Berner Mordprozess: Doppelte EMRK-Verletzung
Einstimmig hat der Gerichtshof die Beschwerde eines bosnischen Staatsbürgers gutgeheissen, den das Kreisgericht VIII Bern-Laupen 2001 wegen Mordes zu 15,5 Jahren Zuchthaus verurteilt hatte. Das bernische Obergericht bestätigte im August 2002 das erstinstanzliche Strafurteil. Nach der mündlichen Urteilseröffnung benötigte es wegen der grossen Arbeitslast 15 Monate für die Ausfertigung der schriftlichen Urteilsbegründung. Das Bundesgericht bezeichnete dies im Urteil 1P.784/2003 vom 5. November 2004 zwar als überdurchschnittlich lang, sah aber keinen Grund für die Aufhebung des Urteils. Der Gerichtshof hingegen bejaht eine Verletzung des Gebots, Strafverfahren ohne Verzögerung durchzuführen (Art. 6 Abs. 1 EMRK). Die vom Obergericht benötigte Zeitspanne erscheint dem Gerichtshof auch bei einer Strafsache von einer gewissen Komplexität als exzessiv.
Missachtet wurde auch der Anspruch auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK), da der Verteidiger im Verfahren vor Bundesgericht zu den Dupliken der Staatsanwaltschaft und des Obergerichts nicht mehr Stellung nehmen konnte. Dass ein solches Vorgehen konventionswidrig ist, hat der Gerichtshof schon in sieben anderen schweizerischen Fällen festgestellt.
In einem wesentlicheren Punkt jedoch betrachtet der EGMR die Beschwerde des Verurteilten als offensichtlich unbegründet. Vergeblich behauptete er eine Verletzung seines Recht auf Konfrontation mit Belastungszeugen (Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK): Ein aus Kroatien stammender Zeuge hatte aus Furcht um sein Leben nur unter Zusicherung seiner Anonymität ausgesagt. Er lehnte ab, die Verteidigerfragen maskiert oder in einem Nebenraum sitzend zu beantworten. Zu einer weiteren Einvernahme erschien er nicht, und vor der Durchführung der erstinstanzlichen Hauptverhandlung tauchte er unter. Nach Ansicht des Bundesgerichts hatten die Berner Strafuntersuchungsbehörden angesichts der vom Belastungszeugen gestellten Bedingungen alles getan, um die verunmöglichte Konfrontation zu kompensieren: Sie gewährten dem Verteidiger Einsicht ins Einvernahmeprotokoll und gaben ihm Gelegenheit, ihn auf schriftlichem Weg zu befragen. Der Verteidiger betrachtete schriftliche Fragen als ungenügend und verzichtete darauf. Der EGMR hält fest, der Schuldspruch des Kreisgerichts stütze sich nicht in einem wesentlichen Mass auf die Aussagen des Belastungszeugen und dem Verteidiger sei keineswegs verwehrt worden, dessen Aussagen vor Gericht in Zweifel zu ziehen. Die schweizerische Justiz habe ausreichend begründet, weshalb die Konfrontation unmöglich war und welche beachtlichen Anstrengungen sie unternommen hatte.
(Urteil der 5. EGMR-Kammer N° 22015/05 «Werz c. Schweiz» vom 17. Dezember 2009)
Leiturteil: Staatliche Schutzpflichten gegen Menschenhandel im Sexgewerbe
Die 20-jährige Russin Oxana Rantseva kam 2001 mit einer Artistinnenbewilligung als «Cabaret-Tänzerin» nach Zypern. Sie verliess nach drei Tagen Arbeitsplatz und Wohnung, wurde aber einige Tage später von ihrem Arbeitgeber in einer Discothek aufgespürt und auf den Polizeiposten gebracht. Er verlangte ihre Inhaftierung und Ausschaffung, damit er eine andere ausländische Tänzerin anstellen konnte. Die Polizei hielt die Frau kurz fest, klärte ihren Status ab und telefonierte dem Arbeitgeber. Sie teilte ihm mit, die Frau halte sich (noch) legal in Zypern auf und werde nicht inhaftiert. Hole er die Frau nicht ab, werde sie auf freien Fuss gesetzt. Er holte sie morgens um 5 Uhr ab und erhielt von der Polizei ihren Pass ausgehändigt. Eine Stunde später stürzte sie beim Fluchtversuch vom Balkon des Wohnhauses, zu dem sie ihr Arbeitgeber gebracht hatte. Die zypriotischen Behörden konnten keine strafrechtliche Verantwortlichkeit feststellen. Trotz der mysteriösen Umstände des Todesfalls verzichteten sie darauf, den möglichen Menschenhandel zu untersuchen.
