EGMR rügt Schweizer Rückschaffungspraxis nach Sri Lanka
Am 26. Januar 2017 entschied der EGMR, dass die Ausschaffung eines Tamilen nach Sri Lanka das Folterverbot nach Art. 3 EMRK verletzte, da dieser nach seiner Ankunft in Sri Lanka verhaftet und misshandelt wurde.
Die Schweiz beantragte, auf die Beschwerde nicht einzutreten, da dem Beschwerdeführer keine Opfereigenschaft gemäss Art. 34 EMRK zukomme. Die Schweiz habe ihm geholfen, aus Sri Lanka in die Schweiz zurückzukehren, und ihn als Flüchtling anerkannt. Schadenersatz hätte er mit einer Staatshaftungsklage einfordern können. Der Gerichtshof folgte dieser Argumentation nicht. Insbesondere hob er hervor, dass eine Staatshaftungsklage nur innerhalb eines Jahres möglich gewesen wäre und sich der Beschwerdeführer damals noch in Haft in Sri Lanka befand. Ferner konnte die Schweiz nicht darlegen, inwiefern eine solche Klage Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.
Materiell hielt der Gerichtshof fest, dass die Rückschaffung des Beschwerdeführers einer Verletzung von Art. 3 EMRK gleichkam. Er führt in seinem Entscheid aus, dass seine bisherige Praxis zu Art. 3 EMRK eine gründliche Risikoanalyse der Situation im Ausschaffungsland vorschreibt. Das Risiko hätte der Schweiz bekannt sein müssen, die Schweiz kam somit ihrer Sorgfaltspflicht nicht nach. Ferner bestätigt der Gerichtshof, dass Rückschaffungen nach Sri Lanka zu diesem Zeitpunkt aus menschen- und flüchtlingsrechtlicher Sicht nicht zulässig waren. Dass der Gerichtshof die Beschwerde überhaupt zuliess, lag daran, dass dem Beschwerdeführer nach seiner Rückkehr keine wirksame Möglichkeit offenstand, eine Entschädigung für die Verletzung von Art. 3 EMRK zu fordern.
Urteil N° 16 744/14 der 3. Kammer des EGMR «X. c. Schweiz» vom 26.1.2017
Schutz der Rechtsprechung zum Schwimmunterricht von muslimischen Mädchen
Mit Entscheid vom 10. Januar 2017 schützt der Gerichtshof einen Entscheid des Bundesgerichts, wonach zwei muslimische Mädchen zum Unterricht verpflichtet werden dürfen und dies keinem Eingriff in die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK gleichkomme.
Die in Basel wohnhaften Beschwerdeführer wollten 2008 ihre neun- und siebenjährigen Töchter vom Schwimmunterricht dispensieren lassen, da dieser nicht mit dem muslimischen Glauben der Beschwerdeführer vereinbar sei. Das baselstädtische Gesetz erlaubt eine Dispensation vom Schwimmunterricht erst mit Eintreten der Geschlechtsreife. Nachdem die Beschwerdeführer gebüsst wurden, weil sie ihre Töchter nicht zum Schwimmunterricht schickten, wehrten sich diese 2012 bis vor Bundesgericht, welches seinen Leitentscheid in einem ähnlichen Fall (BGE 135 I 79 vom 24. Oktober 2008) bestätigte. Das Bundesgericht war in beiden Entscheiden der Ansicht, dass schulische Pflichten, zu denen auch der Schwimmunterricht gehöre, grundsätzlich Vorrang gegenüber der Beachtung religiöser Gebote geniessen.
Vor dem Gerichtshof machten die Beschwerdeführerinnen geltend, die verhängte Busse basiere nicht auf einer genügenden gesetzlichen Grundlage, verfolge kein legitimes Ziel und sei nicht verhältnismässig. Aus diesen Gründen sei ihr Recht auf Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK verletzt worden.
Der Gerichtshof hält zwar fest, dass es sich in diesem Fall um einen Eingriff in die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK handelt. Der Gerichtshof schützt jedoch die Praxis des Bundesgerichts und der Schweizer Behörden, da nach seiner Ansicht die Einschränkung ein legitimes Ziel verfolge und verhältnismässig sei – den Mädchen stand offen, beim Schwimmunterricht einen sogenannten Burkini zu tragen. Zusätzlich hält der Gerichtshof in seinem Entscheid fest, dass bei der Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Religion den Mitgliedstaaten ein grosser Handlungsspielraum zukomme, welcher insbesondere in Unterrichtsfragen von den Staaten differenziert ausgenutzt wird.
Urteil N° 29 086/12 der 3. Kammer des EGMR «Osmanog˘lu und Kocabas¸ c. Schweiz» vom 10.1.2017
Grosse Kammer bestätigt Zulässigkeit lebenslänglicher Freiheitsstrafen
In ihrem Urteil vom 17. Februar 2017 hielt die Grosse Kammer des Gerichtshofs fest, dass durch die lebenslängliche Haft eines britischen Staatsbürgers das Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung oder Strafe nach Art. 3 EMRK nicht verletzt wurde.
Der Beschwerdeführer wurde 1984 wegen mehrfachen Mordes, Vergewaltigung und schweren Raubes zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Nach seiner Verurteilung wurde der Beschwerdeführer vom damaligen britischen Innenminister auf eine Liste von Personen gesetzt, die nicht vorzeitig entlassen werden sollen. Diese Praxis wurde vom EGMR schon früher gerügt, sodass diese Kompetenz in Grossbritannien 1998 vom Innenminister an das obere Zivilgericht, den High Court, überging. Das Urteil und der Entscheid des Innenministers wurden in Grossbritannien 2008 in letzter Instanz bestätigt.
Die Grosse Kammer bestätigte das Urteil der Vorinstanz, wonach die EMRK lebenslängliche Haft nicht verbietet und diese Möglichkeit insbesondere für schwere Straftaten offenlässt. Damit diese besonders schwere Form von Bestrafung mit der EMRK kompatibel sein kann, muss für den Verurteilten die Möglichkeit bestehen, sich für seine Freilassung einzusetzen und seine Haft muss gerichtlich überprüft werden können.
Zusätzlich beurteilte die Grosse Kammer die neue Praxis in England, wonach neu das obere Zivilgericht (High Court) für die Überprüfung lebenslänglicher Haftstrafen verantwortlich ist, und kam zum Schluss, dass dadurch Art. 3 EMRK eingehalten sei. Im Falle des Beschwerdeführers hält das Gericht fest, dass eine Überprüfung der Haftstrafe durch das Innenministerium ebenfalls keiner Verletzung von Art. 3 EMRK gleichkommt, da diese Überprüfung bereits durch das obere Gericht in England bestätigt und somit durch ein Gericht überprüft wurde. Das Gericht kommt abschliessend zum Schluss, dass das Regime lebenslänglicher Haftstrafen in Grossbritannien mit der EMRK durch die erfolgten Reformen – namentlich dem Erlassen des Human Rights Act 1998 – kompatibel wurde.
Urteil N° 57 592/08 der Grossen Kammer des EGMR «Hutchinson c. Vereinigtes Königreich» vom 17.1.2017