Schweiz für Sicherheitshaft ohne gesetzliche Grundlage verurteilt
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) verurteilte die Schweiz einstimmig, weil sie mit der Verhängung einer dreimonatigen Sicherheitshaft ihre Verpflichtungen aus Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) verletzte.
Der Beschwerdeführer, ein heute 31-jähriger Schweizer, war im Jahr 2011 zu einer 14-monatigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, welche zugunsten einer stationären Massnahme gemäss Art. 59 StGB aufgeschoben worden war. Im Juni 2016 hätte die Verlängerung der Massnahme um weitere fünf Jahre angeordnet werden sollen. Der gerichtliche Entscheid dafür war noch ausstehend. Am 13. Juni 2016 ordnete das zuständige Zwangsmassnahmengericht die Sicherheitshaft bis zum 23. September 2016 an, um die Zeit bis zum Verlängerungsentscheid zu überbrücken. Der Beschwerdeführer zog diesen Entscheid bis vor Bundesgericht. Dieses wies die Beschwerde mit der Begründung ab, dass der Entscheid über die Verlängerung einer stationären Massnahme einen «selbständigen nachträglichen Entscheid» im Sinne von Art. 363 ff. StPO darstelle. Die Bestimmungen über das Verfahren auf Erlass eines solchen Entscheids enthielten zwar keine spezifischen Regeln für die Anordnung einer Sicherheitshaft. Doch seien nach ständiger Rechtsprechung die Art. 221 und 229 ff. StPO analog anwendbar.
Dagegen reichte der Betroffene im November 2016 Beschwerde beim EGMR ein. Er beanstandete, dass die Rechtsgrundlage für die Anordnung der Sicherheitshaft fehle.
Im Urteil vom 3. Dezember 2019 wies der EGMR zunächst darauf hin, dass die Entscheidung, mit der die Sicherheitshaft angeordnet wurde, nicht notwendig gewesen wäre, wenn das Urteil zur Verlängerung der stationären Massnahme rechtzeitig ergangen wäre, also vor Ablauf der in Art. 59 Abs. 4 StGB vorgesehenen Fünfjahresfrist. Dann stellte er fest, dass es im schweizerischen Strafrecht keine ausdrückliche Rechtsgrundlage für diese Art der fortgesetzten Inhaftierung zur Sicherung einer Person gibt. Sie könne jedoch angeordnet werden, wenn sie auf einer langjährigen und kohärenten Rechtsprechung beruhe. Bei der vom Bundesgericht zitierten Rechtsprechung könne aber von Kohärenz nicht die Rede sein, zumal das Bundesgericht selbst in zahlreichen Urteilen erklärt habe, dass für die Sicherheitshaft im Falle selbständiger nachträglicher Entscheide klare Vorschriften fehlten. Schliesslich könne angesichts der Schwere des Eingriffs in die persönliche Freiheit des Beschwerdeführers die Anwendung einer materiellrechtlichen Bestimmung durch Analogie oder Verweisung nicht toleriert werden.
Urteil 72939/16 der 3. Kammer des EGMR I.L. c. Schweiz vom 3.12.2019
Ungarn für Abschiebung von Asylsuchenden nach Serbien verurteilt
Die Grosse Kammer des EGMR stellte fest, dass Ungarn das Refoulementverbot gemäss Art. 3 EMRK verletzte, indem es zwei Asylsuchende nach Serbien abgeschoben hatte. Die Beschwerdeführer – zwei Asylsuchende aus Bangladesch – erreichten Ungarn am 15. September 2015, nachdem sie durch mehrere Länder gereist waren, zuletzt durch Serbien. In Ungarn ersuchten sie umgehend um Asyl, worauf sie während 23 Tagen in einer von Zäunen umgebenen und von Sicherheitsbeamten bewachten Transitzone an der Grenze zu Serbien verbrachten. Im Oktober 2015 wurde ihr Asylgesuch abgelehnt und die Wegweisung nach Serbien angeordnet, welches von der Regierung im Jahr 2015 als «sicherer Drittstaat» eingestuft worden war. Nachdem der nationale Instanzenzug ausgeschöpft war, wurden die Beschwerdeführer nach Serbien abgeschoben.
Die vierte Kammer des EGMR hatte in ihrem Urteil vom 14. März 2017 eine Verletzung von Art. 5 EMRK aufgrund der Festhaltung in der Transitzone sowie von Art. 3 EMRK aufgrund der Abschiebung nach Serbien festgestellt. Gleichzeitig hatte das Gericht eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Bezug auf die Unterbringungsbedingungen in der Transitzone verneint.
Die ungarische Regierung zog den Fall weiter an die Grosse Kammer. Diese bestätigte das Urteil der vierten Kammer teilweise. So hielt die Grosse Kammer einstimmig fest, dass Ungarn seine Pflicht vernachlässigt hat zu prüfen, ob die Asylsuchenden in Serbien Zugang zu einem wirksamen Asylverfahren haben oder ob sie Gefahr laufen, in einem «Ketten-Refoulement» nach Griechenland abgeschoben zu werden, wo die Aufnahmebedingungen unmenschlich und erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK seien. Stattdessen hätten sich die ungarischen Behörden schematisch auf die Liste der sicheren Drittstaaten der Regierung bezogen und gegenläufige Berichte und Beweismittel unberücksichtigt gelassen. Des Weiteren hielt auch die Grosse Kammer die Bedingungen in der Transitzone nicht für derart, dass sie einer Verletzung von Art. 3 EMRK gleichkämen.
Die Grosse Kammer hielt in Abweichung vom Urteil der vierten Kammer fest, dass die Festhaltung in der Transitzone keinen faktischen Freiheitsentzug im Sinne von Art. 5 EMRK darstellte. Die Beschwerdeführer hätten die Transitzone auf eigene Initiative betreten, ohne dazu aufgrund einer Bedrohung von Leib und Leben gedrängt worden zu sein. Eine Festhaltung während einer kurzen Zeitspanne von 23 Tagen könne zudem nicht als Freiheitsberaubung eingestuft werden. Zwar sei die Bewegungsfreiheit der Asylsuchenden in der Transitzone sehr stark eingeschränkt gewesen. Dies sei jedoch nicht in unnötiger Weise, sondern aufgrund des hängigen Asylverfahrens geschehen. Schliesslich hätten die Beschwerdeführer die Transitzone freiwillig nach Serbien verlassen können. Im Unterschied zur Festhaltung in einer Transitzone an einem Flughafen, wo Asylsuchende nur per Flugzeug in das Herkunftsland zurückkehren könnten, hätten die Beschwerdeführer in ein Land einreisen können, welches an die EMRK gebunden sei. Die Furcht der Beschwerdeführer, in Serbien unmenschlicher Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden, könne nicht zur Anwendbarkeit von Art. 5 EMRK auf die Festhaltung in der Transitzone führen.
Zwei Richter formulierten eine abweichende Meinung, in der sie sich für die Anwendbarkeit und Verletzung von Art. 5 EMRK aussprachen.
Urteil 47287/15 der Grossen Kammer des EGMR Ilias und Ahmed c. Ungarn vom 22.11.2019