Polizeiliche Festnahme in Genf: Trotz Verletzung konventionskonform
Der Gerichtshof hat die Beschwerde eines Franzosen gegen seine gewaltsame Festnahme durch die Genfer Polizei abgewiesen. Die beiden Polizisten hatten den angetrunkenen Mann 2009 in einer Oktobernacht in Handschellen gelegt. Tags darauf wurde eine schwere Schulterverletzung diagnostiziert. Dennoch hatte die Polizei nach Auffassung der Schweizer Justiz keine exzessive Gewalt angewendet. Da der Mann die rechte Schulter schon 1993 und 2001 verletzt hatte, genügte bereits eine geringe Krafteinwirkung für die Blessur.
Der Gerichtshof urteilt einstimmig, dass der in solchen Fällen übliche polizeiliche Handgriff verhältnismässig war und daher Art. 3 EMRK respektierte. Mit 6:1 Stimmen betrachtet er auch die Untersuchung des Vorfalls durch die schweizerischen Behörden als genügend speditiv und umfangreich.
Urteil 2. EGMR-Kammer N° 66773/13 «Perrillat-Bottonet c. Suisse» vom 20.11.2014
Dublin-Abkommen: Individuelle Zusicherung aus Italien nötig
In einem viel beachteten Urteil hat sich die Grosse Kammer des EGMR zur Rückführung einer kinderreichen afghanischen Familie nach Italien geäussert: Die Schweiz verletze Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher Behandlung), falls sie von Italien keine individuellen Garantien einhole. Nötig sei eine vorgängige Zusage, dass Italien die Kinder altersgerecht unterbringe und die Familie nicht trenne. Das afghanische Ehepaar hat sechs Kinder im Alter zwischen 2 und 15 Jahren. 2011 hatte es in Italien Asyl beantragt und war im Aufnahmezentrum Bari unter prekären Bedingungen untergebracht worden. Danach reiste die Familie über Österreich in die Schweiz, wo auf ihr zweites Asylgesuch mit Verweis auf das Dublin-Abkommen nicht eingetreten wurde. Gemäss diesem Abkommen müsse Italien die Familie unterstützen. Für das Bundesverwaltungsgericht (Urteil D-637/2012 vom 9. Februar 2012) war die Rückschiebung trotz der schwierigen Lebensbedingungen zulässig.
Der EGMR verweist in seiner Urteilsbegründung auf die krasse Diskrepanz zwischen der Anzahl in Italien eingereichter Asylgesuche und der zur Verfügung stehenden Unterkünfte. Als besonders verletzliche Bevölkerungsgruppe bedürften Asylsuchende eines besonderen Schutzes vor unmenschlicher Behandlung. Dies gelte ganz besonders für Kinder. Italien habe in diesem Fall keine detaillierten und verlässlichen Zusicherungen abgegeben. Der Schweiz fehlten daher ausreichende Garantien für eine dem Kindesalter angemessene Unterbringung und für die Wahrung der Familieneinheit. Die Grosse Kammer hat die Beschwerde mit 14:3 Stimmen gutgeheissen.
In ihrer abweichenden Meinung erachtet die Gerichtsminderheit die konkrete Gefahr einer konventionswidrigen Behandlung als ungenügend belegt. Die EGMR-Mehrheit entferne sich von der bisherigen Rechtsprechung, die der Gerichtshof in zahlreichen aktuellen Fällen geprägt habe. Zudem lasse die Gerichtsmehrheit offen, ob konkrete italienische Zusicherungen nur für Familien mit Kindern oder aber für alle Asylsuchenden nötig seien.
