Rückschaffungspraxis nach Italien gestützt
Die Schweizer Rückschaffungspraxis von Asylsuchenden mit minderjährigen Kindern nach Italien im Rahmen des Dublinabkommens ist vom EGMR geschützt worden. Nachdem der Gerichtshof eine Überstellung von Asylsuchenden nach Griechenland im Jahr 2011 als unzumutbar erachtet hatte, stand nun Italien und die Frage im Mittelpunkt, ob die Zustände im dortigen Asylwesen eine Rückschaffung von Asylbewerbern mit minderjährigen Kindern erlaubten.
Im konkreten Fall waren eine Syrierin und ihre Tochter, die via Italien in die Schweiz eingereist waren und ein Asylgesuch gestellt hatten, an den Gerichtshof gelangt. Sie hatten unter anderem geltend gemacht, dass eine Rückschaffung einer unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK gleichkomme. Der Einwand wurde vom Bundesverwaltungsgericht abgelehnt und fand auch vor dem EGMR keinen Anklang. So wurde auf das geltende Dublin-Regelwerk, welches die Behandlung der beiden Asylgesuche durch Italien vorsieht, und die Garantien Italiens für eine familiengerechte Unterbringung verwiesen.
Urteil N° 30474/14 der 3. EGMR-Kammer «Jihana ALI et al. c. Schweiz und Italien» vom 27.10.2016
Bei Familiennachzug Recht auf Familienleben verletzt
Der EGMR ist zum Schluss gekommen, dass die Schweiz bei einem Familiennachzug das Kindeswohl ungenügend berücksichtigt habe. Gegenstand des Urteils war die Beurteilung, ob die Verweigerung des Bundesgerichts, den Nachzug eines 15-jährigen Sohnes aus Ägypten durch seinen schweizerisch-ägyptischen Vater zu erlauben, mit Art. 8 EMRK – dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – vereinbar ist. Der ablehnende Entscheid des Bundesgerichts von 2006 war damit begründet worden, dass der Jugendliche 2005 von seinem Vater nach Ägypten zurückgeschickt worden war, nachdem er zwei Jahre zuvor zum Vater und dessen damaliger Ehefrau gezogen war. Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die familiären und sozialen Bindungen des Jugendlichen vor allem in Ägypten lägen, wo er den überwiegenden Teil seines Lebens verbracht hatte. Der EGMR hingegen befand, diese Beurteilung greife zu kurz und sei zu allgemein. Die EMRK verlange eine umfassende und konkrete Betrachtung des Kindeswohls, welches zudem als übergeordnet zu betrachten sei. Mit Verweis auf seine Rechtsprechung stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 8 EMKR fest und verpflichtete die Schweiz, dem Beschwerdeführer eine Genugtuung zu zahlen.
Urteil N° 56971/10 der 3. EGMR-Kammer «El Ghatet c. Schweiz» vom 8.11.2016
Gründe für die Abschiebung Schwerkranker konkretisiert
In einem Belgien betreffenden Urteil hat der Gerichtshof die Voraussetzungen für eine Abschiebung eines schwerkranken Ausländers unter Art. 3 EMRK konkretisiert. Der mehrfach vorbestrafte und schwerkranke Kläger hatte vorgebracht, dass seine Abschiebung nach Georgien angesichts seines Zustands und des Gesundheitswesens in Georgien eine unmenschliche Behandlung darstelle. Demgegenüber stand das Interesse Belgiens, den straffällig gewordenen Georgier abzuschieben. Der Kläger verstarb während des Prozesses. Trotzdem entschied der EGMR mit Verweis auf «special circumstances relating to respect for human rights» und Art. 37 Abs. 1 in fine, den Fall zu behandeln.
Das Gericht nahm Bezug auf seine restriktive Rechtsprechung, die statuiert, dass eine Abschiebung einer schwerkranken Person in ein Land, in welchem die Einrichtungen für die Behandlung einer Krankheit schlechter sind als im Aufenthaltsstaat, zwar Art. 3 EMRK tangieren könne, doch eine unmenschliche Behandlung nur unter ausserordentlichen Umständen anzunehmen sei. Diese Interpretation des Gerichtshofs erlaubte die Anwendung von Art. 3 EMRK, wenn Kranke kurz vor dem Tod standen. Das Gericht wich in seinem Urteil nun von der bisherigen Rechtsprechung ab und befand, dass Art. 3 EMRK auch auf Fälle anwendbar sein müsse, in denen ein Risiko besteht, dass die betroffene Person aufgrund schlechterer Behandlungsmöglichkeiten oder mangelndem Zugang zu Behandlungsmöglichkeiten im empfangenden Staat ernste, rasche und irreversible Gesundheitseinschränkungen erleidet. Das Gericht fordert, dass die Behörden des abschiebenden Staates prüfen müssen, ob die Behandlungsmöglichkeiten im empfangenden Staat genügend und verfügbar sind, um zu verhindern, dass der abzuschiebenden Person eine unmenschliche Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK widerfährt. Der Gerichtshof schloss im konkreten Fall, dass Belgien mit der Abschiebung des Georgiers Art. 3 EMRK verletzt habe, und verpflichtete Belgien, den Hinterbliebenen eine Summe zur Deckung von Kosten und Spesen zu zahlen.
Urteil N° 41738/10 der grossen Kammer «Paposhvili c. Belgien» vom 13.12.2016.