Abstrakte Normenkontrolle der russischen Gesetze zur Überwachung
Die grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass das Recht des russischen Bürgers Roman Zakharov auf Achtung des Privatlebens und der privaten Kommunikation gemäss Art. 8 EMRK durch die russische Überwachungsgesetzgebung verletzt worden ist. Der Beschwerdeführer ist Chefredaktor eines Medienhauses in St. Petersburg und bezieht verschiedene Leistungen von russischen Kommunikationsanbietern.
Vor den russischen Gerichten machte der Beschwerdeführer geltend, dass die Gesetzgebung sein Recht auf Privatsphäre verletze, da Kommunikationsanbieter in Russland verpflichtet sind, ihre technischen Einrichtungen so zu konzipieren, dass russische Sicherheitsbehörden auf die entsprechende Kommunikation Zugriff haben. Im April 2006 wies ein russisches Gericht Zakharovs Klage ab, da er nicht darlegen konnte, dass seine Kommunikation abgehört oder abgefangen worden war.
Der Beschwerdeführer reichte im Oktober 2006 beim EGMR Klage ein. Insbesondere rügte er die potenzielle Überwachung seines Mobilfunks und der fehlende Zugang zu einer juristischen Instanz gemäss Art. 13 EMRK, welche die Rechtmässigkeit der russischen Überwachungsgesetzgebung überprüfen könnte. Aufgrund der juristischen Tragweite des Falles wurde die Sache im März 2014 der grossen Kammer des Gerichtshofs überwiesen. Der EGMR entschied in einem ersten Schritt, dass der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte unabhängig von der konkreten Gefährdungssituation geltend machen kann und dass die russische Gesetzgebung eine Gefährdung in abstracto von Art. 8 EMRK darstellt. Somit folgte die grosse Kammer der Rechtsprechung aus Urteil N° 26839/05 «Kennedy v. Grossbritannien» vom 18. Mai 2010, die in einem ähnlich gelagerten Fall ergangen war. In einem zweiten Schritt untersuchte der EGMR die einzelnen gesetzlichen Massnahmen, die einer Verletzung von Art. 8 EMRK gleichkommen. So wurden unter anderem die Vorratsdatenspeicherung, die Möglichkeit von Überwachungen ohne richterliche Anordnung und die fehlende Beschwerdemöglichkeit für Betroffene gerügt. Der EGMR kommt zum Schluss, dass die russische Gesetzgebung nicht die nötige «gesetzliche Qualität» aufweist und in einer demokratischen, rechtsstaatlichen Gesellschaft fehl am Platz ist.
Das Urteil der grossen Kammer erging mit 16:1 Stimmen und hielt fest, dass das Recht auf Privatsphäre des Beschwerdeführers gemäss Art. 8 EMRK verletzt worden ist. Die abweichende Meinung der lettischen Richterin Ineta Ziemele bezog sich auf die Entschädigung des Beschwerdeführers, die sie für zu tief befand, und nicht auf die Verletzung von Art. 8 EMRK.
Urteil der grossen EGMR-Kammer N° 47143/06 «Roman Zakharov c. Russland» vom 4.12.2015
Zugriff auf Youtube durch Recht auf freie Meinungsbildung geschützt
Der Gerichtshof musste entscheiden, ob eine Zugriffseinschränkung des Internetdienstes Youtube eine Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsbildung gemäss Art. 10 EMRK darstellt. Die Beschwerdeführer Sekan Cengiz, Yaman Akdeniz und Kerem Altiparmak unterrichten Rechtswissenschaften an verschiedenen Universitäten in der Türkei. Als die Regierung 2008 den Zugriff auf Youtube aufgrund von Inhalten sperrte, die angeblich das Vermächtnis von Atatürk beleidigen, wehrten sie sich erfolglos dagegen. Die türkischen Gerichte befanden, die Beschwerdeführer seien nicht beschwerdelegitimiert.
Der EGMR beurteilte in einem ersten Schritt die Legitimation und kam zum Schluss, dass die Beschwerdeführer für ihre Arbeit einen freien Zugriff auf Internetressourcen haben müssten. Ferner unterstrich der Gerichtshof die Wichtigkeit eines unbeschränkten Zugriffs auf das Internet, damit eine freie Meinungsbildung in der Gesellschaft garantiert werden kann. Somit wurde die Beschwerdelegitimation vom Gerichtshof bejaht, obwohl die Beschwerdeführer nicht direkt von der Massnahme betroffen waren.
In einem zweiten Schritt untersuchte der EGMR die gesetzliche Grundlage der Blockierung von Youtube und kam zum Schluss, dass sie nur ausreiche, um einzelne Inhalte zu blockieren, nicht aber ganze Dienste (hier folgte der Gerichtshof seiner Rechtsprechung aus Urteil N° 3111/10 «Ahmet Yildirim c. Türkei» vom 18. Dezember 2012). Somit kam der EGMR zum Schluss, dass für die Blockierung von Youtube eine genügende gesetzliche Grundlage fehlt und Art. 10 EMRK verletzt wurde. Die Verhältnismässigkeit der Massnahme und ob diese ein legitimes Ziel verfolge wurden nicht geprüft.
Urteile der 2. EGMR-Kammer
N° 48226/10 und N° 14027/11 «Cengiz und andere c. Türkei» vom 1.12.2015
Amtshilfe in Steuersachen zwischen der Schweiz und den USA ist EMRK-konform
Der Gerichtshof hat einstimmig entschieden, dass das Steueramtshilfeverfahren zwischen der Schweiz und den USA bezüglich der Aushändigung von Bankdaten eines saudi-amerikanischen Kunden der Grossbank UBS keiner Verletzung des Privatlebens und des Diskriminierungsverbots gleichkommt. Gemäss Amtshilfeabkommen zwischen der Schweiz und den USA über ein Amtshilfegesuch betreffend die UBS wies die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) die UBS 2008 an, das Dossier des Beschwerdeführers an die US-Steuerbehörde (IRS) zu übergeben. Nachdem der Beschwerdeführer vor Bundesverwaltungsgericht und Bundesgericht erfolglos blieb, wurden die Informationen über das Bankkonto von G.S.B. am 14. Dezember 2012 an das IRS weitergeleitet.
Vor dem Gerichtshof hatte der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Privatlebens gemäss Art. 8 EMRK geltend gemacht. Ferner rügte er eine Verletzung des Diskriminierungsverbots, da er als Kunde der UBS schlechter gestellt werde als US-Kunden anderer Banken.
Der Gerichtshof stellt fest, dass das Amtshilfeübereinkommen eine hinreichende gesetzliche Grundlage darstellt und dass der Eingriff im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK gesetzlich vorgesehen war. In einem weiteren Schritt prüft der Gerichtshof gemäss Art. 8 Abs. 2 EMRK, ob der Eingriff ein legitimes Ziel verfolgt und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Der EGMR bejahte diese Frage. Ferner stellt er fest, dass nur technische Bankdaten, keine Daten zur Persönlichkeit übermittelt wurden. Dadurch, dass G.S.B. sich über zwei Instanzen hinweg gegen die Massnahme der ESTV beschweren konnte, stand ihm ein genügend ausgeprägter Schutz vor Willkür zur Verfügung. Der Gerichtshof kommt zum Schluss, dass vorliegend keine Verletzung von Art. 8 EMRK und in Verbindung hiermit auch keine Verletzung von Art. 14 EMRK vorliegen.
Urteil der 3. EGMR-Kammer N° 28601/11 «G.S.B. c. Schweiz» vom 22.12.2015