhob. Sie stützte sich auf das in Art. 8 EMRK enthaltene Recht auf Familienleben und machte geltend, dass der kategorische Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare von Familienzusammenführungen gegen das in Art. 14 EMRK statuierte Diskriminierungsverbot verstiess. Dies zumal die Zusammenführung nicht verheirateter Paare unterschiedlichen Geschlechts offen stand.
Das Gericht betonte zwar den weiten Beurteilungsspielraum («margin of appreciation»), den die Mitgliedstaaten in Sachen Privat- und Familienleben geniessen, doch kam es zum Schluss, dass der Begriff des Familienlebens im Einklang mit der etablierten Rechtsprechung des EGMR auch nicht verheiratete Paare umfasst. Ein zulässiger Rechtfertigungsgrund konnte nicht ausgemacht werden, weshalb eine Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK festgestellt wurde.
Zwar hat Kroatien im Zuge seines EU-Beitritts die einschlägigen Rechtsgrundlagen revidiert, die unter anderem die Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Paaren betreffen, doch hat das Urteil für viele andere Europaratsstaaten, in denen weiterhin im Sinne dieses Urteils diskriminiert wird, grosse Wirkung.
Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 7186 / 09 «Pajic c. Kroatien» vom 23.2.2016