Uno-Sanktion: Urteil gegen die Schweiz bestätigt
Am 21. Juni 2016 bestätigte die Grosse Kammer des EGMR das Urteil der 2. Kammer vom 26. November 2013 (Urteil der 2. EGMR-Kammer N 5809/08 «Al-Dulimi & Montana Management Inc. c. Schweiz» vom 26.11.2013). Darin war die 2. Kammer zum Schluss gekommen, dass die Schweiz die minimalen Anforderungen an ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht erfüllte.
Nach einer Resolution des Uno-Sicherheitsrats wurde das Unternehmen Montana Management Inc. und dessen Direktor Khalaf Al-Dulimi 2003 auf eine Sanktionsliste gesetzt (Resolution 1483 des Uno-Sicherheitsrats). Der Sicherheitsrat ist der Ansicht, dass Khalaf Al-Dulimi während des Regimes von Saddam Hussein für die Finanzen der irakischen Geheimdienste verantwortlich war. Gemäss der Verordnung des Bundesrates über Wirtschaftsmassnahmen gegenüber der Republik Irak (SR 946.206) wurden die entsprechenden Vermögenswerte in der Folge eingefroren und 2006 eingezogen. Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesgericht am 23. Januar 2008 ab. In der Folge reichte Al-Dulimi beim EGMR Beschwerde ein. Die 2. EGMR-Kammer wollte den Fall im Rahmen eines Weiterleitungsverfahrens nach Art. 30 EMRK an die Grosse Kammer abgeben. Die Schweiz lehnte allerdings eine solche Weiterleitung ab. Deshalb musste die 2. Kammer ein Urteil in der Sache fällen. Die 2. Kammer kam zum Schluss, dass die Umsetzungsmassnahmen der Schweiz einer gerichtlichen Überprüfung unterstehen müssten. Dieses Recht wurde dem Beschwerdeführer nicht gewährt. Er konnte sich während Jahren nicht gegen die Einziehung seines Vermögens wehren. Somit sei sein Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt worden.
Die Schweiz zog das Urteil an die Grosse Kammer weiter. Diese überprüfte die fragliche Resolution des Sicherheitsrats und kam zum Schluss, dass darin nichts gegen eine gerichtliche Überprüfung spricht. Damit geht die Grosse Kammer einen Schritt weiter als die Vorinstanz, die eine gerichtliche Überprüfung der Resolution selbst ausschloss. Die Grosse Kammer kam weiter zum Schluss, dass dem Beschwerdeführer die Möglichkeit hätte eingeräumt werden müssen, Beweismittel vorzubringen,m um darzulegen, dass sein Name zu Unrecht auf der Sanktionsliste stand. Das Urteil fiel mit 15 zu 2 Stimmen, wobei sieben Richter eine «concurring opinion» – also eine im Ergebnis zustimmende Mindermeinung – abgaben, darunter auch die Schweizer Richterin Helen Keller. Die Schweizer Richterin kritisiert in ihrem Sondervotum, dass die Grosse Kammer ihren Ermessensspielraum zu stark ausdehnt, wenn sie den Uno-Mitgliedstaaten die Kompetenz zur Überprüfung dieser Sicherheitsratsresolution zuspricht. Im Ergebnis ist sie mit dem Urteil einverstanden. Sie ist aber – wie die Vorinstanz – der Ansicht, dass sich die Kompetenz der Überprüfung durch die Schweizer Gerichte auf die Umsetzungsmassnahmen beschränkt.
Urteil der Grossen Kammer des EGMR Nº 5809/08 «Al-Dulimi und Montana Managment Inc. c. Schweiz» vom 21.6.2016
Ungarn: Behinderung der Justiz kritisiert
Am 23. Juni 2016 entschied die Grosse Kammer des EGMR, dass Ungarn das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie die Meinungsäusserungsfreiheit nach Art. 10 EMRK des ehemaligen Präsidenten des höchsten ungarischen Gerichts verletzt hat.
Der Beschwerdeführer, András Baka, war von 1991 bis 2008 Richter am EGMR und von 2009 bis zum 22. Juni 2015 Präsident des höchsten ungarischen Gerichts. Nachdem die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán verschiedene Massnahmen zur Reform des Justizwesens veranlasst hatte, kritisierte der Beschwerdeführer diese Massnahmen öffentlich. Insbesondere sah er die Senkung des Pensionierungsalters von 72 auf 60 Jahre als verfassungswidrig an. Am 1. Januar 2012 trat das neue ungarische Grundgesetz in Kraft, welches die ungarische Verfassung von 1949 ablöste. Art. 25 des ungarischen Grundgesetzes setzte die neu geschaffene Kuria als höchste Justizinstanz ein. Die Kuria ist die Rechtsnachfolgerin des höchsten Gerichts. Um diese Schritte zu vollziehen, erliess das ungarische Parlament verschiedene Übergangsbestimmungen, mit denen unter anderem der Präsident des höchsten Gerichts abgesetzt wurde.
Im Mai 2014 hielt die Vorinstanz (Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 20261/12, «Baka c. Ungarn», 27.5.2014) fest, dass Art. 6 Abs.1 EMRK und Art. 10 EMRK verletzt worden waren. Ungarn verlangte eine Weiterleitung an die Grosse Kammer. Diese hielt zunächst fest, dass der Beschwerdeführer auf Grundlage der ungarischen Verfassung von 1949 gewählt wurde, welche einen abschliessenden Katalog für die Absetzung von Richtern vorsieht. Eine Entlassung hätte demnach die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung bedingt – was dem Beschwerdeführer verwehrt blieb. Das Gericht hält ferner fest, dass die Entlassung des Beschwerdeführers nicht auf Grundlage des neuen Grundgesetzes erfolgen kann, und sieht durch den Schritt der ungarischen Regierung die Unabhängigkeit der Justiz in Gefahr. Die Grosse Kammer bestätigte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die Grosse Kammer bestätigte auch eine Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäusserung. Mit diesem Urteil machte der EGMR deutlich, dass die Mitgliedstaaten die Garantien aus der EMRK nicht mit neuen Verfassungsbestimmungen umgehen können.
Urteil der Grossen Kammer des EGMR Nº 20261/12 «Baka c. Ungarn» vom 23.6.2016
EGMR rügt Italiens Umgang mit homosexuellen Paaren
Am 30. Juni 2016 entschied der EGMR, dass die Weigerung der italienischen Behörden, einem neuseeländischen Staatsbürger, der in Partnerschaft mit einem italienischen Staatsbürger lebt, eine Aufenthaltsgenehmigung aus familiären Gründen auszustellen, einer Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung gleichkommt (Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 8 EMRK).
Die italienischen Gerichte hatten geltend gemacht, dass eine Aufenthaltsgenehmigung nur für einen engen Kreis von Familienangehörigen in Frage kommt, namentlich Ehegatten, minderjährige Kinder sowie unterstützungsabhängige Verwandte. Laut den Gerichten kann die gleichgeschlechtliche Partnerschaft nach neuseeländischem Vorbild einer Familie nicht gleichgesetzt werden.
Das Urteil der 1. Kammer stellt eine Praxisänderung des EGMR dar. Das Gericht war bis anhin zurückhaltend, wenn es um die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren mit heterosexuellen Ehepaaren ging. Das Gericht stellte fest, den Beschwerdeführern stehe die Möglichkeit zu heiraten in Italien nicht offen. Somit hätten sie gar keine Möglichkeit, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten.
Urteil der 1. Kammer des EGMR Nº 51362/09 «Taddeucci und McCall c. Italien» vom 30.6.2016