Bettelverbot verletzt die Menschenrechtskonvention
In gut der Hälfte der Schweizer Kantone ist das Betteln auf öffentlichem Grund verboten. Dies dürfte sich dank des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Sachen Lacatus gegen die Schweiz ändern. Darin verurteilt der Gerichtshof die Schweiz für eine Verletzung von Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens.
Eine Rumänin, die den Roma angehört, war in Genf mehrfach zur Zahlung von Bussgeldern von insgesamt 500 Franken verurteilt worden. Weil sie diesen Betrag nicht begleichen konnte, hätte sie eine Ersatzfreiheitsstrafe von fünf Tagen absitzen müssen. Gegen diese Strafe wehrte sich die Klägerin bis vor den EGMR.
Nach Ansicht des Gerichtshofs verletzt die Strafe die Menschenwürde der Beschwerdeführerin und die durch Art. 8 EMRK geschützten Rechte. Zwar sind gemäss Strassburg gewisse Einschränkungen des Bettelns im öffentlichen Raum zulässig. Jedoch sei es unverhältnismässig, jegliche Form des Bettelns unter Strafe zu stellen. So müssten jeweils die auf dem Spiel stehenden Interessen sorgfältig gegeneinander abgewogen werden.
Die gegen die Klägerin verhängte Strafe diene weder dem Interesse an der Bekämpfung der organisierten Kriminalität noch dem Schutz der Rechte von Passanten, Anwohnern und Ladenbesitzern in angemessener Weise. Demgegenüber befinde sich die Beschwerdeführerin in einer eindeutig schutzbedürftigen Situation. Sie sei Analphabetin und stamme aus sehr armen Verhältnissen, gehe keiner Arbeit nach und beziehe keine Sozialleistungen. Das Betteln stelle für sie höchstwahrscheinlich die einzige Möglichkeit dar, zu überleben. Die Beschwerdeführerin habe daher das der Menschenwürde innewohnende Recht, auf ihre Notlage öffentlich aufmerksam zu machen und zu versuchen, ihre Grundbedürfnisse durch Betteln zu decken.
Die Schweizer Richterin Helen Keller teilte die Auffassung des Richtergremiums. Sie hielt jedoch in einer Concurring Opinion fest, dass die von der Beschwerdeführerin ebenfalls geltend gemachte Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäusserung) auch hätte beurteilt werden müssen. Das Gericht hätte so erstmals beurteilen können, ob Betteln ein durch Art. 10 EMRK geschütztes Verhalten darstellt.
Das Urteil dürfte weitreichende Konsequenzen haben. Gemäss einer Analyse des EGMR existieren in mehr als der Hälfte der Mitgliedstaaten des Europarates Bettelverbote. Jedoch enthalten die Gesetzgebungen dieser Länder oft nuanciertere Beschränkungen des Bettelns als das pauschale Verbot nach dem Genfer Strafrecht.
Urteil 14065/15 vom 19.1.2021, Lacatus c. Schweiz
Wehrpflichtersatz diskriminiert Untaugliche
In der Schweiz müssen Bürger, die weder Militär- noch Zivildienst leisten und auch nicht im Zivilschutz eingeteilt sind, Wehrpflichtersatzabgaben leisten. Das gilt auch dann, wenn sie aus gesundheitlichen Gründen dienstuntauglich sind. Diese Regelung verstösst gemäss EGMR gegen das Diskriminierungsverbot in Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK, dem Recht auf Privat- und Familienleben. In der Sache Ryser gegen die Schweiz ging es um einen Mann, der aus gesundheitlichen Gründen militärdienstuntauglich erklärt worden war. Ihm wurde eine Wehrpflichtersatzabgabe auferlegt. Nach Ansicht der Behörden wäre er aber zum Zivilschutzdienst tauglich gewesen, die Abgabe hätte er deshalb reduzieren können. Der Beschwerdeführer teilte diese Einschätzung nicht. Er war der Meinung, dass er weder für den Militärdienst noch für den Zivilschutz tauglich ist. Auch fühlte er sich durch die Auferlegung der Abgabe diskriminiert und focht die entsprechende Verfügung an. Während der Rechtsmittelverfahren wurde er der Zivilschutzreserve zugeteilt. Nachdem der Beschwerdeführer vor allen nationalen Instanzen erfolglos geblieben war, gelangte er an den EGMR.
Der Gerichtshof stellte fest, dass eine vom Staat erhobene Abgabe, die ihren Ursprung in der krankheitsbedingten Unfähigkeit hat, in der Armee zu dienen, in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK fällt. Dies auch dann, wenn die Folgen dieser Massnahme vor allem finanzieller Art sind. Weiter führte der EGMR aus, dass der Beschwerdeführer tatsächlich eine diskriminierende Behandlung aufgrund seines Gesundheitszustands erfahren hatte. Die Unterscheidung zwischen Personen, die an einer schweren Behinderung leiden, entsprechend dienstunfähig und von der Steuer befreit sind, und Personen, die an einer leichten Behinderung leiden, ebenfalls dienstunfähig und dennoch steuerpflichtig sind, erscheint dem EGMR nicht sinnvoll. Zudem sei der Beschwerdeführer im Vergleich zu Schweizern, die den Militärdienst aus Gewissensgründen verweigern, aber diensttauglich sind und damit zivilen Ersatzdienst leisten können, erheblich benachteiligt worden. Letztere werden aufgrund des Ersatzdienstes von der Zahlung der Ersatzabgabe befreit.
Was die Möglichkeit betrifft, den Betrag durch eine Zuweisung zum Zivilschutz zu verringern, stellt der EGMR ferner fest, dass der Beschwerdeführer in die Zivilschutzreserve eingegliedert worden sei und folglich keinen Zivilschutzdienst habe leisten können. Deshalb sei die Möglichkeit einer Senkung der streitigen Abgabe vorliegend rein theoretisch geblieben.
Die Schweiz musste bereits im Jahr 2009 eine Gesetzesänderung betreffend Wehrdienstersatzabgabe aufgrund eines EGMR-Urteils vornehmen (Glor c. Schweiz, Nr. 13444/04). Damals wurde die Möglichkeit geschaffen, dass dienstwillige, aber nicht voll militärdiensttaugliche Bürger einen Militärdienst mit reduzierten Anforderungen leisten können und somit nicht wehrdienstersatzpflichtig sind. Diese Gesetzesänderung nahm der EGMR im vorliegenden Fall zwar zur Kenntnis. Er stellte jedoch fest, dass die Änderung erst nach Einreichen der vorliegenden Beschwerde erfolgt und daher auf diesen Fall nicht anwendbar sei.
Die Schweizer Richterin Helen Keller äusserte sich in einer Dissenting Opinion zum Urteil. Gemäss ihrer Einschätzung hätte das Gericht die Beschwerde für unzulässig erklären oder zumindest feststellen müssen, dass keine Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK vorliege. Die Schaffung eines Systems finanzieller Anreize zur Förderung des regulären Militärdienstes und zur Entmutigung des Ersatzdienstes falle in den Ermessensspielraum des Staates. Das sei mit der Praxis des EGMR vereinbar. Zudem bedeute die Einstufung des Beschwerdeführers für armeedienstuntauglich nicht automatisch auch die Befreiung vom Zivilschutz. Hätte er versucht, diesen Dienst zu verrichten, wäre aber durch das Verschulden der Schweizer Behörden daran gescheitert, wäre die Frage vor dem Gerichtshof eine andere gewesen.
Urteil 23040/13 vom 12.1. 2021, Ryser c. Schweiz