Antisemitismusvorwurf gegen Genfer Professor war persönlichkeitsverletzend
Der EGMR stützt einen Bundesgerichtsentscheid von 2008, der die Persönlichkeitsrechte eines Professors gegenüber der Meinungsäusserungsfreiheit des Klägers höher gewichtete. Der beklagte Professor hatte 2005 das Buch «Israël et l’autre» publiziert, das Beiträge verschiedener Akademiker zur israelischen Politik sowie zum Judentum enthielt.
Die Organisation Coordination intercommunautaire contre l’antisémitisme et la diffamation (CICAD) kritisierte die Publikation in einem Newsletter und behauptete, das Vorwort des Professors enthalte antisemitische Äusserungen. Der Beschuldigte erhob im Juli 2006 vor dem erstinstanzlichen Genfer Gericht Klage gegen den CICAD-Autor, nachdem Letzterer dieselben Beschuldigungen in einem weiteren Beitrag für eine Zeitschrift wiederholt hatte, und machte eine Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte geltend. Das Gericht folgte den Argumenten des Professors. Es stufte die Äusserungen des CICAD-Autors als ehrverletzend ein und verfügte, dass der verletzende Artikel von der CICAD Homepage zu entfernen und die Erwägungen des Gerichts im Newsletter zu publizieren seien.
Der beklagte Autor und die CICAD fochten den Entscheid vor dem Obergericht an, unterlagen aber abermals. In den Erwägungen betonte das Gericht, der zivilrechtliche Ehrbegriff gehe weiter als sein strafrechtliches Pendant und umfasse auch das soziale Ansehen. Die Aussagen des CICAD-Autors seien geeignet, das gesellschaftliche und berufliche Ansehen des Professors zu beschädigen. Auch das Bundesgericht folgte dieser Ansicht, worauf die CICAD das höchstrichterliche Urteil an den EGMR weiterzog. Dort machte die CICAD eine Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit gemäss Art. 10 EMRK geltend. Der EGMR führte aus, die nationalen Instanzen hätten die Abwägung zwischen dem Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK) des Professors und jenem auf freie Meinungsäusserung auf zutreffende Art und Weise vorgenommen. Es stützte die Ansicht des Bundesgerichts, wonach die kritisierten Textpassagen im Buchvorwort nicht als antisemitisch eingestuft werden könnten. Hingegen befanden die Richter den Vorwurf des Antisemitismus, welchen der CICAD-Autor im Newsletter erhoben hatte, als potenziell sehr rufschädigend – dies vor dem Hintergrund des strafrechtlichen Charakters antisemitischer Äusserungen sowie des historischen Kontexts. Die im Newsletter und auf der CICAD-Homepage erhobenen Antisemitismusvorwürfe seien besonders geeignet, das Ansehen des Professors zu beeinträchtigen, waren sie doch über Suchmaschinen durch die blosse Eingabe des Namens des Professors einfach auffindbar.
Urteil der 3. EGMR-Kammer N° 17676/09 «CICAD c. Schweiz» vom 7.6.2016
Schweiz wegen zu langer Dauer der Haftüberprüfung verurteilt
Der EGMR hat entschieden, dass die Schweiz das Recht auf Überprüfung des Freiheitsentzugs laut Art. 5 Abs. 4 EMRK verletzt hat, indem bei einer Haftüberprüfung die verlangte kurze Frist nicht eingehalten wurde. In casu ging es um einen im Jahr 2002 vom Zürcher Bezirksgericht zu fünf Monaten Haft verurteilten Mann, der sich des Fahrens in angetrunkenem Zustand schuldig gemacht hatte. In der Folge wurde seine Haft aufgrund psychischer Probleme in eine Verwahrung umgewandelt. 2005 reichte der Kläger ein Gesuch auf Haftentlassung ein, das vom Amt für Justizvollzug abschlägig beantwortet wurde. Auch das 2006 eingereichte zweite Gesuch wurde abgewiesen, worauf der Kläger das Verdikt an die nächste Instanz weiterzog. Auch vor dem kantonalzürcherischen Verwaltungsgericht blitzte der Mann mit seiner Beschwerde ab. Elf Monate nach Eingang der Beschwerde hielt das Verwaltungsgericht fest, die Verwahrung sei rechtmässig. Das Bundesgericht stützte dieses Urteil.
Der EGMR stuft nun die elf Monate dauernde Überprüfung des Haftentlassungsgesuchs als Verstoss gegen Art. 5 Abs. 4 EMRK ein. Die Strassburger Richter wiesen auf ein 2006 ergangenes, analoges EGMR-Urteil hin, das ebenfalls die Schweiz betraf und eine fünfmonatige Dauer zur Überprüfung des Entlassungsgesuchs für unzulässig erklärt hatte. Die nun mehr als doppelt so lange Dauer für die Überprüfung des Haftentlassungsgesuchs könne nicht durch besondere Komplexität oder andere Gründe gerechtfertigt werden. Dem seit 2012 aus der Haft entlassenen Mann wurde eine finanzielle Genugtuung zugesprochen.
Urteil der 3. EGMR-Kammer N° 52089/09 «Derungs c. Schweiz» vom 10.5.2016
Britische Abschiebehaft ohne Maximalfristen ist EMRK-konform
Gemäss EGMR ist das britische System der Abschiebehaft, das keine Maximalfristen vorsieht und damit alleine auf weiter Flur steht, mit der EMRK und insbesondere mit dem in Art. 5 festgeschriebenen Recht auf Freiheit und Sicherheit vereinbar. Während nämlich die EU-Mitgliedsstaaten eine Maximalfrist von 18 Monaten vorsehen, ist Grossbritannien aufgrund eines Opt-outs aus der entsprechenden Richtlinie nicht von dieser Frist betroffen. Der Ausgangsfall betraf einen iranischen Kläger, der in Grossbritannien vergeblich um Asyl nachgesucht hatte. Nach einer zwölfmonatigen Freiheitsstrafe im Jahr 2004 wegen sexueller Nötigung sass er viereinhalb Jahre in Abschiebehaft. In seiner Klage machte er geltend, das britische Recht sei in diesem Bereich aufgrund fehlender klarer Fristen nicht mit der EMRK vereinbar, weil es Betroffenen keinen absehbaren Zeithorizont gewähre.
Der EGMR verwarf diese Argumentation mit Verweis auf frühere Entscheide und führte aus, dass Art. 5 EMRK keine nationalen Regeln bezüglich Maximalfristen für die Abschiebehaft voraussetze. Im Zentrum stehe vielmehr die Frage, ob das nationale Recht genügend prozedurale Garantien gegen willkürliche Entscheide biete. Ein solcher Schutz könne in Form regelmässiger Überprüfung der Haft erfolgen. Dies sei im Falle Grossbritanniens gegeben, sodass die gegenwärtige Rechtslage nicht in Konflikt mit Art. 5 EMRK stehe. Bezüglich der geltend gemachten Missachtung der EMRK-Garantien im konkreten Fall erhielt der Kläger Recht zugesprochen. So qualifizierte der EGMR die zweite Periode der Abschiebehaft als Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK, da die zuständigen Behörden es unterlassen hätten, in genügender Art und Weise auf die Abschiebung des Klägers hinzuarbeiten. Dessen Haftdauer war damit während besagter Periode nicht klar und für den Insassen nicht absehbar.
Urteil der 1. EGMR-Kammer N° 37289/12 «J.N. c. Grossbritannien» vom 19.5.2016