Urteil Grosse Kammer des EGMR N° 29217/12 «Tarakhel c. Schweiz» vom 4.11.2014
Entlassung nach kritischem Leserbrief: Kein Konventionsverstoss
Ein Pflegefachmann der psychiatrischen Klinik Münsingen im Kanton Bern wurde 2008 entlassen. Er brachte in Strassburg vergeblich vor, es handle sich um eine ungerechtfertigte Reaktion auf einen 2007 in der «Berner Zeitung» publizierten Leserbrief. Der EGMR teilt einstimmig die Ansicht der Schweizer Behörden, dass der kritische Leserbrief für die Entlassung höchstens eine untergeordnete Rolle spielte.
Zulässigkeitsentscheid 2. Kammer N° 51914/09 «Gerhard Ingold c. Schweiz» vom 14.10.2014
Glaubhaftigkeit: EGMR widerspricht Schweizer Einschätzung
Ein im Juni 2011 in die Schweiz gereister iranischer Asylsuchender erklärte in den Befragungen beim Bundesamt für Migration (BFM), er werde im Heimatland verfolgt. Er habe im Mai wegen der Teilnahme an Demonstrationen und des Verteilens regimefeindlicher Flugblätter eine Gerichtsvorladung erhalten und sich versteckt, worauf sein Vater stundenlang verhört worden sei. Das BFM und das Bundesverwaltungsgericht (im Urteil D-2785/2013 vom 2. Juli 2013) erachteten seine Schilderungen als unglaubhaft. Er habe sich in den beiden Befragungen in Widersprüche verstrickt und die Verfolgungssituation erfunden. Schriftstücke (Urteil und Gerichtsvorladung) habe er lediglich in Form von Fotokopien vorgelegt, weshalb ihnen kein Beweiswert zukomme.
Die Mehrheit der 2. EGMR-Kammer ist anderer Auffassung. Der Asylsuchende habe die Herkunft der Kopien vor dem EGMR befriedigend erklärt. Nach Hinweisen für deren Fälschung habe das Bundesverwaltungsgericht nicht gesucht. Und für die Widersprüche in seinen fast zwei Jahre auseinanderliegenden Aussagen gebe es gewisse Erklärungen. Gesamthaft habe der Asylsuchende ausreichende Belege für ein ernsthaftes Verfolgungsrisiko in seinem Heimatland geliefert. Eine 6:1-Mehrheit bejaht daher einen Verstoss gegen Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und unmenschlicher Behandlung), falls die Schweiz die Wegweisung vollziehe.
Der dänische Richter kritisiert in seinem abweichenden Votum, dass sich der Gerichtshof als 4. Instanz gebärde. Das BFM habe den Asylsuchenden anders als der EGMR persönlich befragt und keine plausible Erklärung für die Ungereimtheiten und Widersprüche in seinen Aussagen gefunden. Zudem habe der anwaltlich vertretene Bewerber nicht überzeugend dargetan, weshalb er den schweizerischen Behörden keine Originaldokumente einreichte.
Urteil der 2. EGMR-Kammer N° 52589/13 «M.A. c. Schweiz» vom 18.11.2014
Ungenügende EMRK-Rügen in Schweizer Verfahren
Immer wieder scheitern Beschwerdeführer in Strassburg an der Zulässigkeitshürde, weil sie die angebliche EMRK-Verletzung vor schweizerischen Gerichten nicht ausreichend gerügt haben (Art. 35 EMRK). Dies gilt etwa für ein Ehepaar aus dem Kanton Schwyz, das sich gegen einen Wanderweg auf seinem Grundstück wehrte, vor Bundesgericht aber noch keinen Verstoss gegen Artikel 8 EMRK behauptet hatte.
Zulässigkeitsentscheid 2. Kammer N° 18600/13 «Steiner & Steiner-Fässler c. Schweiz» vom 7.10.2014
An der fehlenden Erschöpfung des schweizerischen Instanzenzugs scheiterte auch eine Beschwerde von ausgewiesenen Hausbesetzern in Genf.
Zulässigkeitsentscheid 2. Kammer N° 43469/09 «Maurice Pier u.a. c. Schweiz» vom 14.10.2014