Unterricht in separaterPrimarklasse diskriminiert benachteiligte Roma
15 (ehemalige) Schulkinder aus Nordkroatien beschwerten sich 2002 dagegen, dass sie während ihrer Primarschulzeit (oder eines Teils davon) in separaten Klassen für lernschwache Roma-Kinder mit stark reduziertem Stoffumfang unterrichtet worden waren. Dies habe ihnen die Ausbildung in einem multikulturellen Umfeld verunmöglicht, was ihr Selbstwertgefühl vermindert und sie in verschiedener Hinsicht benachteiligt habe.
Nach dem Urteil der Grossen Kammer des Gerichtshofs han-delt es sich bei den Roma um eine besonders benachteiligte und verletzliche Minderheit. Da nur (bestimmte) Roma-Kinder in der Primarschule separat unterrichtet wurden und es Opposition anderer Eltern gegen gemischte Klassen gegeben hatte, lag eine indirek-te Diskriminierung vor. Kroatienmusste deshalb dartun, dass die Ungleichbehandlung objektiv gerechtfertigt, angemessen und notwendig war.
Nach Auffassung der Gerichtsmehrheit blieb Kroatien den Nachweis schuldig, dass den spezifischen Bedürfnissen der benachteiligten Roma-Minderheit durch adäquate Massnahmen Rechnung getragen wurde. Sie liess das Argument nicht gelten, die Roma-Kinder hätten über keine ausreichenden Kenntnisse der kroatischen Sprache verfügt. Die Tests für die Zuteilung von Kindern in eine Roma-Klasse hätten weniger die Beherrschung der kroatischen Sprache geprüft als ihre geistig-körperliche Entwicklung. Zwar möge es sein, dass bestimmte Roma-Schüler Lernprobleme hatten, doch sei die blosse Zuweisung in eine getrennte Schulklasse keine adäquate Antwort auf diese Schwierigkeiten. Die kroatischen Behörden missachteten auch ihre Pflicht zu positiven Vorkehren im Kampf gegen die ausserordentlich hohe Zahl von Roma-Schulabbrechern (84 Prozent).
Die Passivität der Eltern vermöge an der staatlichen Verantwortung nichts zu ändern, zumal die Eltern mangels Bildung oft nicht in der Lage waren, die Konsequenzen ihres Tuns abzuschätzen. Die Mehrheit bejahte deshalb eine Diskriminierung beim Recht auf Bildung (Art. 2 des – von der Schweiz nicht ratifizierten – 1. Zusatzprotokolls zur EMRK). Das Urteil der Grossen Kammer fiel mit 9 gegen 8 Richterstimmen knapp aus.
(Urteil der Grossen EGMR-KammerN° 15766/03 «Orsus u.a.» vom 16.3.2010)
Kostenlose medizinische Versorgung für HIV-infiziertes Kleinkind
Mit einstimmigem Urteil hat der EGMR die Türkei wegen Missachtung ihrer Pflicht zum Schutz des Rechts auf Leben (Art. 2 EMRK) gerügt. Die türkischen Behörden hatten sich geweigert, die Kosten für die medizinische Versorgung eines 1996 (früh)geborenen Kindes zu übernehmen, das sich bei einer Transfusion von nicht getestetem Blut im Spital Izmir mit dem HI-Virus angesteckt hatte. Die Eltern hatten zwar 1997 einen Zivilprozess gegen das Rote Kreuz und das Gesundheitsministerium gewonnen und wegen des fahrlässigen Fehlverhaltens eine Geldsumme als Genugtuung zugesprochen erhalten. Die Entschädigung deckte aber bloss die Behandlungskosten für ein Jahr. Obwohl die Behörden den Eltern eine kostenlose medizinische Versorgung des Kindes versprochen hatten, wurde ihnen die beantragte Summe von monatlich 6800 Euro für Pflege und Medikamente verweigert. Die Eltern verschuldeten sich und leben heute in Armut.
Der Gerichtshof bezeichnete die von der Türkei getroffenen Massnahmen als klarerweise ungenügend. Zudem dauerte das Verfahren übermässig lange (Art. 6 Abs. 1 EMRK). Der EGMR verpflichtete die Türkei zur Bezahlung eines Schadenersatzes von 300000 Euro und einer Genugtuung von 7000 Euro. Zudem ordnete er an, dass die türkische Regierung dem Kind während des ganzen Lebens kostenlose und vollständige medizinische Behandlung zukommen lassen muss.
(Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 4864/05 «Oyal c. Türkei» vom 23.3.2010)
Zögerliche Abklärung wegen Missbrauchs verletzt Rechte des verdächtigten Vaters
Nachdem er seine neunjährige Tochter wegen Blutergüssen an den Beinen mehrmals zum Familienarzt gebracht hatte, suchte ein Vater 1998 ein öffentliches Spital auf. Da er zur Arbeit musste, erklärte er der Kinderärztin, seine Gattin komme bald und sie solle bis zu deren Eintreffen mit Untersuchungen zuwarten. Dennoch untersuchte und fotografierte die Kinderärztin die Genitalien der Tochter und entnahm ihr Blut. Wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch verweigerte eine Krankenschwester dem Vater am gleichen Tag den Kontakt zu seinem Kind. Nachdem die Mutter auch Flecken auf den Händen ihrer Tochter bemerkt hatte, vereinbarte sie einen Termin bei einem Dermatologen, der vier Tage nach der Hospitalisierung eine seltene Hautkrankheit diagnostizierte.
Der Gerichtshof bejahte einstimmig eine Missachtung des Rechts auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK). Zwar seien medizinische und soziale Behörden zum Schutz von Kindern vor Misshandlungen durch Familienmitglieder verpflichtet und gehe es nicht an, sie rechtlich stets zu belangen, wenn sich ein Verdacht nachträglich als unbegründet erweise. Der Kinderärztin war aber vorzuwerfen, dass sie den Hautarzt nicht sofort konsultiert und so eine raschere Diagnose – und damit eine Klärung des an sich begründeten Verdachts – verhindert hatte.
Missachtet wurden die Rechte von Vater und Tochter auch durch die Blutentnahme und das Anfertigen intimer Photos der Neunjährigen, welche gegen den ausdrücklichen Wunsch der Eltern geschahen. Es bestand keine akute Gefahrensituation, welche dieses eigenmächtige Vorgehen hätte rechtfertigen könne. Notfalls hätte das Spital bei einem Gericht erwirken können, dass die entsprechenden Untersuchungen auch gegen den Willen der Eltern vorgenommen werden durften. Der EGMR sprach dem Vater eine Genugtuung von 2000 Euro und der Tochter von 4500 Euro zu.
(Urteil der 4. EGMR-KammerN° 45901/05 & 40146/06«M.A.K. & R.K. c. Grossbritannien» vom 23.3.2010)
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Publikation der Entscheide
Die Entscheide des EGMR wer- den in Reports of Judgements/ Recueuil des arrêts et dé cisions (Carl Heymanns Verlag KG, Luxemburger Strasse 449, DE-50939 Köln) in eng lischer und französischer Sprache of fiziell veröffentlicht. Deutsche Übersetzungen finden sich bisweilen in der Euro päischen Grundrechte-Zeit schrift (EuGRZ; N. P. Engel Verlag, Kehl am Rhein), in der Österreichi schen Juristen-Zei tung (ÖJZ; Manzsche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, Kohlmarkt 16, AT-1014 Wien) sowie im News letter des Österreichischen Ins tituts für Menschenrechte (Ed mundsburg, Mönchs berg 2, AT-5020 Salzburg). Im Internet auf der Web site des EGMR: www.echr.coe.int