Bundesverwaltungsgericht arbeitete ungenau
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Schweiz verurteilt, weil sie bei der Ausschaffung eines afghanischen Bürgers das Folterverbot gemäss Art. 3 der EMRK verletzen könnte. Der Fall betraf die Ausschaffung eines Angehörigen der Hazara-Ethnie aus der Schweiz nach Afghanistan, welcher vom Islam zum Christentum konvertierte hatte.
Der Beschwerdeführer beantragte Asyl und erklärte, dass er Afghanistan wegen der mangelnden Sicherheit in diesem Land und seiner Konversion vom Islam zum Christentum verlassen habe. Im Februar 2015 lehnte das Staatssekretariat für Migration (SEM) seinen Antrag ab. Die Asylgründe seien nicht glaubwürdig. Im Oktober 2016 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht den Entscheid des SEM über die Glaubwürdigkeit der Asylgründe, stellte aber fest, dass die Konversion des Antragstellers in der Schweiz glaubhaft sei. Das Bundesverwaltungsgericht war der Ansicht, dass der Beschwerdeführer durch seine Rückkehr nach Afghanistan keinen grossen Nachteilen ausgesetzt sein würde, und ordnete seine Ausschaffung an. Es stellte ferner fest, dass der Beschwerdeführer zwar nicht in seine Herkunftsregion (Provinz Ghazni) zurückkehren könne, er aber in Kabul, wo sein Onkel und seine Cousins lebten, eine Alternative innerhalb seiner Familie habe.
Im Mai 2017 forderte der EGMR-Referent die Schweizer Regierung auf, den Beschwerdeführer während des Verfahrens vor dem EGMR nicht nach Afghanistan auszuschaffen. Der Gerichtshof stellte nun in seinem Entscheid vom 5. November fest, dass Afghanen, die zum Christentum konvertierten, gemäss einer Vielzahl von internationalen Quellen der Gefahr der staatlichen Verfolgung ausgesetzt sind. Ihnen droht die Todesstrafe. Weiter habe das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil nicht geprüft, wie der Antragsteller seinen christlichen Glauben seit seiner Konversion in der Schweiz praktiziert habe oder wie er ihn im Falle seiner Rückkehr in Afghanistan weiter praktizieren könne.
Der EGMR geht davon aus, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr seinen Glauben auf eine rein private Ebene beschränken müsste und gezwungen wäre, auf den Kontakt mit anderen Christen zu verzichten. Der Gerichtshof stellte ferner fest, dass das Bundesverwaltungsgericht in einem Leitentscheid kurz nach dem Urteil in vorliegender Rechtssache selbst eingeräumt hatte, dass die tägliche Dissimulation und Negation der eigenen inneren Überzeugungen im Kontext der afghanischen Gesellschaft in bestimmten Fällen als eine Form von unerträglichem psychischem Druck bezeichnet werden könnte.
Der EGMR stellte fest, dass das Bundesverwaltungsgericht zwar davon ausging, dass der Antragsteller als Mitglied einer Gruppe angesehen werden kann, die bei seiner Rückkehr nach Afghanistan einem Risiko der Misshandlung ausgesetzt sein könnte. Trotzdem habe es sich nicht ausreichend ernsthaft mit den Folgen der Konvertierung des Antragstellers befasst. Deshalb könnte die Ausschaffung des Beschwerdeführers als Verstoss gegen Art. 3 EMRK angesehen werden.
Urteil 32218/17 der 3. Kammer des EGMR A. A. c. Schweiz vom 5.11.2019
Norwegen gab Kind zu Unrecht zur Adoption frei
Die Grosse Kammer des EGMR hat festgestellt, dass Norwegen das Recht auf Achtung des Familienlebens gemäss Art. 8 der EMRK verletzt. Die Behörden gaben das Kind der Beschwerdeführerin gegen ihren Willen kurze Zeit nach der Geburt zur Adoption frei.
Die Beschwerdeführerin kam 2008 zum ersten Mal mit dem norwegischen Sozialsystem in Berührung, als sie im sechsten Schwangerschaftsmonat eine Abtreibung beabsichtigte. Diese wurde jedoch nicht durchgeführt. Die Beschwerdeführerin, die vorübergehend bei ihren Eltern wohnte, stimmte zu, in eine Einrichtung für junge alleinerziehende Mütter zu ziehen. Drei Wochen nach der Geburt beschloss sie, die Einrichtung zu verlassen. Dies veranlasste das norwegische Kinderschutzbüro, der Beschwerdeführerin das Sorgerecht für ihren Sohn zu entziehen. Die Behörden befanden, die Beschwerdeführerin sei unfähig, sich um ein Kind zu kümmern. Der Sohn wurde in einer Pflegefamilie platziert und später zur Adoption gegeben. Die Mutter wehrte sich erfolglos dagegen.
Am 30. November 2017 entschied die aus sieben Richtern bestehende Gerichtskammer mit 4 zu 3 Stimmen, dass keine Verletzung von Art. 8 der EMRK vorliege. Die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kam zu einem andern Ergebnis. Sie stellte in den Verfahren vor norwegischen Gerichten eine Reihe von Verstössen fest und warf Norwegen vor, das Wohl der biologischen Familie des Kindes nicht berücksichtigt zu haben, was in solchen Fällen zwingend sei. Die Grosse Kammer fällte den Entscheid mit 13 zu 4 Stimmen.
Urteil 37283/13 der Grossen Kammer des EGMR Strand Lobben und andere c. Norwegen vom 10.9.2019