Im Kanton Zürich Verwahrter hatte Recht auf externe Expertise
Mit 4 gegen 3 Stimmen hat der Gerichtshof die Beschwerde eines peruanischen Staatsbürgers gegen die Schweiz gutgeheissen, der sich vor zehn Jahren vergeblich um die probeweise Entlassung aus der Verwahrung bemüht hatte. Der Mann war verwahrt worden, nachdem er seine Ehefrau 1995 unter Drogeneinfluss und in völliger Unzurechnungsfähigkeit brutal erstochen hatte. Psychiatrische Gutachten von 1995 und 2001 diagnostizierten eine chronische paranoide Schizophrenie. 2004 lehnte der Justizvollzug des Kantons Zürich sein Gesuch um probeweise Entlassung ab, ohne ein neues psychiatrisches Gutachten eingeholt zu haben. Das Bundesgericht verneinte am 19. Oktober 2005 (Urteil 6A.10/2005) das Bestehen besonderer Umstände für den Beizug eines Psychiaters, denn seit dem letzten Gutachten von 2001 seien keinerlei Änderungen auszumachen. Eine EMRK-Verletzung war für das Bundesgericht nicht ersichtlich, da die Konvention bei der Unterbringung Geisteskranker lediglich die gerichtliche Überprüfung «in angemessenen Abständen» verlange.
Eine Mehrheit der 2. EGMR-Kammer bejaht jedoch einen Verstoss gegen Art. 5 Abs. 4 EMRK. Die Behörden hatten sich auf eine mehr als drei Jahre alte psychiatrische Expertise sowie einen aktuellen Therapiebericht des ihn behandelnden Psychologen gestützt. Da das Vertrauensverhältnis zum Psychologen gestört war, wäre die erneute Beurteilung durch einen Psychiater nötig gewesen. Konventionswidrig war auch das Absehen des Zürcher Verwaltungsgerichts von einer mündlichen Verhandlung. Ob der verwahrte Peruaner im kantonalen Verfahren eine solche Verhandlung förmlich verlangt hatte, ist für die EGMR-Mehrheit nicht massgebend. Angesichts des fehlenden aktuellen Gutachtens hätte das Verwaltungsgericht die persönliche Befragung des Verwahrten ohnehin nicht unterlassen dürfen.
Die Schweizer Richterin Helen Keller gibt in ihrem abweichenden Sondervotum zu bedenken, dass der Verwahrte die Verhandlung bloss acht Monate nach der letzten Anhörung verlangt hatte und die neuerliche Befragung keine neuen Erkenntnisse versprach. Was die Anforderung eines neuen externen psychiatrischen Gutachtens betrifft, so setze die Gerichtsmehrheit einen neuen Standard. Dabei stütze sie sich zu sehr auf nicht rechtsverbindliche Empfehlungen (soft law) des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT). Diese Empfehlungen seien zudem nicht im Zusammenhang mit der Verwahrung eines gefährlichen Kriminellen ergangen. Darüber hinaus habe die Schweiz in der Zwischenzeit ihre Gesetzgebung angepasst und verlange seit 2007 in Art. 62d StGB das Gutachten eines unabhängigen Sachverständigen. Vor diesem Hintergrund sei fraglich, was die Verurteilung durch ein internationales Gremium nütze.
Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 8300/06 «Ruiz Rivera c. Schweiz» vom 18.2.2014
Folterrisiko bei der Wegweisung eines Politaktivisten in den Sudan
Einstimmig hält die 2. Kammer des Gerichtshofs fest, die Schweiz würde im Falle der erzwungenen Rückreise eines abgewiesenen Asylbewerbers in den Sudan Artikel 3 EMRK verletzen. Der 2004 in die Schweiz gereiste Sudanese hatte sich nach der Abweisung eines ersten Asylgesuchs für die sudanesische Freiheitsbewegung (unter anderem Sudan Liberation Movement) eingesetzt.
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in seinem Urteil D-3648/2012 vom 6.8.2012 keine Anhaltspunkte dafür erkannt, dass der Mann im Sudan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ernsthaften Nachteilen ausgesetzt wäre. Er vermittle nicht das Bild eines engagierten und hochprofilierten Exilpolitikers, den die sudanesische Regierung als ernsthafte Bedrohung identifizieren könnte. Sein angebliches politisches Engagement sei bloss eine akribisch dokumentierte Inszenierung subjektiver Nachfluchtgründe für die schweizerischen Asylbehörden.
Der Gerichtshof teilt zwar die Ansicht, dass der Mann sich politisch nicht besonders exponiert hatte. Seine Wegweisung wäre konventionskonform, ginge es um ein weniger problematisches Land als den Sudan. Dort sei die Situation für die politische Opposition jedoch ausserordentlich prekär, wie der EGMR – auch gestützt auf Berichte von Menschenrechtsorganisationen – festhält. Eine menschenrechtswidrige Behandlung drohe nicht nur politischen Exponenten mit hohem Profil. Es sei nicht auszuschliessen, dass der Mann durch seine Aktivitäten in der Schweiz die Aufmerksamkeit der sudanesischen Regierung auf sich gezogen habe. Es bestehe ein Risiko, dass er nach seiner Ankunft am Flughafen festgenommen, verhört und gefoltert würde.
Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 58802/12 «A.A. c. Schweiz» vom 7.1.2014
Ungenügender Schutz vor Sexualdelikten in katholischer Schule
Die Grosse Kammer hat die Beschwerde einer ehemaligen Schülerin gutgeheissen, die 1973 durch den Lehrer einer katholischen Primarschule sexuell missbraucht worden war. Wie zwanzig andere Ex-Schülerinnen zeigte sie den Lehrer L. H. 1997 an, worauf er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. In Strassburg warf sie dem irischen Staat vor, er habe verpasst, sein – in Europa einzigartiges – Primarschulsystem so auszugestalten, dass die Schülerinnen vor Missbrauch geschützt waren.
Der Gerichtshof bejaht eine Pflicht des Staates zum Schutz der minderjährigen Schülerschaft. Dieser Pflicht könne er sich nicht durch Auslagerung seiner Aufgaben an Private (wie die katholische Kirche) entziehen. Angesichts zahlreicher Sexualstraftaten in der Zeit von 1930 bis 1970 musste sich der irische Staat des Risikos von Übergriffen bewusst sein. Was er dagegen vorkehrte, war nach Ansicht des Gerichtshofs unzureichend. Beschwerden über Lehrer L. H. wurden lediglich durch den örtlichen Priester behandelt, der sie keiner staatlichen Behörde meldete. Es fehlten jegliche wirksamen Kontrollmechanismen gegen das Risiko sexuellen Missbrauchs. Die Grosse Kammer entschied mit 11 gegen 6 Stimmen, Irland habe seine Pflicht zum Schutz der Schülerin vor konventionswidriger Behandlung verletzt.
Urteil der Grossen Kammer des EGMR N° 35810/09 «O’Keffe c. Irland» vom 28.1.2014