Angesichts der gravierenden Problematik betrachtete es der EGMR als angezeigt, sich grundsätzlich zum Menschenhandel und seiner Bekämpfung zu äussern. In seinem einstimmig gefällten Leiturteil hält er erstmals fest, Art. 4 der EMRK (Verbot von Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit) schütze auch vor Menschenhandel. Der weltweit wachsende Menschenhandel gefährde zweifelsohne die Menschenwürde und sei mit den Werten der Konvention unvereinbar.
Die nationale Gesetzgebung müsse die Rechte potenzieller Opfer wirksam schützen. Unter Hinweis auf das Uno-Protokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels («Palermo-Protokoll»; BBl 2005 6809) hielt der Gerichtshof fest, strafrechtliche Instrumente alleine genügten nicht. Es brauche eine gegen den Menschenhandel gerichtete Regulierung der problematischen Geschäftszweige und der Immigration. Die Behörden müssten Fälle möglichen Menschenhandels aus eigenem Antrieb sofort abklären, rasch intervenieren und grenzüberschreitend kooperieren.
Zypern missachtete diese Pflichten mehrfach. Obwohl die Behörden um die grosse Zahl sexuell ausgebeuteter Tänzerinnen wussten, tolerierte Zypern die Zustände. Und beim Umgang mit Oxana Rantseva versagte die zypriotische Polizei auf der ganzen Linie: Trotz deutlicher Indizien ging sie dem Verdacht auf Menschenhandel nicht nach und übergab die Frau wieder dem Arbeitgeber.
Art. 4 EMRK wurde aber auch durch die russischen Behörden verletzt. Die Rekrutierung sei ein wichtiges Glied in der Kette des Menschenhandels. Dennoch klärte Russland nach dem Todesfall nicht ab, wie Oxana Rantseva in Russland rekrutiert worden war. Es suchte nicht nach den Verantwortlichen.
Zypern verletzte zudem das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK: keine wirksame Untersuchung der Todesumstände) sowie das Recht auf Freiheit (Art. 5 EMRK): Sowohl das Festhalten Rantsevas auf dem Polizeiposten bis zum Eintreffen des Arbeitgebers als auch die anschliessende Übergabe waren ungesetzlich und willkürlich. Dass die wahrscheinlich traumatisierte Frau nicht dagegen protestierte, vermochte das Verhalten der Polizei nicht zu rechtfertigen.
Der Gerichtshof verurteilte Zypern zur Bezahlung von 40000 Euro und Russland zur Bezahlung von 2000 Euro Genugtuung an Oxana Rantsevas Vater.
(Urteil der 1. EGMR-Kammer N° 25965/04 «Rantsev c. Zypern und Russland» vom 7. Januar 2010
Publikation der Entscheide
Die Entscheide des EGMR wer- den in Reports of Judgements/ Recueuil des arrêts et décisions (Carl Heymanns Verlag KG, Luxemburger Strasse 449, DE-50939 Köln) in englischer und französischer Sprache offiziell veröffentlicht. Deutsche Übersetzungen finden sich bisweilen in der Europäischen Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ; N. P. Engel Verlag, Kehl am Rhein), in der Österreichischen Juristen-Zeitung (ÖJZ; Manzsche Verlags- und Universitätsbuchhandlung, Kohlmarkt 16, AT-1014 Wien) sowie im Newsletter des Österreichischen Instituts für Menschenrechte (Edmundsburg, Mönchsberg 2, AT-5020 Salzburg). Im Internet auf der Website des EGMR:
www.echr.coe.int